Sir Henry Morgan – Der Bukanier 2
Kapitän Marryat
Sir Henry Morgan – Der Bukanier
Aus dem Englischen von Dr. Carl Kolb
Adolf Krabbe Verlag, Stuttgart 1845
Zweites Kapitel
Unser Held verrät das Ungestüm seiner Gemütsart – wird zurechtgewiesen, aber nicht gebessert – Der Anfang eines Abenteuers
Da unserem Henry in den wilden Szenen, die er für den Schauplatz seines ehrgeizigen Ringens hielt, und in denen er den Lohn seines Unternehmungsgeistes suchte, keine Hauptereignisse, keine Schicksal lenkenden Katastrophen zustießen, so wollen wir rasch über die Tage seiner Knabenzeit hingehen und nur diejenigen Tatsachen berühren, welche ihn unmittelbar veranlassten, sich auf den gefährlichen See der Abenteuer einzuschiffen.
Um unsere im letzten Kapitel abgebrochene Erzählung wieder aufzunehmen – Henry Morgan trat mit blöder, verlegener Miene in Miss Glenllyns Gemach. Aber seine Befangenheit währte nur so lange, wie seine Augen auf dem Wesen vor ihm hafteten, dessen Lieblichkeit er wohlzufühlen, aber nicht zu begreifen vermochte. Wie er aber der übrigen Gesellschaft ansichtig wurde, ging seine Verschämtheit in rücksichtslose Wildheit über, welche nicht einmal das graue Haar, die abgezehrte Gestalt und das hilflos kranke Aussehen Sir George Glenllyns zu bannen vermochte.
»Pax vobiscum«, schnüffelte der Priester, »obwohl dein Aussehen, junger Yeoman, die Fahnen von horridis bellis zeigt.«
»Er hat Mittag nichts zu essen gehabt«, sagte der Barde, »und unser altes cambrisches Sprichwort …«
»Ei, Vater, wollt Ihr einen ausgehungerten Jungen mit muffigen Sprichwörtern füttern? Das ist trockenes Futter für einen gierigen Magen«, sagte sein ungezügeltes Fohlen von einem Sohn. »Da ist Schweinefleisch für dich, Henry.«
Und ehe Heinz sich umsehen konnte, fühlte er die sehnige Rechte des Jungen oben an seinem Hals, während ihn dessen Linke mit einer Art von Kost fast erstickte, die man heutzutage einen Black Pudding nennen würde.
»In den Tagen meiner Herrlichkeit«, sagte der leidende Ritter, »wären diese Possenreißereien in die Bedientenhalle verwiesen worden … aber ich bin nichts … nichts.«
»Ihr seid ja mein Vater«, versetzte Lynia mit Milde.
»Der Vater eines armen Geschöpfes … eines Wesens, das von Almosen leben muss. Wollte Gott, Lynia, du wärst in einem Kloster und ich in meinem Grab!«
»Das Grab wäre wohl für uns beide das Beste, mein teurer Vater!«
»Ihr beleidigt Gott durch Euer Murren, meine Kinder«, sagte Gonsalvo. »Es kann euch noch vielleicht Gutes vorbehalten sein. Freilich ist heute Fasttag, aber zum Abendmahl haben wir zwei treffliche, schöne Fische, und der Vater dieses Jungen, der reiche Yeoman Morgan hat uns ein Fässchen des stärksten Ales geschickt. Es ist uns noch manches Tröstliche vorbehalten.«
Lynsa, der es lieb war, der Unterhaltung eine weniger trübselige Wendung geben zu können, wandte sich mit gewinnender Miene an den jungen Morgan und redete ihn folgendermaßen an: »Mein schöner, krausköpfiger junger Jäger, ich glaube, du hast mir etwas von den Früchten deiner Mühe versprochen. Du verließest mich diesen Morgen in voller Hoffnung, und ich erinnere mich, dass Owen Lywarch in wilder Hast hierher kam, um uns den guten Erfolg anzukündigen. Wird wohl die Ausbeute deiner Jagd zu dem Bankett beitragen, das uns dein gütiger Vater in Aussicht gestellt hat?«
»Miss Glenllyn, ich habe gutes Glück gehabt, bin aber auf meinem Weg hierher beraubt worden.«
»Beraubt? Dann muss es durch die gesetzlosen Parlamentssoldaten geschehen sein«, entgegnete sie ein wenig betroffen.
