Atlantis Teil 22
Sie stand, wenn auch ungeschrieben, über dem Bericht des afrikanischen Botschafters an die kaiserliche Regierung in Timbuktu. Dieser Bericht war soeben in der Sitzung des Kabinetts, die im Beisein des Kaisers und des Generalstabchefs stattfand, verlesen worden. Aller Augen hingen an Augustus Salvator.
Tief in den Stuhl zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen, hatte er den Bericht vernommen. Kein Muskel in seinem Gesicht verriet, was dabei in seinem Inneren vorging. Minuten verrannen. Tiefste Stille im Raum.
Der Kaiser … Was dachte, was sann er? Die drückende Stille wirkte lastender, je länger sie dauerte. Endlich! … Der Kaiser richtete sich auf. Sein Blick ging zu dem Generalstabschef.
»Wie weit sind die militärischen Bewegungen an der Südgrenze gekommen?«
»Alle Punkte von strategischer Wichtigkeit sind besetzt und gesichert. Verschleierte Mobilmachungsbefehle haben im Norden des Reiches die zahlenmäßige Stärke der dortigen Truppen um das Dreifache erhöht. Alle Möglichkeiten für den Abtransport nach Süden sind geregelt. Munitions- und Lebensmitteltransporte gehen Tag und Nacht in das Aufmarschgebiet …«
»Wie steht es drüben?«, unterbrach ihn der Kaiser.
»Die gleichen Vorbereitungen! Irreguläre auf beiden Seiten haben heute Nacht die ersten Schüsse gewechselt. Die Vorfälle sind unblutig verlaufen.«
Der Kaiser nickte. »Wiederholen Sie nochmals ausdrücklich den Befehl an alle Kommandeure im Süden, sich vor jeder Grenzverletzung – selbst bei Herausforderung – zu hüten. Es würde den Krieg bedeuten, den Krieg, den …« Der Kaiser sprach es mit starker Stimme. »… ich nicht wünsche.«
Sein Blick ging in die Runde.
»Nein! Ich wünsche ihn nicht. Ich will ihn nicht, den Krieg. Jetzt weniger denn je.
Meine Herren! Das Unglück, das über Europa hereinbrach, es ist zu groß, zu unausdenkbar groß, als dass ein Mann in dessen Ausnutzung etwas tun könnte, was dem Sterbenden den Becher der Linderung aus der Hand schlagen würde.
Ich sehe einige Herren erstaunt über meine Worte. Ich verstehe ihren Gedankengang. Gewiss! Ein Strom von Menschen, von Männern, mehr jungen als alten, wird sich nach Südafrika ergießen. Siedler, Soldaten. Ungeahnter Zuwachs für die Kräfte der Südafrikanischen Union. Neue Arbeitskräfte, die unsere schwarzen Brüder allmählich immer mehr verdrängen werden. Ich weiß es, ich sehe es.
Jetzt Krieg! Aasgeier würden sie mich nennen … mit Recht.
Nein! Die Verhandlungen mit der Südafrikanischen Union werden weitergehen wie vorher unter gleichstarken Nachbarn, Gegnern, wie vorher, ehe das Unglück eintrat. Meine Forderungen werden nicht um einen Deut höher werden. Die Verhandlungen werden in demselben versöhnlichen Sinn weitergeführt werden – die Verhandlungen über die Gleichberechtigung der beiden Rassen in der Südafrikanischen Union.
Die dilatorische Behandlung der Frage hat allerdings ein Ende. Die Hoffnungen, die bisher dazu Anlass gaben, liegen begraben unter den Ruinen Europas.«
Der Kaiser schwieg. Sinnend starrte er ins Weite. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Nein! Sie können es nicht mehr. Sie dürfen es weniger denn je verweigern. Die Gleichberechtigung der Rassen.«
Bei dem Wort, kurz, hart hervorgestoßen, war er aufgesprungen. Seine Augen blitzten. Das Gesicht schien verwandelt, unbeugsamer Wille jeder Zug darin.
»Die Gleichberechtigung, meine Herren! Hier und in der Welt, ist mein Ziel. Erst hier auf afrikanischem Boden …
Und wenn die da unten … ich glaube es nicht … kann es nicht glauben … Gott müsste sie mit Blindheit geschlagen haben … wenn die sich weigern … auch jetzt noch weigern, dann … werde ich sie zwingen.« Die Stimme des Kaisers sank bis zum Flüsterton. »… Mit dem Schwert … mit dem Schwert!
