Die Tauscher 27
Dr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 27
Es war verwirrend. Florian lehnte an einer Straßenlaterne und schaute dem Jugendlichen – oder wohl eher dem jungen Mann – entgegen, der die Straße entlang ging. Er schaute sich selbst entgegen. Zumindest auf den ersten Blick. Nach dem zweiten Blick fragte sich Florian, ob er wirklich immer diesen stampfenden, energischen Schritt gehabt hatte, immer den Kopf ein wenig zwischen die Schultern gezogen hatte, als wolle er im nächsten Moment ein Hindernis zur Seite rammen.
Vor ein oder zwei Stunden hatte er plötzlich diesen Moment der Klarheit gehabt. Mit einem Mal wusste er, wer er war und was geschehen würde. Die Zeit reichte gerade noch, um die Levinsohn mit einem Auftrag aus der Wohnung zu schicken und sich im Badezimmer zu verschanzen, damit sie nicht bemerken konnte, dass Hammerstains Körper langsam durchscheinend zu werden schien. Dann gab es einen kurzen Moment des Schwindels und nun stand er an die Laterne gelehnt. Hammerstain, der wusste, dass er Florian war und auf Florian, der wie Florian aussah, aber Hammerstain war, wartete.
Der falsche Florian hielt neben Hammerstain an. »Was soll dieser Bart?«, raunzte er, »und was, zum Geier, ist mit meiner Schulter. Du hättest sorgfältiger mit mir umgehen sollen!« Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
»Du hast angefangen zu rauchen«, japste der richtige Florian, »bist du wahnsinnig. Das ist meine Lunge! Und was ist, wenn ich süchtig geworden bin?«
Der andere schnippte die Zigarette in den Rinnstein. »Bist du nicht. Hat sowieso nie wirklich geschmeckt. Der Tabak hier ist irgendwie Mist.«
Sie schlenderten nebeneinander die Straße entlang. »Einige Dinge habe ich mitbekommen«, erklärte der falsche Florian, »war ganz komisch. Plötzlich waren sie da, ganz unerwartet. Ich sitze in diesem Mathematikunterricht und dann weiß ich innerhalb von einer Sekunde diese Geschichte von Nikopol und von Noira. Aber andere Dinge musst du mir erklären.«
»Muss ich das?«
Drei Mädchen kamen aus einer Haustür und winkten begeistert mit einem Hallo Flo.
»Was war das denn?«, wunderte sich Florian in Hammerstain-Gestalt, »die haben mich bisher nicht mal angesehen. Und jetzt fallen sie dir fast um den Hals.«
»Ich habe in dieser Hinsicht für etwas Verbesserung gesorgt. War übrigens kein Wunder, dass du immer übersehen wirst. Erstens bist du rumgelaufen wie eine frustrierte Vogelscheuche in Klamotten aus der Rote Kreuz-Kleiderkammer und zweitens bist du ein totaler Feigling, was das andere Geschlecht angeht.«
Hammerstain kniff die Lippen zusammen. »Immerhin habe ich nicht deine Frauenprobleme.«
Der falsche Florian lachte ironisch. »Doch hast du. Nur auf andere Art. Aber jetzt will ich die ganze Geschichte hören.«
Zwischendurch erklang eine laute Melodie und der falsche Florian holte ein Handy aus der Tasche. Er telefonierte eine Weile, sülzte ganz offensichtlich mit einem Mädchen und beendete das Gespräch.
»Du hast mir einen verdammten Mobilfernsprecher gekauft. Ich war stolz darauf, keinen zu haben«, jammerte der echte Florian.
»Ein gutes Stück«, versicherte der falsche Florian, »nachdem ich mich klamottenmäßig aufgerüstet hatte, blieb noch was für einen guten Taschenfernsprecher übrig. Nur die Kamera ist nicht so gut. Ich werde es vermissen.«
»Ich habe dir einen Riesenhaufen Geld hinterlassen und du plünderst mein Sparbuch«, beschwerte sich der echte Florian. Zugleich erinnerte er sich, wie er durch diese fremde Stadt ging, ein Telefon suchte und das sichere Gefühl hatte, dass Verständigung einfacher sein könnte.
