Proszeniumsloge Nr. I
Paul Rosenhayn
Elf Abenteuer des Joe Jenkins
Proszeniumsloge Nr. I
3. November. Liebe Klara!
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, ein Engagement an einem Theater zu finden. Alles überfüllt …
Wer hätte wohl jetzt, während des Krieges, für einen stellungslosen Schauspieler Verwendung! Die Agenten lachen einem ins Gesicht, wenn man von Engagement spricht. Wer so glücklich ist, einen Unterschlupf zu haben, spielt für die geringste Gage. Keine Aussicht. Alles verrammelt.
Ich weiß nicht mehr, was ich anfangen soll. Ich habʼ mir einen Termin gesetzt. Wenn der vorüber ist und sich nichts geändert hat – dann gebe ich Dir Dein Wort zurück. Dann bist Du frei und wirst – das wünsche ich Dir, liebe Klara – einen besseren und glücklicheren Mann finden; … wie Du ihn verdienst …
Dein Kurt.
***
6. November. Mein liebes Mädel!
Heute war ich im letzten Theater, das ich noch nicht abgegrast hatte – bei Direktor Valoni vom Rembrandt-Theater. Er war nicht unhöflich – aber er erklärte mir mit bedauerndem Achselzucken – keine Vakanz! Nicht einmal als Statist kann er jemanden einstellen. Das war das Letzte … Ich warte bis zum fünfzehnten. Dann …
Kurt.
9. November. Liebe Klara!
Fast über Nacht ist eine Wendung eingetreten. Freilich, ich will noch nicht zu optimistisch sein … Denn es ist alles erst im Werden, und was ich vorhabe, liegt fernab von meinem Beruf. Aber Not schärft die Sinne; der Mensch kann manches, wenn er muss.
Durch ein Inserat habe ich einen reichen Herrn kennengelernt. Ich habe ihm eine Idee vorgetragen, die ihm, wie es scheint, außerordentlich eingeleuchtet hat. Die Sache ist die: Es fehlt hier zurzeit an einem Blatt, das sich eingehend mit den lokalen Ereignissen beschäftigt. Die Interessen der großen Blätter werden durch den Krieg fast völlig absorbiert. Mir ist nun der Gedanke gekommen, eine Zeitschrift zu gründen, die in zwangloser Folge die interessanten Ereignisse aus der Stadt berichtet. Mein Geldmann ist begeistert von der Idee. Er will mit mir die Zeitung versuchsweise auf ein Vierteljahr herausgeben. Schlägt sie ein, dann machen wir einen langjährigen Vertrag. Und dann, Schatz …
Die Eröffnungsnummer soll erscheinen, sobald irgendetwas Ungewöhnliches sich ereignet, wodurch man sich geschickt einführen könnte. Aber – willst Du glauben? Es ist wie verhext: Es passiert nichts. Es ist, als ob die Herren Räuber und Mörder und Diebe Rücksicht auf den Kriegszustand nähmen.
Du wirst mir vielleicht nicht recht zutrauen, dass ich diese Arbeit leisten kann? Sei ganz unbesorgt! Schon als ich meine paar Semester Jura studierte, habe ich mir manche Mark Taschengeld durch kleine Artikel verdient. Es wird schon gehen. Nur Stoff … Stoff!
Kurt.
15. November. Liebe Kleine!
Heute haben wir die erste Nummer unserer Zeitschrift herausgegeben. Wir haben sie Die Sensation genannt. Es ist zwar noch nichts Besonderes passiert, was diesen Titel rechtfertigen könnte. Nur ein paar kleine Sensatiönchen. Aber – wir hoffen auf die Zukunft. Anbei die Eröffnungsnummer. Ich bin unermüdlich tätig. Gestern habe ich einen exotischen Diplomaten interviewt, heute Abend war ich in einer Premiere: Gastspiel eines berühmten Wiener Hofburgschauspielers im Rembrandt-Theater, als Romeo.
Im Zwischenakt gelang es mir, den Sohn des Direktors in seinem Theaterbüro aufzusuchen. Ich bat ihn, mich dem berühmten Gast vorzustellen. Er nahm mich bereitwillig unter den Arm und führte mich hinter die Kulissen.
Ich habe ein langes Interview aufgenommen; ich schreibe diesen Brief in der Redaktion, während mein Bericht in Druck geht. Mitten in der Nacht …
Dein Kurt.
16. November. Morgens früh. Liebe Klara!
Wir haben ihn, wir haben ihn!
Den Fall!
Schneller als ich es geahnt habe, ist etwas Unerhörtes geschehen. Der Direktor des Rembrandt-Theaters, Herr Valoni, ist gestern während der Vorstellung in seiner Direktionsloge ermordet worden …
Es tut mir leid – gewiss. Aber ich habe einen fabelhaften Stoff und, was wichtiger ist: Ich bin der Einzige, der in der Lage ist, aus eigener Anschauung Näheres über die Mordsache zu sagen und zu schreiben. Warum – das wirst Du aus dem beiliegenden Artikel der Sensation ersehen. Mein Geldgeber ist mehr als zufrieden.
Kurt.
Extraausgabe der Sensation
vom 16. November.
Rätselhaftes Verbrechen!
Direktor Vamoli vom Rembrandt-Theater
in seiner Proszeniumsloge ermordet!