Die Truppenbewegungen gehen weiter. Auch die übrigen Maßregeln«, er wandte sich zu dem Marineminister, »nehmen ihren Fortgang. Von Ihnen …«, zum Ministerpräsidenten gewandt, »… erwarte ich morgen den Entwurf eines Programms für eine Hilfsaktion für die europäischen Staaten.«
Er wandte sich zu dem diensttuenden Flügeladjutanten.
»Mr. Rouse«, flüsterte dieser leise.
Die Miene des Kaisers verfinsterte sich. Ein abweisender Zug trat auf sein Gesicht. Mit einer kurzen Begrüßung verließ er den Raum.
»Nehmen Sie Platz, Mr. Rouse. Die Nachricht von Ihrer Ankunft heute Morgen traf mich überraschend.«
Rouse sah den Kaiser fragend an.
»Überraschend! Ja! Die Sprengung am Kanal, die Gerüchte in Ihrem Land, in der Welt, zwangen die Sie nicht zum Bleiben?«
Guy Rouse schwieg. Vergeblich suchten die scharfen Augen des Kaisers nach einer Bewegung in seinem Gesicht.
»Es war also ein Zufall, Mr. Rouse, der die Minen auf einmal zur Explosion brachte, das Unglück geschehen ließ?«
»Es war ein Zufall, Majestät!«
»Ein schlimmer Zufall, Mr. Rouse.«
»Ein Zufall, Majestät. Die Gerichtsverhandlung wird den Beweis erbringen.«
Gleichmäßig, ohne Betonung kamen die Worte aus seinem Mund.
»Sie sagen es, Mr. Rouse. Ich glaube es Ihnen … und doch! Warum verließen Sie Ihr Land in diesen Stunden? Fürchten Sie nicht, dass man Ihre Reise als Flucht, als den Ausdruck eines nicht reinen Gewissens auslegen wird?«
»Fürchten, Majestät? Guy Rouse fürchtet nichts. Das Wort Furcht kennt Rouse nicht … Nicht gegenüber einem persönlichen Gegner … nicht gegenüber der öffentlichen Meinung. Flucht! Das Wort, das Eurer Majestät der Welt in den Mund legte, es ist auch der Gedanke Eurer Majestät. Doch nochmals, Guy Rouse flieht nicht. Der Starke flieht nicht.«
Eine leichte Röte war auf dieses bleiche Steingesicht getreten.
»Der Starke verschmäht es nur, einem Haufen Schwacher gegenüberzustehen und Rechenschaft abzulegen. Ich bitte Euer Majestät, einen Vergleich nicht falsch auszulegen. Wem außer dem Schicksal würden Euer Majestät geneigt sein, Rechnung zu legen?«
Der lange, hagere Oberkörper richtete sich empor, schien zu wachsen. »Ich, Euer Majestät, kenne keinen Menschen in der Welt, dem Guy Rouse Rechnung abzulegen hätte, außer sich selbst. Ich will sprechen auf die Gefahr hin, mir Euer Majestät Ungnade zuzuziehen. Der einfache Rock des Privatmannes Guy Rouse deckt ebenso einen Mann wie andere der Purpur. Was der eine tut, was der andere tut, er selbst ist sein Richter. Richter? … Glauben Euer Majestät, die Richter dort drüben – die Richter des Gerichtshofes oder, noch weiter gegangen, die öffentliche Meinung –, sie wären kompetent, über Guy Rouse zu urteilen? Nein, Majestät! Das Urteil läge doch in meiner Hand. Gold! Mein Gold … und sie wären für mich.«
Es war ein Zug unsäglicher Verachtung, mit dem die letzten Worte aus Rouses Mund kamen. Der Kaiser schaute ihn wie gebannt an. Was er im Stillen gedacht hatte, gefühlt über diesen Menschen, es hatte keinen Bestand.
Ja! Das war ein Mann! Anders … größer als alle, die er je gesehen.
Die Worte aus seinem Mund, wie hatten sie ihn gezwungen, wie er sich auch sträubte. Er riss seine ganze Willenskraft zusammen, fest zu bleiben … fest gegenüber dem starken Gegner … dem Stärkeren?
Nein! Nein! Mit äußerster Gewalt zwang der Kaiser sich. Unterlag er jetzt diesem überstarken Willen? Der leichte Glanz in dessen Augen … in diesen stahlharten grauen Augen. Ein kurzer Blitz nur war es gewesen. Der Kaiser hatte ihn gesehen … gesehen … Triumph? Fühlte sein Gegenüber sich als Sieger?
