Tod
Oliver Müller
Tod
Jana Diebert saß auf einem unbequemen Sessel in der Wartehalle des kleinen Flughafens. Wie lange sie hier schon saß, konnte sie nicht sagen. Seit dem Vorfall hatte sie völlig das Gefühl für Zeit verloren. Vor einigen Tagen noch war es ihr vorgekommen, als würde die Zeit dahin rasen, würden die schönen Momente nur so an ihr vorbeirauschen. Jetzt schien es ihr eher, als würde die Zeit stehen, würde sich jede Sekunde zu einer Ewigkeit dehnen, um ihren Schmerz zu verlängern.
Ein Mann im Blaumann trat auf sie zu.
»Frau Diebert?«
Schwerfällig hob sie den Kopf an.
»Ja?«
»Mein Beileid«, sagte er und schüttelte ihre Hand. Dabei bemerkte er, dass ihr Händedruck schlaff und kraftlos war.
»Danke.«
»Ihre Maschine ist bald startklar.«
Bei diesen Worten blickte er hinüber zur Startbahn, wo eine kleine zweimotorige Maschine stand, die ihre beste Zeit wohl schon lange hinter sich hatte.
Genau wie ich auch, dachte Jana Diebert. Dabei sah sie für ihre 48 Jahre noch ziemlich gut aus. Sie war schlank, hatte ein hübsches Gesicht, in dem bis vor Kurzem vor allem kleine Lachfältchen rund um die noch vollen Lippen dominiert hatten, blaue Augen und blonde Haare. Jetzt aber stand nur Trauer in ihren Augen, die jedes Strahlen verloren hatten. Dieses Strahlen, das ihr Mann so geliebt hatte.
Robert …
Der Name ihres Mannes ging ihr immer wieder durch den Kopf. Wer hätte denn auch ahnen können, dass dieser Urlaub ihr letzter sein würde. Sie hatten schon immer hier hin gewollt, nach Nauru, diese kleinste Republik der Welt mit seinen dreizehntausend Einwohnern, die fast niemand kannte. Zur Silberhochzeit hatten sie sich den Traum erfüllt. Jetzt war es ein Alptraum geworden.
»Wollen Sie wirklich mit dieser kleinen Maschine fliegen?«, fragte der dunkelhäutige Mann sie.
»Ja, ich will. Robert soll so schnell wie möglich nach Hause.«
»Aber diese Maschine … sie ist alt und nicht mehr wirklich gut in Schuss. Wollen Sie nicht doch das Schiff nehmen?«
»Nein, das dauert mir zu lange. Robert soll so schnell wie möglich nach Hause«, wiederholte sie.
Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Der Sarg wird gerade eben verladen, in einer halben Stunde kann es dann losgehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Noch einmal schüttelte er ihre kraftlose Hand, dann ging er.
Das Flugzeug würde mit Zwischenlandungen über drei Tage brauchen. Mit dem Schiff würde sie noch bedeutend länger unterwegs sein. Außerdem würde es erst in einigen Tagen am Aiwo Harbour anlegen. Sie wollte sofort zurück nach Deutschland, wo noch niemand Bescheid wusste von Roberts Tod. Beim Gedanken an ihren gemeinsamen Sohn Jan traten ihr Tränen in die Augen. Jan hatte keine Chance gehabt, sich von seinem Vater zu verabschieden. Aber hatte sie diese denn gehabt? Robert war ja völlig unvermittelt zusammengebrochen. Hatte sich nach dem Essen ans Herz gefasst und war innerhalb weniger Minuten gestorben. Jana war unfähig gewesen, etwas für ihn zu tun. Hatte seinen Todeskampf mit ansehen müssen.
»Frau Diebert?«
Sie blickte auf. Vor ihr stand ein Mann in Pilotenmontur.
»Kann es losgehen?«, fragte sie.