»Nein, mein Fräulein, hätte ich der Gewalt der Waffen weichen müssen, so wäre es mindestens ehrenhaft gewesen. Macht gibt Recht. Ich hatte dann einen wackeren Streich führen können, um mich für meine Beeinträchtigung schadlos zu halten, hätte wenigstens zu Ehren einer gewissen Person tüchtige Hiebe ausgeteilt. Aber ich bin nicht so glücklich gewesen – wurde hinterlistig betrogen.«
»Du, Henry Morgan?«, sagte die junge Dame. »Und wer konnte meinen wackeren Bergjungen überlisten?«
»Ja wohl – wer anderes als der Geistliche, der Schulmeister und der Balladenkrämer? Sie sind es, die sich stets an dem Fettesten mästen, aber in der Gefahr nie vorne anstehen, der man es verdankt.«
»Der Knabe ist ja recht kaustisch, aber stets wahrheitsliebend«, bemerkte der Kranke. »Du darfst ihm nichts zuleide tun, Lywarch. Was hast du mir so Gutes erwiesen – oder auch Ihr, Herr Priester?«
»Der Bube ist ungezogen, und wäre nicht mein geehrter Lord zugegen, so wollte ich ihn augenblicklich mit vielen Streichen züchtigen. Ja sogar mit meinem Gürtel wollte ich ihn züchtigen«, sagte der Ordensmann.
»Hörst du, junger Bursche«, sprudelte der Barde in höchst klassischem Walisisch, »bei den bösen Geistern in den Eingeweiden des Cader – aber ich will dich mit Hunderiemen hauen, du rotköpfiger Hund von einem Ketzer!«
»Dem Knaben darf kein Leid geschehen, sage ich. Wie, wollt ihr hier die Herren spielen, noch ehe die kalte Erde über meinem gebrechlichen Leib liegt? Habt ihr den Jungen betrogen?«
»Höchst edler Ritter und Herr«, sagte der Poet, »dieser fromme Mann und ich haben mit ihm einen ehrlichen Kauf geschlossen. Wir gaben ihm Weisheit in vortrefflichen Worten für seine erbärmlichen Fische.«
Dann erzählte er mit rohem Humor den kleinen Pfiff, den er in Anwendung gebracht hatte, erklärte aber zugleich, dass der Schulmeister ein Zwischenläufer und die Einmischung des alten Morgan ein unvorhergesehener Zufall sei.
»Ohne dies, meine schöne Erbin von Glenllyn«, fuhr er fort, »wurde er noch immerhin Gelegenheit gehabt haben, Euch ein schönes Geschenk und zwei schöne Begleitungsreden zu Euren Füßen niederzulegen.«
»Schon gut«, sagte die Dame mit einem leichten Lächeln. »Weil du das Geschenk nicht hast, Henry, so lass mich wenigstens die Reden hören.«
»Sie taugen nichts, Fräulein«, sagte der Knabe unmutig. »Meines Vaters dritter Schweinehirt, der halb blödsinnige Sohn des Ran aus dem Tal hatte es besser machen können, obwohl die eine aus schlechten welschen Reimen und die andere aus noch schlechterem Lateinisch bestanden.«
»Der Mut des Jungen gefällt mir«, sagte Sir George.
Der Priester und der Poet verteidigten ihre Reden mit großer Heftigkeit, an welcher sich Miss Glenllyn sehr belustigte. Aber keine Bitte konnte die Autoren bewegen, das zu wiederholen, wofür sie sich so ohne Umstände selbst bezahlt gemacht hatten.
»Ist eine davon auch nur den kleinsten Fisch wert, von dem man je gehört hat?«, fragte die Dame.
»Mit Stolz darf ich sagen«, entgegnete Gonsalvo, »natürlich die unschätzbare Ehre und den Ruhm des Wunders abgerechnet …« Er bekreuzigte sich und fuhr dann fort: »… Dass die meine den mirakelhaften Fischzug Petri selbst wert ist – das heißt, an Orten und vor Personen, wo ihr Wert verstanden und belohnt werden kann.« »Jedes Wort der meinen ist ein Goldstück wert«, sagte der Prydidd.