»Die eingespeicherten Telefonnummern sind Gold wert«, versicherte der falsche Florian, »du hast jetzt so viele soziale Kontakte, das ist mit Geld nicht zu begleichen.«
Die drei Typen, die vor ihnen schlagartig die Straßenseite wechselten, kannte der echte Florian und selbst in seiner Gestalt als Silwester Hammerstain fühlte er sich unwohl. Er konnte sich an genügend demütigende Szenen erinnern, vom Kindergarten bis zur Oberstufe.
Aber die drei schienen einen geradezu panischen Respekt vor Florian zu haben, der ihnen einen verachtungsvollen Blick zuwarf.
»Was hast du mit diesen Typen gemacht?«, erkundigte sich der echte Florian vorsichtig.
»Och, das war auf einer Party. Die drei waren da, ich war auch da. Und irgendwann stand die Gewaltfrage im Raum.«
»Und du hast sie mit Ja beantwortet?«
»Mit einem eindeutigen Ja, worauf du Gift nehmen kannst. Die drei Stiche an deiner Unterlippe war es wert.«
»Ich kann mich also darauf einstellen, als rauchender Gewalttäter bekannt zu sein«, stellte der echte Florian entgeistert fest.
»Und als Partytier, und natürlich als Aufreißer der Extraklasse.«
»Ich bin ruiniert.«
»Von wegen. Ich habe dein elendes Dasein in die Sonne gerückt«, erklärte der falsche Florian, »übrigens hast du den Führerschein. War eigentlich ganz einfach. Und was ist jetzt mit Noira?«
Hammerstain blieb stehen und holte etwas umständlich, wegen der verbundenen Schulter, einen Zettel aus dem Sakko. »Traut hat meinen Vorschlag durchgeführt«, erklärte er, »es lief alles wie geplant. Eine epische Straßenschlacht, bei der die halbe Unterwelt im Kreuzfeuer der Polizei lag und die Klügeren die Hände hoben. Allerdings konnten Noira von Schwarz und Dr. Spellberg fliehen. Sie wurden verfolgt und hätten keine Chancen gehabt, die Flucht fortzusetzen. Sie kamen bis zu dem Raketentestgelände und zündeten die Rakete.«
»Und dann?«
»Sprengten sie sich mitsamt ihrer geheimnisvollen Maschinerie selbst in die Luft. Traut hat mir diese Tonaufzeichnungen gegeben, die irgendeine Polizeistation in der Nähe gemacht hat. Das sind die Schallwellen in der Aufzeichnung.«
Er reichte dem falschen Florian ein Blatt, auf dem ein Gebirge von hektischen Linien zu sehen war.
»Seltsam«, lautete der Kommentar.
»In der Tat«, bestätigte der echte Florian, »es gab zwei Explosionen unmittelbar hintereinander. Das Linienmuster der zweiten Detonation entspricht dem üblichen Muster solcher Ereignisse. Aber die erste Explosion ist völlig untypisch.«
»Und was war das für eine Maschine?«
»Eine Maschine, die ungeheure Mengen an Energie verbrauchte. Und vielleicht war es auch eine Maschine, für die Unterlagen und Pläne bei Professor Grünwang gestohlen wurden. Man weiß es nicht.«
»Was ist mit dem Raub bei Hassel«, fragte der falsche Florian, »das war doch genau der Punkt, der mich in die Sache hineingeritten hat.«
»Mich übrigens auch«, kommentierte der echte Florian in Hammerstain-Gestalt trocken, »es war eine alte Fotografie. Ich fand sie in Noiras Wohnung.«
»Mach es nicht so spannend«, grummelte Hammerstain in der Gestalt von Florian; »was war an dem Bild so aufregend?«
»Es zeigt Krieger der sieben vereinigten Stämme auf den Stufen des Kapitol. Kurz, nachdem sie Washington erobert hatten.«
»Das findet man in jedem Geschichtsbuch.«
»Nicht diese Aufnahme. Sie ist die Einzige, die zeigt, dass die Indianer Maschinengewehre hatten.«
Hammerstain in Florian-Gestalt blieb abrupt stehen. »Das Maschinengewehr wurde erst viel später erfunden«, sagte er, »die Rothäute können diese Waffen nicht gehabt haben.«