»Ja, kommen Sie.«
Zusammen gingen sie zum Flugzeug und stiegen ein. Der Sarg war in den hinteren Bereich gezwängt worden. Das Flugzeug war nur für wenige Personen zugelassen worden. Neben dem Piloten konnten noch zwei Passagiere mitfliegen. Zwei Passagiere … sie und Robert. Nur dass Robert in dieser schweren Stahlkiste lag. Genug Geld für einen richtigen Sarg hatte sie nicht dabei gehabt. Sie musste diese schwere alte Kiste nehmen, die nur von acht Männern gehoben werden konnte.
Sie setzte sich auf den letzten Sitz und sah aus dem Fenster. Der Pilot verschwand in der Kanzel. Kurz darauf setzte die Maschine sich in Bewegung. Langsam, fast schwerfällig. Das dumpfe Brummen der zwei Triebwerke wurde lauter. Die Geschwindigkeit kam Stück für Stück, fast ruckweise. Dann hoben die Räder ab, berührten wieder den Boden, als hätte die Maschine einen Sprung gewagt und war dann von einer großen unsichtbaren Hand wieder zu Boden gedrückt worden. Wieder hoben die Räder ab. Diesmal blieb das Flugzeug in der Luft, schraubte sich dem Himmel entgegen.
Jana versank in düstere Gedanken.
Irgendwann schreckte sie hoch. Etwas war anders. Das Geräusch kam ihr verändert vor.
»Verdammt!«, hörte sie die Stimme des Piloten.
Dann, wie er wohl mit der Hand auf einen Hebel schlug.
»Verflucht!«
Sie erhob sich und ging nach vorne.
»Was ist denn?«
»Frau Diebert!«
Der Pilot wurde aus seiner Konzentration gerissen.
»Gehen Sie wieder nach hinten und schnallen sie sich an.«
»Gibt es Probleme?«
»Ja, verdammt. Die verdammte Kiste hat Aussetzer, das linke Triebwerk macht mir zu schaffen.«
‚Verdammt‘ schien sein Lieblingswort zu sein.
Plötzlich kippte die Maschine leicht nach links weg, richtete sich aber wieder auf.
»Verfluchter Mist.«
»Woran kann es liegen?«, fragte Jana Diebert.
»Ich schätze, dass wir zu schwer sind.«
«Können wir … können wir abstürzen?«
Der Pilot zuckte mit den Schultern.
»Wir sollten auf jeden Fall landen und das so schnell es geht. Hoffentlich hält das Triebwerk noch.«
»Wo können wir denn landen?«
»Wir müssen noch eine gute Viertelstunde durchhalten.«
»Das ist ja nicht lange.«
»Für diese alte Maschine ist das eine kleine Ewigkeit, Frau Diebert.«
Als ob das Flugzeug diese Worte unterstreichen wollte, erstarb das Brummen auf der linken Seite. Das Triebwerk fiel aus und sofort sackte die Maschine weg. Hektisch griff der Pilot nach dem Steuerhebel und riss ihn nach rechts. Gleichzeitig gab er mehr Gas auf das rechte Triebwerk.
»Verdammt! Ich werde die Maschine nicht halten können.«
»Werden … werden wir …«
Jana Diebert konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
»Ja, werden wir, verflucht noch eins. Sprechen Sie ihre Gebete.«
Der Pilot stockte.
»Es sei denn … wir müssen Ballast abwerfen«, sagte er hart.
Jana Diebert begriff erst nach einem Moment, was das heißen sollte.
»Niemals! Niemals werfen Sie Robert hier über dem Meer ab! Denken Sie nicht einmal im Traum daran, es wäre Ihr …«
»Was wäre es? Mein Ende? Das habe ich auch so gleich. Sie müssen es tun! Ich kann das Steuer nicht verlassen.«
»Niemals!«
»Nehmen Sie doch Vernunft an, verflucht! Ich will doch nicht wegen Ihnen hier verrecken!«
»Eher … eher springe ich ab.«
»Verdammt, die Fallschirme!«
»Wo?«
»Hinten, in einem blauen Kasten.«
Jana Diebert lief nach hinten, quetschte sich am Sarg ihres Mannes vorbei bis zu dem blauen Kasten und öffnete ihn.
