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Atlantis Teil 21

Knapp vierzehn Tage waren seitdem vergangen. Der Präsident lichtete in Wibehafen die Anker, zweitausend Seelen an Bord.

Erst die Menschen, dann die Maschinen!, lautete die Order. Nach Hamburg stand der Kurs. Nach Hamburg vorerst … der Heimat der meisten.

Und dann, die Frage lag auf den Lippen dieser Tausende, auf den Lippen derer, die auf anderen Schiffen folgten. Bewegte die Herzen der Millionen, die früher oder später das gleiche Schicksal teilen mussten.

Flucht aus der Heimat! Wohin? Schon flüchteten sie aus Hamburg, von der Küste nach Süden … der Sonne zu. Der Schiffsraum war knapp … ja, er war knapp geworden.

Sinnlos, regellos trieb die Furcht vor dem eisigen Tod das Volk aus Norden zur Flucht. In den Hafenstädten sammelten sich die Massen, wurden größer von Tag zu Tag.

Die Schiffe, die da lagen, wurden gestürmt. Die Führer zur Abfahrt gezwungen. Wohin? Nach Süden, der Sonne zu. Nur die eine Losung in aller Munde. Die Verwirrung wuchs ins Unendliche. Das Chaos stand vor der Tür. Die Schiffsführer wussten nicht, was anfangen. Ihre Reeder waren ebenso ratlos … Die Regierungen?

Da, in letzter Stunde setzten ihre Anordnungen ein. Ein großzügig angelegter Organisationsplan, zu dessen Durchführung Polizei und Militär zu Hilfe genommen wurden.

Die Verbände der Industrie und der Landwirtschaft erhielten genaue Richtlinien. Alle Transportunternehmungen zu Wasser, Luft und Land wurden unter behördliche Kontrolle gestellt. Nie bisher war Ähnliches geschehen, seitdem Menschen Geschichte schrieben. Nur in großen, in allgemeinen Zügen konnten Vorschriften gegeben werden.

Halt für alle, deren Leben nicht unmittelbar bedroht war. Zuerst die, denen das Verderben am nächsten war, denen im hohen Norden.

Mit eiserner Strenge wurde es erzwungen. Nur das eine Ziel wurde verfolgt, das Leben der Bedrohten zu retten. Der wirtschaftliche Ruin war unabwendbar. Für jene Menschen … die Gemeinden … die Staaten … Europa.

Und die Kunde drang in alle Welt und beherrschte aller Herzen. Überall da, wohin das Unheil nicht treffen konnte, wo man über den möglichen Eintritt der Katastrophe und ihre Auswirkungen kaum nachgedacht hatte, sah man jetzt Schreckensbilder, die sich in Europa abspielen mussten, klar vor Augen.

Die Verantwortung für das Fürchterliche wurde bedingungslos Amerika zugeschoben. Die gereizte Stimmung machte sich vielenorts in drastischer Weise Luft. Die Weltpresse erging sich in den heftigsten Schmähungen gegen dieses von einem ausgearteten Kapitalismus beherrschte, verderbte Land.

Soziale Unruhen, Revolten in den Industrieländern häuften sich. Ein Weltboykott amerikanischer Waren drohte als Vergeltung.

Und dann setzte überall in der Welt spontan ein großzügiges Hilfswerk ein. Überall und am schnellsten und besten in den USA. Der Kongress, der unmittelbar nach der Katastrophe am Isthmus einberufen worden war, stellte als Erster Europa einen Riesenkredit zur Verfügung. Sammlungen im ganzen Land wurden veranstaltet. Mit einer Milliarde Dollar stand die New Canal Cy. obenan. Jede Tonne entbehrlichen Schiffsraums, große Lastflugzeuge wurden nach Europa dirigiert. Arbeitsgelegenheiten und Platz für Millionen sollten frei gemacht werden. Alles wurde getan, um das Odium zu mildern, das auf dem Land lastete.

Die Schreckensszenen, die in Wort und Bild dem amerikanischen Publikum Tag für Tag vorgeführt wurden, trugen das ihre dazu bei, die Hilfsbereitschaft zu steigern. Ergreifende, entsetzliche Bilder brachten die Filmstreifen und Fernsehbilder aus dem sterbenden Europa.

Ein freundliches Dorf in blühender Landschaft … eine Industriestadt mit Hunderten von Fabriken.

Einen Tag später … Dorf und Stadt halb leer von Menschen. Die anderen … zu Fuß, zu Wagen, beladen mit ihrer Habe, auf der Flucht zu den Hafenstädten.

Wilde Bilder dort! Alle Häuser überfüllt … Tausende auf den Feldern nächtigend … Menschenmauern auf den Kaimauern …

Ein ankommendes Schiff … in Booten ihm entgegen! An Bord.

Das Schiff im Hafen. Die Landungsbrücken in die gedrängten Menschenmassen stürzend, erdrückend … darüber drängend … stoßend … wahnsinnige Massen.

