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Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang 4

Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang
Ein Märchen von Gotthold Kurz
Nürnberg, bei Gottlieb Bäumler 1837

Viertes Kapitel

Vetter Jacob unter den Räubern in Todesgefahr

Nachdem sie zwei Tage rüstig fortgewandert waren, kamen sie am dritten in den großen Reichswald, der sich damals viele Meilen weit um Nürnberg ausdehnte. Denn dorthin hatte Gottlieb seinen Weg genommen. Er wollte in der alten weltberühmten Stadt Arbeit suchen und solange wie möglich verweilen, um alles Merkwürdige und Schöne in derselben kennenzulernen. Auch hatte seine Mutter vor vielen Jahren dort bei des Reichsschultheißen Herrlichkeit als Magd gedient und manche Bekannte und Verwandte ansässig. Er konnte sicher darauf rechnen, dort wohlaufgehoben zu sein.

Jetzt hatten sie nur noch einen halben Tagesmarsch vor sich und ergötzten sich schon im Voraus miteinander an allem, was sie dort zu hören und zu sehen bekommen würden. Aber ach, das Nächste, Furchtbare, was ihnen bevorstand, ahnten sie nicht!

Nach einem heißen Tag war ein heftiges Ungewitter ausgebrochen, das gar nicht aufhören wollte mit Blitzen, Donnerschlägen und Regengüssen. Sie mussten mehrere Stunden in einem Dorf verweilen. Als sie nicht lange wieder unterwegs waren, sahen sie sich von der Abenddämmerung überrascht. Gottlieb marschierte, was er konnte, um noch vor Einbruch der Nacht den nächsten Ort zu erreichen, aber der Regen fiel noch immer in Strömen herab, der Pfad war schlüpfrig und das Fortkommen ging langsam vonstatten! Der Wald wollte kein Ende nehmen und wurde nur immer dichter, düsterer und melancholischer. Dem armen Wanderer selbst wurde immer unheimlicher zumute. In jener Zeit war es um die öffentliche Sicherheit noch gar schlecht bestellt, im Heiligen Römischen Reich und namentlich in Wäldern wie dieser da, nichts weniger als geheuer. Es fiel ihm nun recht ungelegen eine schauerliche Mord- und Raubgeschichte um die andere ein, die ihn seither als Erzählung von anderen belustigt hatte, und die jeden Augenblick jetzt an ihm selbst verwirklicht werben konnte. Eben wollte er um eine Ecke biegen, als ihm aus dem Dickicht ein donnerndes Halt zugerufen wurde und er zwei trotzige Gesellen mit schweren Knütteln vor sich stehen sah. Er stand und zitterte am ganzen Leib.

»Wo hinaus, Kamerad?«, fragen sie ihn im barschen, höhnischen Ton. »Wo hinaus noch so spät?«

Gottlieb packte der Schreck. Unwillkürlich taumelte er einige Schritte zurück und ebenso unwillkürlich wandte er sich mit einem Mal seitwärts, sprang mit einem Mal über den nächsten Graben und auf und davon. Die Angst verlieh ihm Flügel. Aber die Kerle waren auch nicht faul und hinter ihm her. Nun begann eine Jagd auf Tod und Leben. Der schnellfüßige Gottlieb gewann manchen Vorsprung, aber seine Verfolger verrannten ihm oft den Weg und trieben ihn in immer engeren Kreis umher. Endlich, ehe er sich’s versah, fuhr ihm ein Knüppel zwischen die Beine, sodass er jählings auf die schlammige Straße niederstürzte. Nun fielen die Bösewichter über ihn her und schlugen unbarmherzig auf ihn los, dass er glaubte, sein letztes Stündlein sei gekommen.

»Da hast du nun etwas fürs Ausreißen«, sagten sie darauf, »und nun auf und fort mit uns.«

Ob er wollte oder nicht, er musste folgen. Fort ging es, hinein in den dichtesten dunkelsten Wald, auf einem engen Fußpfad, über Moraste und durch dorniges Gestrüpp unter beständigen Drohungen und Stößen. Er musste vorwärts ohne Rast, so schnell es seine müden zerschlagenen Beine nur vermochten, bis man endlich an eine freiere Stelle mitten im Forst herauskam, wo sie haltmachten, nachdem sie ihm Hände und Füße zusammengebunden hatten, ihn sich selbst und seinem Schicksal überließen.

Armer Gottlieb! Wenn deine Mutter wüsste, wo und in welchen Händen du dich jetzt befindest! Dieser versteckte Platz im Wald war wirklich der Schlupfwinkel einer berüchtigten Räuberbande, welche schon längere Zeit das Land weit und breit unsicher machte, und durch Mord, Brand und Plünderung in Schrecken versetzte.