»Eben. Und doch hatten sie sie. Ich habe mich ein wenig schlaugemacht, bevor ich zum Wechsel verschwinden musste – die Weißen, die sich nach Britannien gerettet hatten, erzählten immer davon, dass die Kugeln der Indianer so dicht flogen wie ein Schwarm wütender Bienen. Aber niemand nahm das jemals ernst.«
»Dann müssten die Indianer die Waffen noch haben.«
Florian in Hammerstain-Gestalt schüttelte den Kopf. »Die Indianer sahen diese Waffen als heilig an. Sie haben eine komplizierte Legende über die Herkunft und kurz, nachdem sie die Weißen zurück ins Meer getrieben hatten, wurden die Waffen in den heiligen Bergen vergraben. An einem Ort, den nur zwei oder drei Medizinmänner kennen und an ihre Nachfolger weitergeben. Und es wäre durchaus wahrscheinlich, dass diese Ortsangabe bewusst falsch weitergegeben wird.«
Hammerstain in Florians Gestalt schüttelte den Kopf. »Das war eine meiner ersten Lachnummern. Als ich sagte, Neu-York ist sechs Monate im Jahr Tauschplatz für Händler und Eingeborene. Irgendwie ist es mir noch gelungen, die Sache so hinzubiegen, dass ich nicht als totaler Idiot dastand.«
Florian in seiner Hammerstain-Gestalt spürte ein nervöses Prickeln in den Schläfen. »Wie lief es denn sonst so in der Schule«, erkundigte er sich und wünschte gleichzeitig, er müsste nicht hören, was kommen würde.
Der falsche Florian griente boshaft. »Die meiste Zeit habe ich sowieso geschwänzt.«
»Ja klasse, den Führerschein habe ich, aber das Abitur kann ich knicken. Da ist meine Karriere als Taxifahrer ja zumindest gesichert.«
»Nun mach mal halblang. Deine Leistungen habe ich locker übertroffen. Für meine Mathematikklausuren kannst du mir dankbar sein. An mir liegt es bestimmt nicht, wenn ich das Abitur nicht bekomme. Ich meine, wenn du es nicht bekommst. Außerdem habe ich dich in der Beliebtheitsskala der Schule auf einen Spitzenplatz gebracht. Du bist Schulsprecher.«
»Wie hast du das denn hinbekommen?«
»Zum Beispiel heftige Diskussionen mit Dr. Geitner und seiner Stellvertreterin. Die bekommen inzwischen schon Bluthochdruck, wenn sie mich sehen.«
»Ich falle doch schon in Ohnmacht, wenn ich den Direx auf der anderen Seite des Schulhofes sehe«, gestand der echte Florian kläglich.
»Man wächst mit seinen Aufgaben.«
»Was wirst du eigentlich machen?«, fragte Florian in Hammerstain-Gestalt, »die Rolle des versoffenen Privatschnüfflers, der miese kleine Ehevergehen verfolgt und sich ansonsten durch die Stadt prügelt, kannst du wohl nicht mehr geben.«
»Das war keine Rolle. Das war so, wie ich war.«
»Wie du warst, nachdem dir Spellberg die Erinnerungen entfernt hatte. Es scheinen bei diesem Eingriff wesentlich mehr Erinnerungen gelöscht zu werden, als man glaubt.«
Hammerstain in Florians Gestalt hob die Achseln. »Alles hängt mit allem zusammen. Oder zumindest vieles mit vielem. Es ist ein Wunder, dass ich mich in diesen Jahren überhaupt noch irgendwie aufrecht gehalten habe.«
»Was wäre passiert, wenn Spellberg mich in seinem Institut auf die Behandlungscouch bekommen hätte?«, fragte der echte Florian und zupfte sich an Hammerstains neuem Kinnbart.
»Du – das heißt ich – wäre als lallender Idiot in einer gemütlichen geschlossenen Anstalt gelandet. Und ich hätte mein restliches Leben damit verbracht, darüber nachzudenken, warum ich mich hier in meinem Leben so schlecht fühle und immer das Gefühl habe, dass ich nicht wirklich in diese Welt hineinpasse. Und irgendwann hätte ich mir eine schöne hohe Stelle gesucht und wäre gesprungen.«
»Das klingt nicht gut. Obwohl ich dir manchmal so einen Sprung gegönnt hätte«, sagte der echte Florian.
