Die geöffneten Gräber zu Himmerod
Vom frischen Quell
Sagen, Legenden und Geschichten aus der Eifel
Jung und Alt in neuer Fassung dargeboten von Rektor Jos. Schiffels
Verlag Georg Fischer. Wittlich. 1912
Zweites Bändchen
Die geöffneten Gräber zu Himmerod
Der Laienbruder Liffard, der von hoher Herkunft war, hatte lange in Demut und Selbstentsagung die Schweine des Klosters gehütet. Da gab ihm der Teufel ein, das Schweinehüten sei für ihn doch ein zu geringer Posten, er werde deshalb von seinen Freunden und Bekannten verachtet. Liffard hing diesen Gedanken nach und fasste den Vorsatz, in aller Stille das Kloster zu verlassen. Als er nachts wach in seinem Bett saß und über sein Vorhaben nachdachte, sah er plötzlich eine hohe Gestalt vor sich. Sie forderte ihn durch einen Wink auf, ihr zu folgen. Ohne Widerrede stand er auf, kleidete sich an und folgte der Erscheinung durch die geöffneten Türen des Schlafsaales durch das Kloster und die Kirche hinaus zum Kirchhof. Er wusste nicht, wie ihm geschah, wagte aber aus Furcht auch nicht, seinen Führer zu fragen, wer er sei und was er mit ihm vorhabe. Als sie auf dem Kirchhof waren, öffneten sich auf ein Zeichen der Erscheinung alle Gräber.
Eine eisige Luft umwehte ihn. Vor Schrecken waren seine Glieder wie gelähmt. Er sah vor sich die Leichen in allen Stadien der Verwesung, und der grässliche Totengeruch drohte ihn zu ersticken. Dann hörte er die Stimme seines Führers, die gar schauerlich klang und sich so vernehmen ließ: »Siehst du diese Menschen dort? Bald wirst du ihnen gleich sein. Was gedenkst du also zu tun?«
Und Liffard sprach: »Habe Erbarmen, o Herr, und schone meiner. Ich will bis an mein Ende in Demut dein treuer Diener sein.«
Nach diesen Worten wurde er wieder in den Schlafsaal zurückgebracht. Das unter so seltsamen Umständen gegebene Versprechen aber hat er getreulich gehalten bis an sein seliges Ende.