Des Kaisers Hand strich über die hohe kahle Stirn. Er war wieder ganz Herr seiner selbst, hatte seine volle Kraft wiedergewonnen.
Nein! Nicht stärker war jener! Ein starker Gegner blieb er.
Der Kaiser erhob sich. Ein leises Lächeln zwang seine Lippen.
»Mr. Rouse, ich verstehe Sie. Verstehe, was die Welt Flucht nennen mag. Kein irdischer Richter ist für Sie geboren. Gott … das Schicksal nannten Sie es, wird richten …«
Er trat einen Schritt auf Guy Rouse zu.
»Ich begrüße Sie als meinen Gast in meinem Land, Mister Rouse.«
Die grüßende Hand blieb gesenkt.
»Die Geschäfte, über die wir vor Wochen sprachen, werden sie durch den Gang der Ereignisse beeinträchtigt?«
»Kein Grund, Euer Majestät. Sie sind bereits eingeleitet. Der Gang der Gerichtsverhandlung, die sich gegen meinen Chefingenieur richtet, wird auch ohne die mit Sicherheit zu erwartende glänzende Rechtfertigung desselben daran nichts ändern. Ich erwarte diese Rechtfertigung bestimmt. Euer Majestät werden denken, meine Hoffnung gründe sich auf das Gold … mein Gold in den Händen der Richter … Nein, Majestät! Ich habe es verschmäht, diesen Weg zu gehen. Das Gegenteil tat ich. In einem Schreiben an den Kongress bat ich, bei der Zusammensetzung des Gerichtshofes Männer zu nehmen, die meine notorischen Gegner sind, wirtschaftlich und politisch. Man hat meiner Bitte entsprochen. – Doch zu unseren Geschäften. Es wäre etwas anderes, wenn Euer Majestät in Anbetracht der veränderten politischen Konstellation – die Afrikanische Union im Bund mit Europa – Ihre Dispositionen geändert hätten?«
Der Kaiser schwieg.
Guy Rouse fuhr fort: »Dass die Verhältnisse der Parteien sich durch die letzten Ereignisse von Grund auf geändert haben, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Wie könnte die Südafrikanische Union es jetzt noch wagen, die berechtigten Wünsche Euer Majestät zu verweigern? Gewiss, es wird sich ein Strom von Europäern über Südafrika ergießen. Darunter die Mehrzahl waffengeübte Männer. Aber … die Männer allein. – Die Zeiten, wo die Macht der Fäuste entschied, sind vorbei. Die europäischen Lieferungen, Kriegslieferungen werden und müssen ausbleiben. Ein anderer, der an Europas Stelle träte? Wer sollte es sein? Amerika? Die Vereinigten Staaten …«
Ein kurzer Ruck, der durch den Körper des Kaisers ging.
»Die Vereinigten Staaten?« Die Augen des Kaisers bohrten sich in das kühle unbewegte Gesicht des Sprechenden.
»Die USA, Majestät. Ich muss hier meine Ansicht über die sogenannte öffentliche Meinung etwas revidieren. Es gibt Momente, Majestät, wo die öffentliche Meinung unter dem Druck der Sentiments den Einflüssen des Goldes nicht zugänglich ist. Momente! Aber wie oft in der Weltgeschichte waren es Momente, die den Ausschlag gaben.«
Der Kaiser schaute ihn an, lange.
Ja, das war ein Mann, ein Mann von außergewöhnlicher Größe. War die verkörperte Macht des Goldes … ein Herrscher, ungekrönt, doch größer als so mancher …
»Ihr Gedankengang, Mr. Rouse – immer wieder bewundere ich Ihren Weitblick, Ihren Scharfsinn, er ist mir klar. Meine Dispositionen haben sich nicht geändert. Alles bleibt, wie wir es vor Wochen besprochen haben. Europa … sein Schicksal … tritt es ein …«
Einen Augenblick schien es, als zweifle der Kaiser, als könne er nicht glauben.
»Meine Regierung wird Europa beistehen. Die Afrikanische Union wird nachgeben … Gott helfe mir, müsste ich …«
Augustus Salvator war aus dem hellen Licht der Lampe in das Dunkel zurückgetreten. Die Unterredung, die vorangegangene Kabinettssitzung … Er fühlte, dass seine Kräfte nachlassen würden, bliebe er noch länger unter dem zwingenden Bann dieses Mannes.
»Sie werden mir jederzeit willkommen sein, Mr. Rouse.«
»Ich danke Euer Majestät.«
Er beugte sich, als wenn er eine Hand küsste, die doch nicht da war, und ging hinaus.