Zwischen finsteren Tannen und niederem Gestrüpp drängten sich hohe Felsen und Trümmer alter Mauern hervor, vom ungewissen Schein des nächtlichen Feuers beleuchtet, an welchem mehrere der sauberen Gesellen mit der Zubereitung des Abendmahls beschäftigt schienen. Von den Höhen herab kamen andere, und es war bald ein großes Leben unter ihnen rege, an denen die Begleiter Gottliebs, ihres Raubes sicher, ebenfalls teilnahmen. Da wurde in kauderwelscher Sprache berichtet, gestritten und Rat gepflogen. Dann ging es ans Essen und Trinken, Spielen mit Karten und Würfeln, Raufen und Lärmen, dis tief in die Nacht hinein. Es schien ein besonderer Festtag für sie zu sein, denn die ganze Bande, die sich sonst nächtlich auf Diebeswegen und Raubzügen zerstreute, war beisammen. Sie ließen nicht ab mit ihrem wüsten Treiben, bis einem um den anderen das Haupt schwer wurde und alle sich endlich in eine nahegelegene Grotte zurückzogen, die mit einer schweren eisernen Tür versehen war und vor welchen sich einer der Nüchternsten mit geladener Kugelbüchse als Wache aufstellte.

Um diese Zeit war es, wo Gottlieb sich von einer todesähnlichen Ohnmacht erholte und seine ersten Blicke auf die Umgebungen warf. Das niedergebrannte Feuer flackerte noch bisweilen auf und erleuchtete blitzähnlich die dunklen Wald- und Felsenmassen. Erst kam ihm alles wie ein schwerer Traum vor. Aber diese Täuschung währte nur einen Augenblick. Er fühlte sich ja gebunden, voll Schmerz und Schwülen, von Durst gequält, von Frost geschüttelt – das war die volle bittere Wirklichkeit! Schwerer als all dieses fiel ihm aufs Herz, was am nächsten Tag über ihn ergehen werde! Was konnte er von solchen Unmenschen anderes erwarten als den Tod oder neue Misshandlungen und Drangsale? Mit unterdrücktem Seufzer schlug er seine Augen auf zum Himmel, an welchem schon der Morgen graute, und empfahl in brünstigem Gebet seinem Schöpfer Leib und Seele. Ein neuer schmerzlicher Gedanke war der an seinen kleinen Liebling, von dem er gar nicht wusste, ob er vielleicht beim jähen Sprung oder bei der Flucht aus dem Tornister gestürzt oder unter den Streichen der Mordgesellen geblieben sei.

Da war es ihm auf einmal, als hörte er etwas im Gras rauschen.

Und siehe da, lebendig und wohlbehalten stieg Jacob auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Fasse Mut, Kamerad, du sollst gerettet werden! Nur verhalte dich ruhig und lass mich machen, bis du siehst, dass auch für dich Zeit ist, zu handeln. Dann frisch ans Werk! Es gilt den Kopf, Brüderchen!«

Nun begann er mit seinem kleinen Messer nach Leibeskräften an den Stricken zu sägen, mit denen Gottlieb gebunden war, bis sie auseinandergingen. Als erst die Hände frei waren, vollendete dieser das Übrige. Indessen schleppte sein wackerer Freund die Reisetasche herbei, damit die Lebensgeister ermuntert und die schmerzenden Glieder gestärkt würden, dann machte er sich wieder leise davon.

Drinnen im Gewölbe war jetzt alles still geworden. Der wachhabende Räuber aber, nachdem er lange auf- und abmarschiert war, hatte sich auch an ein Felsenstück gelehnt und nickte schlaftrunken hin und her. Da schrie er auf einmal mörderisch auf! Der verwegene Kleine, der unbemerkt hinter ihm den Felsen erklommen hatte, war mit herzhaften Messerstichen in den Nacken auf ihn eingedrungen, sodass der Strauchdieb außer sich auffuhr und seine Büchse in der Verwirrung zu Boden fallen ließ. Gottlieb, wie ein Wetterstrahl, fuhr darauf los, warf mit aller Kraft die eiserne Tür in die Riegel, schlug an und – ein Schuss – der Kerl lag mausetot auf dem Boden.

Der Knall zog schaurig widerhallend durch die weite Einöde. Jacob aber kroch unter dem erlegten Feind hervor und krähte ein »Viktoria« aus vollem Hals! Dann drang er in den Gefährten, der ihm danken wollte, sich eiligst davon zu machen. Er selbst kroch behände in den Tornister. Nun ging es über Hals und Kopf, so weit sie die Füße trugen. Sie hörten noch hinter sich die Räuber poltern, fluchen, heulen. Es galt, auf und davon zu sein, ehe es ihnen gelang, die Tür aufzusprengen. Durch unwegsames Dickicht, dann auf einem schmalen Fußpfad eilte Gottlieb mit seinem Freund in geflügeltem Lauf fort, indessen sich dieser von seinem Tornister aus unausgesetzt nach Kennzeichen des Weges umsah und in Ermangelung derselben bald hier, bald da ein Stück aus dem Reisebündel auswarf, ohne dass es der Besitzer bemerkte. Sie mochten so wohl eine Stunde lang gelaufen sein, als der Wald lichter wurde und bald mit einem Mal die offene Landschaft vor ihnen lag. Der nahe Marktflecken mit Schloss, Kirche und den ihn umgebenden Fluren prangte im ersten herrlichen Morgenschimmer! Sie waren gerettet! Gottlieb stürzte auf seine Knie nieder vor Freude und Erschöpfung und stammelte ein Dankgebet, versuchte sich dann aufzuraffen, aber er konnte nicht mehr weiter. Glücklicherweise kam aber ein starker Reitertrupp hinter den ersten Häusern hervor, der nicht so bald des Wanderers unsichtig wurde, als er auf denselben geraden Laufes lossprengte. Es war ein Streifkommando von Dragonern, das auf Rekognoszierung auszog, denn die Räuberbande hatte ganz neuerdings hier in der Gegend übel gehaust und durch Mord und Raub alles umher in Schrecken und Jammer versetzt.