»Wir sind verbunden, ob wir das wollen oder nicht. Du bist mein Unterbewusstsein. Und umgekehrt.«
»Mir war seit Langem klar, dass man seinem Unterbewusstsein misstrauen muss. Es hat seinen Grund, warum es unter ist.«
»Das Geheimnis ist das harmonische Miteinander«, behauptete Hammerstain in Florians Gestalt mit ironischem Lächeln.
»Und das von dir.«
»Nun, du hast mir ja die Basis zurückgegeben.«
Hammerstain nahm sich noch einmal das Blatt mit der Tonaufzeichnung vor. Die erste Explosion war durch ein Linienmuster wiedergegeben, das einem schmalen Rechteck glich.
»Was ist, wenn es keine Explosion war?«, fragte er seinen Begleiter, »auf mich wirkt es wie eine Art gezielter Energiestoß. Gibt es irgendwelche Spuren von ihnen?«
»Das Einzige, das geblieben ist, war ein großer, tiefer, rauchender Krater. Ansonsten nichts. Keine Maschinenteile, kein Papierfetzchen. Offiziell haben sie sich mitsamt allen Unterlagen selbst in die Luft gesprengt.«
»Und inoffiziell?«
»Die inoffizielle Variante hältst du in der Hand. Niemand weiß genau, wie er die Phonometerlinien zu lesen hat. Eine Möglichkeit wäre: ein ungeheurer, aber gesteuerter Energiestoß. Und Sekundenbruchteile danach erst die gezündete Explosion.«
»Dann sind Noira und Spellberg möglicherweise doch entkommen. Und keiner weiß, wohin.«
»Ob sie es selbst wissen?«
»Das ist der Punkt. Noira wollte die Fotografie aus einem bestimmten Grund haben – weil sie bewies, dass Zeitreisen schon längst durchgeführt wurden, während sich die Theoretiker noch darüber streiten, ob es überhaupt möglich ist.«
Eine Weile gingen sie überlegend nebeneinander. Dann sagte der falsche Florian – Hammerstain in Florians Gestalt: »Grünwang behauptete, dimensionale Transportation wäre möglich. Was wir beide zur Genüge am eigenen Leibe erfahren haben. Temporale Transgression hielt er für theoretisch und praktisch undurchführbar.«
»Was durch die Fotografie widerlegt wird«, bestätigte der echte Florian in Hammerstains Gestalt, »und außerdem scheint die Fotografie zu beweisen, dass die Zeitreisenden nicht irgendwie, sondern ganz gezielt in einem bestimmten Jahr landen können.«
»Beide Techniken existieren also und sind einsatzbereit. Wenn man sie kombiniert«, überlegte der falsche Florian. In seiner Gestik und in seiner Art zu reden ähnelte er jetzt immer mehr sich selbst – Hammerstain, der neben ihm ging. Es war, als ob die räumliche Nähe schon den Beginn des Tausches einleiten würde.
»Wenn man sie kombiniert, kann man jeden Zeitpunkt jeder Dimension gezielt ansteuern«, zog der echte Florian die Schlussfolgerung.
»Das ist ziemlich beunruhigend. Erinnert mich irgendwie an die wirren Geschichten von den Leuten, die behaupten, sie wären von Außerirdischen entführt worden«, sagte der falsche Florian.
»Du hast die beiden Bücher in meinem Schrank gelesen?«
»Genau genommen war es mein Schrank«, griente der falsche Florian, »aber ja, ich habe. Und ich habe im Datennetz recherchiert. Übrigens keine ganz dämliche Erfindung, obwohl ein wenig nervig.«
»Die Sache mit den Maschinengewehren für die roten Krieger ist aber was anderes, als wenn kleine grüne Männchen Leute in ihren Raumschiffen befummeln.«
Florian fiel die Sache mit Hüttner ein, der über Nacht seine Schuhgröße verändert hatte, und dann erinnerte er sich an den Transistor auf Spellbergs Schreibtisch.
Das hatte er Hammerstain – dem echten Hammerstain – noch nicht berichtet und er holte es jetzt nach.