»Hier ist nur einer!«
»Verdammt!«
»Ich werde springen!«
»Aber …«
»Sie bringen Robert nach Hause. Versprechen Sie mir das?«
Während dieser Worte legte sie den Fallschirm schon an. Zeit, ihn zu überprüfen, hatte sie keine mehr.
»Versprechen Sie es mir?«, rief sie noch einmal.
»Ja.«
»Danke.«
Sie streichelte noch einmal über den Sarg, dann riss sie die Tür auf. Kalter Wind schlug ihr sofort entgegen.
»Wir sehen uns wieder, Robert!«, rief sie. Und sprang in die Tiefe.
Sie waren nicht sehr hoch gewesen. Aber zu hoch, um ohne Schirm zu springen. Jana Dieberts Schirm öffnete sich nicht. Noch in den Hoheitsgewässern der Insel, auf der ihr Mann gestorben war, starb auch sie.
Der Pilot kämpfte mit der Maschine, die seine Befehle kaum noch ausführte. In der Ferne sah er schon den Küstenstreifen der fast unbewohnten Nachbarinsel. Nur ein paar Eingeborene lebten dort.
»Verdammt, ich kann es schaffen, ich kann es schaffen!«
Plötzlich wurde es still.
»Neeeein!«, schrie der Mann auf.
Das rechte Triebwerk hatte seinen Dienst eingestellt. Sofort fiel die Maschine steil ab.
»Ich muss hier raus!«
Er löste seinen Sicherheitsgurt. Vielleicht konnte er es schaffen. Wenn er in der Maschine blieb, würde er mit ihr zerschellen. So hatte er vielleicht noch eine kleine Chance. Immer steiler wurde der Sinkflug. Er musste nach hinten rennen, es ging für ihn bergauf. Nur mühsam kam er voran. Er hatte gerade die offene Tür erreicht, als das Flugzeug endgültig um 90 Grad gekippt war.
»Neeeeeeeeeeeeeeein!«
Mit diesem Schrei auf seinen Lippen zerschellte die Maschine.
Die Maschine war direkt vor der Küste abgestürzt. Man konnte schon im Wasser stehen. Das kleine Flugzeug wurde völlig zerrissen, der Sarg herausgeschleudert in Richtung Strand.
Dunkel … es war dunkel … wo war er nur? Er konnte sich nicht erinnern. Dann tropfte ihm etwas ins Gesicht. Salzig? Ja, es war salzig. Es war für ihn, als würde er diesen Geschmack zum ersten Mal erleben, als würde er zum allerersten Mal in seinem Leben etwas schmecken. Die Zunge klebte in seinem Mund wie ein trockener Klumpen. Wo war er denn bloß? Warum war es so dunkel um ihn herum? War er blind geworden? Und warum konnte er sich kaum bewegen.
Immer noch tropfte Salzwasser auf ihn, traf auf seine aufgerissenen Augen, brannte in ihnen. Er wollte um Hilfe rufen, doch nur ein trockenes, heiseres Krächzen entrang sich seiner Kehle. Seine Sinne erwachten nur langsam, ganz dumpf konnte er etwas hören. Dann Licht! Wie eine Explosion schoss es in seine Augen. Als wollte es ihm das Gehirn verbrennen. Es wurde dunkler, jemand beugte sich über ihn. Er blinzelte das Salz aus den Augen, konnte nur den dunklen Schatten über sich erkennen.
»Der Tote … lebt!«, sagte jemand.
Er wollte etwas sagen, aber nur mühsam brachte er ein Wort zustande. Eine Frage.
»Jana?«