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Der Marone – Die Leiche der Cousine

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Vierundvierzigstes Kapitel

Die Leiche der Cousine!

Ja, in dem Tempel des Obi war wirklich niemand außer den sonderbaren Gottheiten, die wunderlich an diesen Wänden grinsten. Um sich hiervon zu überzeugen, war es auch eigentlich keineswegs nötig, in das Heiligtum des Koromantis-Panteons selbst einzudringen, obwohl Cubina und Herbert durch die offene Tür unverzüglich hineinstürzten.

Mit forschenden Blicken sahen sie sich in dem sonderbaren Gemach um. Zeichen von erst vor kurzer Zeit vorgenommenen Beschäftigungen wurden darin vorgefunden, die brennende Lampe allein war hierfür hinlänglicher Beweis, denn wer anders als Chakra konnte sie angezündet haben? Es war eine Talglampe, die noch gar nicht lange gebrannt haben konnte, da erst wenig von dem Talg verzehrt war.

Unbezweifelt war Chakra mit seiner Gefangenen in der Hütte gewesen, allein eigentlich nützte ihnen dies wenig, da Yola sein Hinabsteigen in das Teufelsloch deutlich gesehen hatte.

Warum hatte dann der Räuber seinen ganz sicheren Schlupfwinkel verlassen, und zwar so schnell, dass die Lampe brennend zurückgeblieben war? Und wo konnte er jetzt nur hingegangen sein?

Cubina wusste diese Fragen in keiner Weise genügend zu beantworten und war wie Herbert außerordentlich erstaunt über das rätselhafte Verschwinden des Koromantis aus der Hütte.

War er vielleicht nur noch einmal aus dem Teufelsloch hinausgegangen? Diese Annahme wurde dadurch sehr unterstützt, dass der Nachen vorn am See gefundenen worden war. Aber weshalb sollte er wieder fortgegangen sein? Hatte er etwa doch das gewandte, hinter ihm her schleichende Mädchen gesehen? Und hatte er dann Verdacht geschöpft, dass sein Aufenthalt verraten sei, und ihn deshalb sofort verlassen, um ihn mit einem von dem Schauplatz seines Verbrechens entfernter liegenden Ort zu vertauschen? Jedenfalls, warum sollte er in solcher Eile fortgegangen sein, dass er nicht einmal die Lampe ausgelöscht hatte?

Trotz alledem, dachte Cubina, kann er immer noch im Teufelsloch sein. Der Nachen ist vielleicht von einem anderen benutzt worden, von einem Verbündeten etwa. Chakra kann immerhin seine Verfolger über den See kommend gesehen oder das Dickicht durchbrechend gehört haben, hat dann seine Gefangene mitgenommen und sich hastig in irgendeinen dunklen Winkel unter den urweltlichen Bäumen verborgen.

Diese Vermutung Cubinas wurde freilich durch das plötzliche Verlassen der Hütte wahrscheinlich.

Schnell wie dieser Gedanke trat Cubina aus der Hütte heraus, berief sofort seine Leute zu sich und beauftragte sie, sich Fackeln zu verschaffen und jeden Winkel im Wald zu durchsuchen. Quaco wurde zum Nachen zurückgesandt, um diesen zu bewachen und jedes Entweichen mit ihm zu verhüten.

Während die Maronen sich das Holz zu den Fackeln zu verschaffen bemühten, begann ihr Hauptmann in Gemeinschaft mit Herbert vorläufig die Lichtung genau zu untersuchen, ob Chakra nicht irgendeine bestimmte Spur hinterlassen habe. Am Rand des Wassers, wo die Bäume nur dünn standen, gewährte der Mond hinreichend Licht, um alles deutlich erkennen zu lassen. Wie sie sich dem oberen Wasserfall näherten, fiel Cubina ein Gegenstand in die Augen, der ihn zu einem plötzlichen Ausruf trieb. Dieser war etwas weißes, das hart an der Seite des Beckens lag, in den der Wasserfall sich tosend stürzte, und das auf dem schwarzen Felsen um so sichtbarer wurde. Auch Herbert hatte den weißen Gegenstand sofort erblickt. Beide stürzten unverzüglich auf ihn, um ihn zu untersuchen!