»Nun, so möchte ich sie doch hören«, sagte die junge Dame. »Henry, willst du mir es verweigern?«
»Wenn Ihr mir’s befehlt, so will ich Euch Folge leisten. Aber ich sage Euch im Voraus, Fräulein, wenn ich’s tue, so werde ich auch dem Messmann da die geschorene Platte mit einem Vogelbolzen von meiner Armbrust behandeln. Und was den Reimeschmied betrifft …«
»Was willst du mit meinem Vater anfangen? Ich erlaube es nicht, dass du ihn anrührst.«
»Nein, aber ich will den Ausscheller seine Reime lehren, und er soll die schuftigen Weisen dem ersten Trunkenbold vorsingen, den mein Vater in den Stock legen lässt. Wenn er nicht zu Eurem Hauswesen gehörte, Sir George, so würde ich vielleicht selbst den Schalksnarren als einen Landstreicher aufgreifen. Hoffentlich wisst Ihr alle hier, dass Syrinan Morgan der Friedensrichter des Distrikts ist und dass ich meines Vaters Sohn bin.«
»Ein hübsches Strömlein Höllenbrüh kocht in seinen Adern«, bemerkte der Repräsentant der Druiden. »Meine Harfe hat wohl Ursache, über die Zeiten wehzuklagen. Jammere, o Wales – jammere, mein Vaterland! Die Größe deiner Berge und die Macht deiner Täler sind dahin – der Niedriggeborene ist im Besitz deiner Ehrenstellen!«
»Die Lüge dir in die falsche Kehle!«, rief der leidenschaftliche Knabe. »Die Morgans aus Monmouthshire sind von der besten Herkunft – o hätte ich nur ein Schwert!«
Es schien zu einer plötzlichen Balgerei kommen zu wollen. Als jedoch der Barde und der Priester erwogen, dass sich nur ein unverschämter Knabe dem ganzen Haushalt entgegensetze, so drückten sie ihren Verdruss bloß in einem geringfügigen Lachen aus.
Bei Sir George war die Bewunderung vor Henrys Mut im Zorn über dessen ungebührliches Benehmen untergegangen. Er fühlte sich jedoch zu schwach oder war zu klug, seinem Unwillen gegen den Sohn eines Mannes Raum zu geben, von dessen Wohlwollen sein und seiner Familie Unterhalt größtenteils abhing.
Lynia fühlte sich jedoch verletzt und sprach sich unverhohlen darüber aus, indem sie zugleich mit sanftem weiblichem Vorwurf unseren jungen Helden anblickte, der, ganz toll vor Leidenschaft und ganz außer sich über den Spott des Priesters und des Poeten, in der Mitte des Zimmers stand und voll Ingrimm auf den Boden stampfte,
»Es tut mir leid, Henry, an dir einen so ungestümen Ausbruch von Leidenschaftlichkeit wahrzunehmen, da er mich für dein künftiges Schicksal zittern lässt. Merke dir wohl, mein junger Freund, dass du nur ein Knabe bist, und dass diese Männer, welche so viel älter sind als du, ein Recht an deine Achtung haben. Ich bin stets sehr nachsichtig gegen dich gewesen, Henry, und habe dich nie an meine Geburt und meinen Rang erinnert. Aber in diesem Augenblick muss ich es tun, da du beides so ganz vergessen zu haben scheinst. Ich erkenne deine kleinen Dienstleistungen an und bin dir ebenso dankbar für die Geschenke, die du mir zu bringen gedachtest, als wenn du in deiner wohlmeinenden Absicht nicht unterbrochen worden wärest. Auch muss ich dir so weit Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass meine beiden Freunde sich nur einen armseligen Scherz gegen dich erlaubt und dabei kaum wie verständige Männer gehandelt haben. Aber du hast dafür wie ein eigensinniges, törichtes Kind Rache genommen. Mein teurer Vater und ich haben dich stets behandelt, als gehörtest du unserer eigenen unglücklichen und gefallenen Familie an. Und wenn du in Sir George auch nicht den Häuptling und Lehensherrn erkennen willst, solltest du doch einen Freund und Vater in ihm achten.«
»Das tue ich! Das tue ich!«, sagte der Knabe auf einmal ganz unterwürfig, indem er die Hand des kranken Mannes ergriff und sie aufs Achtungsvollste küsste.
»Schon gut«, fuhr die Dame fort, »so wollen wir alles Übrige vergessen. Du bleibst bei uns, Henry, und teilst unser Mahl, zu welchem du so freigebig beigetragen hast. Inzwischen aber musst du ein wenig zur Besinnung kommen, denn du bist in keiner Stimmung, welche für die Unterhaltung passt. Schreibe mir daher diese italienische Erzählung ab. Du hast meinem Unterricht viel Ehre gemacht, Henry.«
Der junge Morgan setzte sich trotz des Kampfes seiner stürmischen Gefühle zu seiner Aufgabe nieder. Allmählich verschwand das zornige Rot von seiner Stirn und dann lagerte sich ein heiterer, schelmischer Ausdruck über seinem sehr verständigen Gesicht.