»Das würde bedeuten«, sagte der echte Hammerstain in Florians Gestalt, »dass die Methoden subtiler geworden sind. Keine Waffen mehr. Dafür nutzt man die Technik des Tauschens.«
»Einen harmlosen Irren gegen einen wildgewordenen Fanatiker.«
»Ja, einen Fanatiker, der es in deiner Welt, oder eigentlich in meiner Welt, nur zum Modeliteraten und Vortragskünstler für gelangweilte Spießer gebracht hat. Aber wenn alles stimmt – die Zeit, die Situation, die Umgebung, dann ist er wie der Zünder an einer Bombe. Und Spellberg baut noch die richtigen Erinnerungen ein und macht den Zünder scharf. Gruselig …«
»Sie steuern also die Geschichte.« Bei diesem Gedanken spürte Florian, wie ihm der Boden unter den Füßen wankte. »Was ist, wenn sie die Geschichte immer wieder ändern? Wenn sie irgendwen vierhundert Jahre zurück gegen einen anderen austauschen? Bekommen wir das überhaupt noch mit? Oder sind wir dann plötzlich verschwunden, weil es uns nie gegeben hat, weil die Geschichte ganz anders lief und meinetwegen meine Vorfahren verhungert sind oder so? Die Vorstellung ist ziemlich schreckenerregend.«
»Du bist doch derjenige, der sich für Philosophie und Religion interessiert«, stichelte Hammerstain, »Grünwang ging von einer Selbststabilisierung des Zeit-Raum-Systems aus, ein weiteres Argument gegen temporale Transgression. Er meinte, man könne auch keine Löcher in eine Wasseroberfläche sprengen.«
»Das kann man mit Sicherheit.«
»Ja, aber nur für Bruchteile von Sekunden, bis sich die Lücke wieder schließt und alles aussieht wie vorher. Genau so würde es mit der Zeit laufen, meinte Grünwang. Aber ich fürchte, da gibt es auch keine sichere Antwort. Außer dass es besser wäre, wenn solche Dinge nicht getan würden. Und du bist sicher, dass du einen Transistor gesehen hast?«
»Bin ich.«
»Dann schnorren sie also auch Technologie. Vielleicht haben sie einen Plan. Vielleicht hat der Baron in seinem weißen Fleck auf der Landkarte einen Plan und sie arbeiten zusammen.«
»Dann können wir nur hoffen, dass sich Noira von Schwarz und Dr. Spellberg erfolgreich atomisiert haben«, erklärte der echte Florian.
»Wo ist die Fotografie jetzt eigentlich?«
»Fräulein Levinsohn hat sie in ihrem Privatabteil im Tresor ihres Bruders untergebracht.«
»Fräulein Levinsohn«, grunzte der falsche Florian, »weißt du eigentlich, dass ich mir eine Ohrfeige eingehandelt habe, als ich ein Mädel Fräulein nannte? Weißt du natürlich nicht. Aber die kleine Narbe an der linken Wange stammt von ihrem Fingernagel, nicht dass du dich wunderst. Das hat vielleicht geklatscht und ich habe Sterne gesehen. Eine bescheuerte Welt ist das, in der du lebst.«
»Scheint dein Interesse an den Mädchen in meiner Welt nicht wirklich gemindert zu haben«, fühlte der echte Florian vor.
»Im Grunde war es ja dein Interesse, aber du bist ja ein Totalversager bei der Verwirklichung deiner eigenen Interessen. Na ja, die Mädchen hier sind nicht schlecht. Allesamt ein bisschen billig – in Groß-Berlin würde keine Nutte so rumlaufen, wie die hier in die Schule gehen. Das ist doch einfach peinlich.«
»In deinem Groß-Berlin ist das peinlich.«
»Egal«, beschloss der falsche Florian die Diskussion, »die Levinsohn würde jedenfalls Schreikrämpfe kriegen, wenn sie sehen könnte, wie die Mädchen hier ihre Unterwäsche vorzeigen. Willst du die Wahrheit wissen? In meiner Welt, ich meine in meiner richtigen Welt, hast du als Mann richtig zu tun, bis dir eine Frau soviel von ihrer Unterwäsche präsentiert. Hier hast du richtig Arbeit, um sie davon abzuhalten, dir ihren Schlüpfer samt bescheuerter Tätowierung auf der Po-Backe unter die Nase zu reiben.«
»Ich merke, du hattest eine richtig harte Zeit«, bemerkte der echte Florian ironisch und zupfte sich an Hammerstains Kinnbart. Das Bärtchen würde er vermissen.