Es war ein Frauentuch!

Offenbar war es zerknittert und zerrissen, als stammte es von jemand her, der sich gesträubt und gekämpft habe und dem es hierbei in der Verwirrung entfallen war.

Keiner wusste, aber keiner war einen Augenblick darüber zweifelhaft, wem das weiße Frauentuch gehört haben musste. Schon dessen Feinheit bezeugte, dass es das Eigentum einer vornehmen Dame gewesen war, und wem anders konnte es gehört haben, als derjenigen, nach der sie suchten?

Cubina schenkte dem Frauentuch selbst nicht so viel Aufmerksamkeit als hauptsächlich dem Ort, wo es gefunden wurde. Es hatte dicht an der Felswand gelegen, am Rand des Beckens, in den sich der Wasserfall stürzte. Hinter diesem Becken ging unter dem Felsenbogen über den der Wasserfall stürzte, ein Felsenrand, auf dem man unter dem Wasserfall durchgehen konnte. Cubina wusste dies, denn auf seinen Jagdzügen war er schon selbst hier durchgegangen. Er wusste auch, dass auf dem halben Weg dieses Durchgangs sich eine nicht unbeträchtliche Höhle oder Grotte im Felsen einige Fuß oberhalb des Wassers im Becken befindet.

Als das Frauentuch dicht neben dem zu dieser Grotte führenden Felsenrand gefunden wurde, erinnerte der Marone sich sofort der Höhle und musste auch sogleich vermuten, dass Chakra dort anzutreffen sei. Durch ihre Annäherung aufgeschreckt, konnte der Koromantis sehr leicht diese Höhle als Zufluchtsort aufgesucht haben, jedenfalls der letzte Platz, wo irgendjemand, der sie nicht zuvor gekannt hatte, ihn suchen konnte.

Dies war Cubina sofort eingefallen, und schnell wie dieser Gedanke eilte er zu der Hütte, ergriff eine bereits angefertigte Fackel und kehrte mit ihr ebenso rasch zum Wasserfall zurück. Dann winkte er Herbert und zwei von seinen Leuten zu, ihm zu folgen, und trat unter das Felsengewölbe hinter dem Wasserfall. Hier drang er nicht rasch, sondern mit großer Vorsicht vorwärts. Denn, konnten in der Höhle nicht noch mehr Leute sein, außer Chakra? Leicht mochten sich alle die mit ihm verbündeten Räuber und Brandstifter dort befinden, von denen der Marone wohl wusste, dass sie Männer von ganz verzweifeltem Mut waren, Männer, deren Leben längst verwirkt und die eher sterben als sich gefangen geben würden.

Die gezogene Machete in der einen und die Fackel in der anderen Hand schritt Cubina leise dem Eingang der Höhle zu. Herbert ging mit seinem doppelläufigen und zum Abschuss bereiten Gewehr dicht hinter ihm her, denn beide waren auf einen ernsten Widerstand gefasst.

Cubina trat mit seiner Fackel zuerst in die Höhle ein. Die Fackel strahlte von tausend glänzenden und funkelnden Tropfsteinen so mächtig zurück, dass sowohl die beiden Eintretenden als auch ihre Nachfolger im ersten Augenblick vollkommen geblendet waren.

Doch bald gewöhnten sich ihre Augen an das glitzernde Funkeln und, sie erkannten zu gleicher Zeit im Hintergrund der Höhle auf dem Boden liegend, einen weißen Gegenstand, der sie zu einem gemeinsamen Schmerzensschrei trieb, bei dem sie sich äußerst erschrocken gegenseitig mit großer Verzweiflung ansahen. Zwischen zwei großen Tropfsteinformationen lag der Körper eines weißgekleideten Mädchens auf dem Rücken der Länge nach ausgestreckt, vollkommen regungslos und augenscheinlich tot!

Es war nicht nötig, die Fackel näher an das bleiche starre Gesicht zu halten, um hiervon überzeugt zu werden. Es war erst recht nicht nötig, die lieblichen stillen Züge genau zu prüfen. Gleich beim ersten Blick auf die Hingestreckte hatte Herbert die traurige Wahrheit eingeleuchtet, dass es die Leiche seiner angebeteten Cousine sei.