Die Harmonie sollte jedoch nicht lange andauern. Der Himmel bewölkte sich plötzlich, und der Donner weckte mit seinem betäubenden Getöse das gewaltige Echo des Plynlimmon und Cader Idris. Ein schweres Dunkel lagerte sich über dem Wasser. Der Wind sauste krampfhaft um die Türme und heulte in den verlassenen Höfen des alten Schlosses. Anfangs bliesen die heftigen Stöße aus allen Strichen des Kompasses, bis sie endlich das ganze Ungestüm eines tropischen Orkans annahmen, welcher tot gegen die Küste herbrauste. Bald sprach auch das Meer wütend auf diesen Vorboten der Zerstörung an. Zornig brüllend stürzten die Wogen ans Gestade, schlugen weit landeinwärts, verbreiteten sich auf dem grünen Rasen und kehrten, sobald sie ihre Gewalt erschöpft hatten, träge wieder zurück, bis sie aufs Neue herangetragen wurden.
Alle in dem Gemach gaben ihre Beschäftigung auf, um nach der See hinzublicken. Bisher ließ sich noch kein Schiff in der geräumigen Bucht sehen. Der Blick traf nur auf die dunkle Masse schwarzer Wolken, die sich jeden Augenblick mit dem Schaum der unten rollenden Wasser zu vermischen schienen. Endlich zeigten sich im schwärzesten Düster einer Wolke, die majestätisch auf der See fortzurücken schien, die geneigten Masten eines großen, edlen Schiffes. Bald danach wurde auch der Rumpf sichtbar. Es war ein Fahrzeug von großer Tonnenlast, und das ausgesuchte Schnitzmerk des Sterns und Schnabels bekundete, dass es bestimmt war, ebenso gut der Ähre als auch dem Transport von Schätzen zu dienen.
Es war keine Hoffnung der Rettung vorhanden – nein, nicht die geringste. Das Schiff stand bereits tief in der Bucht und jener Versuch, dem Sturm ein Segel zu bieten, hatte nur die Wirkung, dass es rascher dem Gestade zuschlingerte.
Ein Fahrzeug von so viel Tonnenlast hatte eine bedeutende Wassertracht, und die Bucht war ungemein seicht. Es ging schnell seinem Schicksalen entgegen, da es breitseits gegen das seichte Wasser herankam.
Entsetzt und schweigend achtete die Gesellschaft auf die schnell herannahende Krise. Der ungeheure Rumpf stieß auf Grund, und in dem gleichen Augenblick stürzten die gewaltigen Wellen, empört über das Hindernis, welches sich ihnen in den Weg stellte, über das dem Verderben geweihte Schiff hin, in Schaum und Brandung sich auflösend und das Fahrzeug durch einen weißen Nebel vor den Blicken verhüllend. Die Katastrophe fand in der Entfernung einer Meile vom Ufer statt.
Dann trug der pfeifende Wind das laute Verzweiflungsgeschrei von mehr als vierhundert Stimmen heran. Der Wogenguss, welcher das Schiff überwältigt, hatte sich wieder gelegt, und man sah es vom Ufer aus. Aber die Masten waren über Bord gefegt und hingen nur noch an dem Takelwerk, wo sie auf den Wellen auf Lee umherschlugen. Doch im nächsten Augenblick hob sich eine andere Woge, welche über das Fahrzeug hereinbrach, und ein zweiter schwächerer, aber deshalb schauerlicherer Schrei erreichte das Land.
Die See war jetzt mit Schiffstrümmern bedeckt, und unter ihnen rangen menschliche Wesen im Todeskampf. Es war nur geringe Aussicht auf Rettung vorhanden. Etwa eine Viertelmeile vom Rande des Wassers traf die Woge auf den Grund und warf sich mit ungezügelter Wut als hohe, mauerartige Brandung auf, welche jene Annäherung ans Ufer hinderte. Als die kämpfenden Matrosen diesen Strudel der Zerstörung erreichten, wurden sie in ihrem letzten Kampf herumgewirbelt, um nach einer Weile als Leichen wieder ausgeworfen zu werden.
Die dritte Welle brach über das Schiff herein, und der dritte Angstruf der Überlebenden, welche sich noch an Bord befanden, zeterte in die Ohren der Zuschauer.
Da rief mit einem Male Henry Morgan entrüstet aus: »Warum stehen wir hier so memmenhaft müßig? Der eine oder andere könnte doch gerettet werden – nach dem Gestade! Nach dem Gestade!«
Dies weckte alle aus ihrer entsetzten Betäubung, und sie folgten dem jungen Desperado, selbst Lynia nicht ausgenommen. Der Regen schoss, mit Hagel untermengt, fast in horizontalen Strömen nieder und der Wind war noch immer so ungestüm, dass sogar die Kräftigsten nur mit Schwierigkeit dagegen ankämpfen konnten.
Jndess vermochte nichts den Eifer der Dame zu überwältigen, und unter Henryk und des Harfners Beistand gelangte sie mit den Übrigen an das Ufer, wo die Wogen schrecklich gegen ihre Füße heranschlugen.