»Na ja, die Levinsohn bin ich jedenfalls los. Sie hat ja jetzt, was sie wollte, die sehe ich nie wieder«, stellte Hammerstain mit Florians Stimme fest. Er bemühte sich, dieser Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben, aber das misslang.
»Sie steht auf dich«, sagte der echte Florian.
»Quatsch, sie hasst mich. Sie braucht mich höchstens als Zielgebiet für ihre Bosheiten.«
»Nein, sie mag dich wirklich«, beharrte der echte Florian, »also eigentlich fährt sie voll auf mich ab, weil ich nämlich nett und höflich zu ihr war. Aber ich denke, sie nimmt auch dich, schließlich hat sie dich drei Jahre lang ertragen. Und irgendwie scheinst du ja früher nicht so ein Ekel gewesen zu sein. Ich meine, eine Frau wie Noira …«
»Wir brauchen nicht alle Erinnerungen zu teilen«, sagte der falsche Florian etwas vergrätzt, »aber tendenziell hast du recht. Tatsächlich, ich glaube, ich war vor der Spellberg-Sache ziemlich anders und sicherlich nicht schlechter.«
Sie waren vor der Schule angekommen. Der falsche Florian deutete mit dem Kopf zum Eingang. »Vorbereitungstreffen für die Oberstufenparty.«
Und der echte Florian spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
»Sag mal, hast du zufälligerweise auch dieses Mädchen da hinten auf deiner Liste gehabt?«, erkundigte er sich bei dem falschen Florian.
»Wen?«
»Die Brünette, die alleine an der Mauer lehnt.«
»Glaubst du, ich hätte einen Hang zu Mauerblümchen und grauen Mäuschen?«, fragte Hammerstain in Florians Gestalt empört.
»Sie ist keine graue Maus. Sie hat wunderschöne braune Augen und außerdem …«
»Hurra, sie kann gucken«, ätzte der falsche Florian und betrachtete sein Gegenüber aufmerksam, »hat sie sonst noch eine Eigenschaft, die sie aus dem weiten Meer der grauen Mäuse hervorhebt?«
»Sie ist … also, ich finde sie … na ja, ich finde sie halt …«
Der falsche Florian schüttelte resignierend den Kopf. »Wenn ich mich ansehe«, sagte er, »sehe ich einen attraktiven, gut gekleideten Herrn, auch wenn Krawattenmuster, Einstecktuch und Hemd nicht so ganz passen. Man merkt, dass ich es nicht wirklich bin. Aber abgesehen davon bin ich zufrieden mit mir. Und dann höre ich so ein Gesülze, sag mal, findest du vorsichtshalber gleich die unattraktivsten Mädchen interessant, nach dem Motto, die können sich eh nicht erlauben, Nein zu sagen?«
»Nein, aber … sie hat was.«
»Und du schaust diesem Schreckgespenst seit der sechsten Klasse hinterher. Ich bin ein Idiot«, erklärte der falsche Florian energisch, »nein, du bist der Idiot, dem Himmel sei Dank. Heute Nacht findet der Tausch statt und ich bin endlich wieder in meiner Welt.«
»Du wirst nichts vermissen?«
»Taschenrechner und Taschenfernsprecher sind ganz gelungen. Aber sonst – Menschen in geschmackloser Kleidung, Autos, die bescheuert aussehen und so tun, als wäre der Fahrer unnötig oder ein Volltrottel, keine Luftschiffe, dafür diese elend heulenden Düsenflugzeuge. Und die Luft schmeckt irgendwie falsch.«
»Die Luft hier ist viel sauberer.«
»Luft soll man atmen und nicht putzen«, grollte der falsche Florian. Er wandte sich zum Gehen. »Ich sollte mich eigentlich bei dir bedanken«, rief er über die Schulter, »was ich hiermit auch tue. Selbst wenn du mich mit einem Loch in der Schultergegend zurückgibst.«
Der echte Florian sah ihm nach – sah sich nach – wie er in der Eingangshalle verschwand. Zögernd wandte er sich zum Gehen und schlenderte zum Park, der sich an das Schulgelände anschloss.