Eine Brücke bricht … Hunderte im Wasser … rettungslos versinkend.

Angehörige auseinandergerissen … alle Bande des Blutes gelöst.

Das Schiff überladen. Keine Abfahrt … tausend Hände um die Trossen geklammert … Der Kapitän, die Mannschaft Waffen in den Händen. Die Trossen gekappt!

Verzweifelter Sprung … ihm nach, dem Schiff … Schüsse knallen … Flüche … Verwünschungen … Bitten … Flehen … das Schiff in Fahrt …

Wohin? Tausend Wünsche … Der Kapitän ratlos …

Wohin?

Alle Mannschaft auf die Brücke und an die Rudermaschine … Waffen zur Abwehr gegen die Massen gerichtet …

Vorbei an verlassenen Leuchtfeuern … Sturm im Kanal … kein Platz mehr unter Deck. Verzweifelte … Kranke, Sterbende auf Deck.

Im Wetteifer überboten sich Fernsehen, Radio und Presse in diesen Szenen. Und doch waren es nur kleine Ausschnitte aus dem Riesenbild der Zerstörung eines großen Landes. Eines Bildes, das ganz zu malen Wort und Licht versagten.

Nur eines bei alledem war auffallend. Während die Presse der übrigen Welt in erster Line der New Canal Company und ihrem Leiter die Schuld an dem Geschehen beimaß und sich in Schmähungen gegen sie ergoss, schwieg die amerikanische Presse, von wenigen Ausnahmen abgesehen, beinahe völlig über diesen Punkt.

Es war die immer wiederkehrende Wendung, mit der die Klippe der Schuld umschifft wurde: Der Verantwortliche ist vor Gericht gestellt. Schuld oder Unschuld, der Richterspruch wird es erweisen.

In den wenigen Ausnahmen freilich stand es anders. Die New Canal Cy. und ihr Leiter Guy Rouse, sie waren die Schuldigen.

 

*

 

Das Berner Parlament war wieder versammelt. Ein anderes Bild als vor vier Wochen. Gewiss! Die Tribünen wieder überfüllt. Doch der große weite Saal wies beinahe so viel Lücken als Abgeordnete. Wie lange würde es dauern und diese würden für immer fehlen. Die aus dem Norden!

Nur spärlich waren die erschienen. Wozu auch? Da oben standen Not und Tod vor der Tür, wogegen hundert Parlamentsreden nichts nützen konnten.

Das Leben retten! Zusammenraffen, was an Geld und Vermögenswerten blieb … Das ging vor.

Die Sitzung begann. Einige Redner, die in leidenschaftlichen Worten die schwersten Anklagen gegen Amerika schleuderten. Man hörte sie … zuckte die Achseln. Was war damit gewonnen? Der Kranke musste sterben. Nichts rettete ihn vom Tod.

Dann eine Reihe anderer, die mit unmöglichen Vorschlägen kamen. Man schüttelte den Kopf darüber. Die Liste war erschöpft. Die meisten hatten verzichtet. Der Minister des Inneren war der Letzte. Er stand auf der Tribüne. Aller Augen hingen an ihm.

Der Minister sprach. Und mit jedem Wort, das aus seinem Munde kam, wurden die Herzen der Hörer schwerer und schwerer.

Verloren! Verloren! Nichts anderes klang aus seiner Rede. Das nackte Leben retten … den Millionen im Norden. Mehr vermochte die Regierung nicht.

Die Periode sinnloser Flucht war vorbei. Das Organisationssystem der Regierung arbeitete. Ein Riesenproblem … Unvollkommen natürlich gelöst … Nicht ausreichend gegenüber der Größe des Unglücks, aber genügend, um das Chaos zu verhindern.

Zweihunderttausend Menschen an jedem Tag galt es, aus den bedrohten Gebieten abzutransportieren. War das schon eine Riesenaufgabe, kaum zu lösen, ohne die Unterstützung der ganzen Welt … noch schwerer war hier die zweite … Wohin?

Und nun entwarf der Minister in großen Zügen den Plan der Regierung. Abtransport mit vorgeschriebenem Gepäck und Gewicht. Nach den Häfen Europas … Sammlung in großen Lagern … Einteilung der Massen nach Zielen und Wünschen … später Weitertransport nach Amerika … Südafrika … Asien … Australien.

Jahrzehnte würde es dauern, bis der Rest Europas seine wirtschaftliche Umstellung finden und sich in die neuen Lebensbedingungen eingewöhnen würde.

Hoffnungslosigkeit sprach aus den Worten des Ministers, Hoffnungslosigkeit lag über der Versammlung. Das Parlament ging auseinander, nachdem es der Regierung unbeschränkte Vollmachten für das nächste Jahr gegeben hatte.

Das sterbende Europa, das war die Überschrift, die von nun an in den ausländischen Blättern über den europäischen Nachrichten stand.