Atlantis Teil 8
Juanita Alameda entstieg dem Kraftwagen und betrat die Vorhalle des De La Rey-Hotels in Kapstadt. Einen Augenblick verweilte sie im Vorbeigehen bei dem Portier.
»In einer halben Stunde wird ein Angestellter des Modehauses Princeton & Williams kommen, um mir eine Auswahl vorzulegen. Lassen Sie ihn in mein Zimmer führen.«
»Sehr wohl, gnädige Frau.«
Eine halbe Stunde später fuhr der Liftboy einen Herrn mit diversen Kartons hinauf und geleitete ihn in Juanitas Wohnzimmer.
»Der Herr von Princeton & Williams!
«
*
Juanita erhob sich vom Schreibtisch.
»Ganz recht. Lassen Sie sehen, was Sie gebracht haben.«
Mit einer tiefen Verbeugung trat der Ankömmling auf die Dame zu. Doch kaum hatte der Liftboy das Zimmer verlassen, als er sich aufrichtete und mit gedämpfter Stimme sagte: »Bitte, meine Gnädigste?«
Juanita trat dicht an ihn heran und flüsterte ihm kaum hörbar das Schlüsselwort zu. Dann trat sie zurück und sprach wieder mit lauter Stimme.
»Bitte, wollen Sie die Stoffe hier auf diesem Tisch ausbreiten …Hier, ja! … Die Farbe ist doch … Ob es mich kleiden wird?«
»Wir können einen kleinen Versuch machen. Vielleicht darf ich Ihnen den Stoff über die Schulter hängen?«
Etwas umständlich bemühte er sich, die Stoffe über der Figur Juanitas zu drapieren. Bald trat er ein paar Schritte zurück, als wolle er die Wirkung besser beurteilen. Bald stand er wieder unmittelbar neben ihr, zog hier und dort eine Falte zurecht und sprach.
Sprach laut wie ein eifriger, pflichtbewußter Verkäufer von Princeton & Williams, wenn er entfernt vor ihr stand, und flüsterte unhörbar, wenn er dicht bei ihr die Stoffe zurechtzog.
Juanita stand, ließ sich behängen und drapieren und schrieb all die Dinge, die ihr zugeflüstert wurden, in ihr Gedächtnis ein wie auf eine Schreibtafel. Machte dazwischen laute Bemerkungen, die auf die Anprobe Bezug hatten.
Bis nach einer halben Stunde der Angestellte von Princeton & Williams die Anprobe für beendet hielt und sich anschickte, seine Kartons zusammenzupacken. Da flüsterte sie noch eine Frage. Ohne besonderen Zusammenhang mit dem bisherigen fragte sie:
»Sind sonst noch Nachrichten?«
Erhielt im gleichen Flüsterton die Antwort: »Jawohl! Unter Chiffre Omega zusenden: Christie Harlessen, zur Zeit als Schulreiterin Kapstadt, Zirkus Briggs.«
»Senden Sie dies selbst weiter!«
Und dann wieder laut: »Lassen Sie das Gewählte hier!«
Sie drückte auf einen Knopf. Der Liftboy erschien. Der Herr von Princeton & Williams empfahl sich mit seinen Kartons.
Als er gegangen war, stand Juanita wohl eine Minute regungslos wie eine Bildsäule. Ihre Fäuste ballten sich. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie raffte sich auf.
Kaltes Blut, Juanita! Erst die Depesche an den Kaiser!
Sie nahm wieder am Schreibtisch Platz und begann, nach dem Gedächtnis niederzuschreiben, was sie gehört, was sie Wort für Wort eingesogen, sich eingeprägt hatte. Und dann lag es vor ihr, und sie begann, das Geschriebene in die Chiffre zu setzen. Ein Telegramm, welches die Unterredung von Anfang bis zu Ende enthielt, die Uhlenkort vor einer Stunde mit dem Staatspräsidenten gehabt hatte … Maßnahmen gegen die wachsende Übermacht des schwarzen Kaiserreiches. Mitteilungen über eine bedeutend zu verstärkende europäische Einwanderung, hauptsächlich entlassene oder noch zu entlassende europäische Soldaten. Machrichten über große Lieferungen von Kriegsmitteln.
Dann nahm sie einen Kristallflakon aus ihrem Toilettenkoffer, goß etwas von seinem Inhalt in ein Glas, legte den Entwurf des Telegramms hinein und wartete, bis das Papier sich in der Flüssigkeit völlig auflöste, zu einem Nichts wurde. Und dann brachte sie das Chiffretelegramm selbst zum Hotelsender.
Auf dem Rückweg rief sie den Portier an.
»Einen Logenplatz für die Zirkusvorstellung heute Abend!«
Sie trat wieder in ihr Zimmer. Ruhelos lief sie auf und ab. Sann und dachte dabei.
Ah! Was kann das sein? Dieser Eisblock! Du glaubtest einmal, er hätte ein Herz … kein Mensch … ein Eisblock … und jetzt … nein … ich werde sehen … und handeln.
*
Klaus Tredrup trat in Uhlenkorts Zimmer.