Gottlieb wurde von dem Kommandanten des Trupps scharf ins Verhör genommen. Er konnte sich bald als unverdächtig ausweisen und berichtete nun umständlich seine erlittenen Drangsale.

»Da gilt es rasch bei der Hand zu sein, Kameraden«, sagte der Anführer, als er zu Ende war, »wer nur sogleich den Weg zu finden wüsste, ehe die Schurken sich aus ihrem Loch heraus geflüchtet haben!«

»Da weiß ich Rat«, ließ sich alsbald eine feine Stimme vernehmen. Es war Jacob, der aus dem Tornister hervor stieg.

»Bindet mich nur oben auf den Scheitelriemen Eures Gaules«, sagte er zum Trompeter. »Ich will Euch auf demselben Weg hinweisen, wo wir hergekommen sind. Sorgt aber erst für meinen kranken Freund!«

Einige Bauern, die dazugekommen waren, gingen mit diesem in den Flecken zurück, wo bald auf die Nachricht von der bevorstehenden Expedition alles in Bewegung kam. Was nur schlagfähig war, bewaffnete sich, und machte sich auf, dem Zug zu folgen und das Abenteuer zu bestehen. So ging es bald in raschem Trab dem Wald zu. Voraus die Dragoner, hinterher die Bauern mit Heugabeln, Sensen, Dreschflegeln und Stangen, was jeder in der Eile erwischen konnte. Jacob hatte nicht in den Wind hinein versprochen! Von seinem luftigen Sitz zwischen den Ohren des Schimmels, der unter ihm schnaubte und brauste, erspähte er mit scharfem Auge jedes Kennzeichen wieder, das er bemerkt oder aus Gottliebs Tornister zur Bezeichnung des Weges ausgestreut hatte. Bald waren sie auf dem Platz und umstellten denselben eiligst, aber in guter Ordnung, denn sie gewahrten, dass eben die Räuber die letzte Anstrengung machten, um die Tür zu sprengen. Sie flog mit großem Krachen auf. Welch Entsetzen für die Bösewichter, als sie die bewaffnete Menge um sich her und jeden Ausweg zur Flucht besetzt sahen! In stummer Erstarrung blieben sie einen Augenblick wie verzaubert stehen.

»Ergebt euch, Kanallien«, donnerte ihnen der Offizier von seinem Ross zu.

Dieser Ruf gab ihnen aber schnell das Leben zurück. Sie fuhren wie gehetzte Löwen auf und stürzten auf die Mannschaft los, um sich den Ausweg zu erzwingen. Jetzt brach ein heißer Streit los und griff nach allen Seiten um sich!

Geschrei, Gewehrfeuer, Säbelklirren allenthalben! Die Räuber schlugen und stießen wütend um sich und streckten manchen zu Boden, aber auch die Mannschaft hielt sich tapfer, wies die Stürmenden festen Fußes zurück, drängte sie immer enger zusammen. Manchem der Lotterbuben lehrte der Dreschflegel Mores. Wer etwa entwischte, wurde von den Dragonern eingeholt und niedergeritten. So ward einer um den anderen überwältigt und gebunden, kein Einziger entkam! Es waren ihrer fünfundzwanzig mit dem Hauptmann.

Es wurde Rast gemacht und in aber Eile eine Anzahl Wagen herbeigeholt, auf die sie mit ihrem ganzen Raub geladen und wie Kälber gebunden dem Flecken zugeführt wurden. So kam der Zug im Triumph in den Flecken an, von der ganzen Volksmenge jubelnd empfangen. Von dort wurden die Bösewichter zur weiteren Prozessierung und Bestrafung abgeführt.

Gottlieb und seinem Begleiter sich aber wurde der Preis von hundert Dukaten, der auf die Entdeckung der Räuber gesetzt worden war, zuerkannt. Nachdem sie zugleich mehrere Tage lang im Ort aufs Beste verpflegt worden waren, stand bei ihrer Abreise eine Kutsche mit stattlichem Gespann bereit, sie ihrem Wunsch gemäß nach Nürnberg zu bringen.