»Hallo, Bas! Endlich fertig? Eben sah ich Herrn Rasmussen durch die Vorhalle schreiten. Die Mienen des Herrn schienen mir recht bewölkt. Er hat auch am Ende Gründe stärkster Art«, fuhr Tredrup fort, als Uhlenkort nichts erwiderte. »Sitzt da als Leiter der Uhlenkortschen Zinnminen im Aufmarschgelände, fast möchte ich sagen, auf den zukünftigen Schlachtfeldern zwischen Schwarz und Weiß mitten im Hereroland …«
Ein Scherzwort, das auf seinen Lippen schwebte, blieb unausgesprochen, als Walter Uhlenkort sich an seinem Schreibtisch umwandte und Tredrup ein Gesicht sah, auf dem tiefe Abspannung lagerte.
»Genug für heute, Herr Uhlenkort! Genug! Ich bin nur ein freier Vogel, dessen ganze Habe in einem hellen Kopf und zwei gesunden Fäusten besteht. Ich kann mich vielleicht nicht so ganz in Ihre schwierige Lage versetzen. Aber das glaube ich doch, glaube ich sicher, dass es für heute genug ist. Genug der Arbeit und der Sorgen! Suchen wir irgendeine Zerstreuung! Kapstadt ist nicht arm daran.«
»Sie haben recht, Herr Tredrup«, erwiderte Uhlenkort mit einem schwachen Lächeln. »Ich nehme an, dass Sie den Vergnügungsanzeiger eingehend studiert haben, und bitte um Ihre Vorschläge. Ich füge mich allem.
»Lachen Sie oder lachen Sie nicht! Ich schlage vor, wir sehen uns ein Zirkusprogramm an, und zwar ganz, nicht nur teilweise, wie neulich in Timbuktu.«
»Zirkus? Schon wieder Zirkus? Sind Sie ein so großer Verehrer der Zirkuskunst, Herr Tredrup?«
»Offen gestanden, ja. Ich weiß Mut und Kraft zu schätzen, wo immer sie sich zeigen. Die letzten Jahre musste ich mein Leben größtenteils in Weltgegenden verbringen, wo ein Zirkus nicht einmal dem Namen nach bekannt war. Daher lasse ich die Gelegenheiten, etwas Derartiges zu sehen, nur ungern vorübergehen. So las ich die Nachricht, dass der Zirkus Briggs hier gastiert, mit großem Vergnügen.«
»Zirkus Briggs?« Uhlenkort horchte auf. »Briggs?«
»Jawohl, Herr Uhlenkort.«
Uhlenkort hatte seine Brieftasche gezogen und blickte auf das letzte Telegramm des Pinkerton Office.
»Gut! Sehr gut, Herr Tredrup! Gehen wir in den Zirkus. Wie spät ist es?«
»Eben acht Uhr. Wenn wir uns beeilen, werden wir zu Nummer fünf des Programms noch zurechtkommen. Vier Nummern haben wir ja in Timbuktu gesehen.«
»Richtig, Herr Tredrup.« Uhlenkort lachte. »Und dann gingen wir damals zum Obermoser.«
Ein Kraftwagen brachte sie schnell zum Zirkus.
»Sagt’ ich’s nicht?«, rief Trendrup. »Wir treffen es genau. Die fünfte Nummer. Die fliegenden Geschwister am hohen Trapez fangen eben mit ihrem Fliegen an. Gott sei Dank, das Publikum ist hier doch etwas weniger gefärbt. Zwar nach der Galerie zu auch stark melange. Aber das lässt sich ertragen.«
Mit Interesse folgten beide dem tollkühnen Treiben da oben am Zirkushimmel.
»Allerdings ein glänzendes Beispiel von Mut und Kraft«, sagte Uhlenkort, indem er in den allgemeinen Applaus einstimmte.
»Eiserne Nerven gehören dazu. Eine Sekunde zu früh oder zu spät, und es kostet das Genick oder wenigstens die gesunden Glieder.«
»Was ist jetzt auf dem Programm?«
Tredrup hob den Zettel und las.
»Flores de Tejada, aus New York, als Gast. Dressuren der Hohen Schule auf ihrem schottischen Hengst Pompejus. Danach als Parforcereiterin auf ihrer mexikanischen Stute Patty.«
Ein Zucken flog über Uhlenkorts Gesicht. Wenn ihm das Pinkerton Office recht berichtet hatte, musste es Christie Harlessen sein, die sich hinter dem Künstlernamen Flores de Tejada verbarg.
Ein Schweigen der Erwartung war über der Menge. Nur die Klänge der Musik rauschten durch den weiten Zirkusraum.
Da öffnete sich der Vorhang. Von einem Stallmeister geleitet, der den Hengst am Zügel führte, ritt die Künstlerin in die Manege.
Händeklatschen begrüßte sie. In der Tat boten Pferd und Reiterin ein Bild außergewöhnlicher Schönheit. Der edle Bau des Vollbluthengstes erregte die Bewunderung aller Kenner. Die jugendlich graziöse Mädchengestalt in ihrer energischen, kraftbewußten Haltung schien wie verwachsen mit dem edlen Tier.
Uhlenkort riss das Glas an die Augen. Während die Reiterin in der Mitte der Manege hielt und sich nach allen Seiten verneigte, hatte er Gelegenheit, ihre Züge genau zu studieren.
Sie ist’s! Kein Zweifel … die blonden Haare … die blauen Augen … der schmale, rassige Kopf … echter Harlessen-Typ.
Die einsetzende Musik riss ihn aus seinen Gedanken. Die Reiterin trabte an, die Vorführung der Hohen Schule begann.
Je weiter sie gedieh, desto mehr steigerten sich Staunen und Bewunderung. Kein Zögern! Kein Versagen! Mit unübertrefflicher Sicherheit wurden alle Figuren zu Ende geführt.
Stürmischer Beifall belohnte diese Leistung höchster Reitkunst. In der Mitte der Manege hielt die Künstlerin und dankte für den Applaus. Ihr Antlitz strahlte in sieghafter Schönheit.
Der leise konventionelle Zug, den er hinter der strahlenden Freude zu sehen glaubte, ließ ihn schärfer aufmerken. Diese Augen … die blauen. Harlessen-Augen … schienen nicht daran teilzuhaben.
Klaus Tredrup teilte seine Aufmerksamkeit verstohlen zwischen der Manege und seinem Nachbarn. Das außergewöhnliche Interesse, das Herr Uhlenkort in Firma Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne der Schulreiterin da unten zuwandte, gab seiner Neugierde reichlich Stoff.
Ein hübsches Mädel; ohne Zweifel! Sollte er sie von früher her kennen? … Ausgeschlossen! … Sonst hätte er doch nicht die Fotografie zum Vergleich herangezogen.
Weiß der Teufel! Was steckt dahinter? Etwas Besonderes muss es doch sein, sonst würde er seine Teilnahme hier nicht so offenkundig zeigen.
Die Reiterin hatte die Manege verlassen. Ein paar Clowns kugelten über den Sand. Die Stalldiener bauten am Ausgang der Arena eine Hürde auf.
Die Musik brach kurze Zeit ab und ging dann in einen wilden Galopp über. Alle Augen richteten sich gespannt auf den Eingangstunnel.
Und dann … ein buntes Etwas flitzte durch die Manege. Die Füße der Fuchsstute schienen kaum den Erdboden zu berühren.
»Eh! Eh!« Kurz wie ein Peitschenhieb klang es. Wie ein dunkler Schatten huschte es über die Hürde.
Schon sprangen die Stalldiener hinzu und legten zu höherem Sprung die Hürde auf.
Mit fieberhafter Erregung sah das Publikum die Jagd immer schneller, immer wilder vorüberbrausen. Ein Sprung immer höher als der andere … immer höher türmte sich die Hürde.
Die Musik brach ab. Die Stute wendete im leichten Galopp um das Hindernis und verschwand im Tunnel. Todesstille … Mit verhaltenem Atem erwartete das Publikum den letzten, höchsten Sprung.
Da … man hörte das Schnauben des heranstürmenden Pferdes … man vernahm das aufreizende »Eh! Eh!«
Jetzt! Da war sie …
Ein kleiner Rosenstrauß, von voreiliger Hand geschleudert, flog vor den Füßen des Tieres in den Sand. Ein kurzes, kaum merkliches Stutzen des Pferdes … ein sausender Gertenhieb … Das Pferd hob sich zum Sprung – eine Zehntelsekunde zu spät. Die Vorderhufe stießen gegen die Hürde. Krachend brach das Gerüst zusammen. Der Oberkörper der Reiterin schlug nach vorn. Sie überschlug sich … fiel dicht neben dem Pferd zur Erde.
Ein Schrei ging durch das weite Rund. Aufregung, Tumult im ganzen Raum.
Walter Uhlenkort sprang auf und stürmte in die Manege. Stand am Ausgang und wurde von den Bediensteten aufgehalten. Man achtete seiner dringenden Bitten nicht.
»Gedulden Sie sich, Herr! Der Arzt ist bei der Dame. Die Direktion wird sofort Mitteilung geben.«
Kein Protest half. Es blieb ihm nichts übrig, als in der Nähe des Ausganges zu warten.
In der Tat nur wenige Minuten. Am Arm des Direktors trat sie an den Manegenrand. Das stereotype Künstlerinnenlächeln auf dem bleichen Gesicht.
Mit lauter Stimme verkündete der Direktor, dass der Unfall ohne Folgen geblieben sei. Señorita de Tejada werde am folgenden Abend wieder wie gewohnt in der Vorstellung auftreten.
Ein Orkan des Beifalls erfüllte das Haus. Ein Blumenregen fiel in die Manege. Schon sprangen wieder Clowns mit lustigen Sätzen auf den Sand. Nur ein leises Murmeln in den Rängen zeugte von der abebbenden Erregung.
Walter Uhlenkort kehrte langsam in seine Loge zurück. Noch ganz benommen von dem eben Geschehenen, setzte er sich mechanisch auf seinen Platz. Erst nach Minuten bemerkte er, dass der Platz neben ihm leer war.
Wo war Tredrup geblieben?