Ein furchtbares Verbrechen ist gestern Abend in der Zeit zwischen zehn und elf Uhr im Rembrandt-Theater verübt worden. Man gab vor ausverkauftem Hause Romeo und Julia mit Herrn Sch. aus Wien als Gast. Während das Auditorium ergriffen den Vorgängen auf der Bühne lauschte, trug sich in aller Heimlichkeit, unbeachtet und unbemerkt, ein Drama im Zuschauerraum zu, grausiger und erschütternder als die Tragödie auf den Brettern.
Herr Direktor Valoni hatte um acht Uhr pünktlich seine Loge betreten. Er hat die Gewohnheit, sich nicht vorn an die Brüstung, sondern ziemlich tief in den Hintergrund der Loge zu setzen. Da er sich schon seit mehreren Tagen nicht recht wohlfühlte, so hatte er dem Logenschließer Befehl gegeben, seine Anwesenheit zu verschweigen und niemanden in seine Loge einzulassen. Er selbst hat seinen Platz während des ganzen Abends, auch im Zwischenakt, den er sonst manchmal auf der Bühne zubrachte, nicht verlassen.
Herr Direktor Valoni empfing etwa um zehn Uhr in seiner Loge den Besuch seines Sohnes, des Herrn Ernst Valoni, der bis etwa halb elf Uhr, neben seinem Vater sitzend, dem Spiel zugeschaut hat. Dann verließ Herr Valoni junior die Loge und das Theater, um nach Hause zu fahren.
Als um elf Uhr die Vorstellung zu Ende war, fiel es dem Logenschließer auf, dass der alte Herr in der Loge keine Miene machte, sich zu erheben. Auf sein wiederholtes Klopfen erhielt er keine Antwort. Da entschloss er sich endlich, die Tür zu öffnen.
Zögernd trat der Logenschließer ein. Auf einem der rückwärtigen Stühle lag der Pelzmantel des Direktors. Der Logenschließer nahm ihn in die Hände und trat an seinen Herrn heran.
Auch jetzt noch rührte sich der Direktor nicht. Der Hinzutretende sah seinem Chef näher ins Gesicht und fuhr mit einem Aufschrei zurück: Er hatte in das glasige Antlitz eines Toten geblickt. Im nächsten Augenblick machte der Logenschließer eine neue furchtbare Entdeckung. Um den Hals des Toten wand sich, fest geschnürt, eine Schlinge, die im Nacken zusammengedreht war. Ein ruchloser Mörder hatte den Direktor in seiner Loge erdrosselt.
Der Logenschließer erklärt mit Bestimmtheit, dass niemand die Loge betreten habe. Niemand außer Herrn Valoni junior.
Die Loge besitzt ein Kunstschloss, das keiner ohne den dazugearbeiteten Präzisionsschlüssel von außen öffnen kann. Diesen Schlüssel hat außer dem Direktor nur der Logenschließer. Das zweite Exemplar wurde in den Taschen des Ermordeten gefunden.
18. November. Liebe Klara!
Deinen lieben gestrigen Brief habe ich empfangen. Dein Interesse für den Fall Valoni ist begreiflich. Hier also das Neueste in der Angelegenheit.
Der Logenschließer ist verhaftet worden. Das war von vornherein vorauszusehen. Denn schließlich ist er wohl der Einzige, der in Betracht kommt. Eben war ich beim Kommissar, der ihn vernommen hat. Er schüttelte den Kopf. Irgendetwas scheint ihm nicht recht einzuleuchten. Er hat festgestellt, dass der Diener keinerlei Grund zu einem derartigen Verbrechen gehabt hat. Er ist seit sechs Jahren in seiner Stellung. Trotz der schlechten Zeiten hat er, gerade weil er die vornehmsten und teuersten Plätze des Theaters bedient, einen Verdienst, der dem in Friedenszeiten kaum nachsteht. Sein Privatleben ist makellos. Nach Aussage des Sohnes pflegte der Ermordete höchstens ein paar Mark bei sich zu führen. Eine gründliche Haussuchung beim Logenschließer hat nichts Verdächtiges ergeben – vor allem kein Geld. Natürlich will das an sich nicht viel sagen. Ich fragte den Kommissar, ob er auf irgendeinen anderen Verdacht habe. Er machte ein bedenkliches Gesicht, verneinte aber dann. Und bei dieser Gelegenheit, liebe Klara, habe ich etwas getan, worüber ich mir jetzt fast Vorwürfe mache. Es ist in Theaterkreisen bekannt, dass das Verhältnis zwischen Direktor Valoni und seinem Sohn kein besonders gutes war. Im Eifer der Unterhaltung sind mir ein paar Worte darüber entschlüpft. Im nächsten Moment war ich ganz erschrocken und sah ihn an. Da bemerkte ich, dass er stutzig geworden war. Ich habe die Übereilung nach besten Kräften wieder gutzumachen versucht. Ich habe dem Kommissar erklärt, dass ich selbst den Sohn als einen friedfertigen und anständigen Menschen kenne. Nun – hoffentlich ist damit die Sache erledigt. Immerhin: Ich werde in Zukunft meine Zunge im Zaum halten …
Dein Kurt.
***
20. Dezember. Liebe Klara!
Die Ereignisse überstürzen sich. Jeder Tag bringt neue Überraschungen. Heute ist der junge Valoni unter dem dringenden Verdacht, seinen Vater ermordet zu haben, verhaftet worden.
Nachdem der Logenschließer immer wieder seine Unschuld beteuerte, hat man ein paar Zeugen vernommen: seinen Kollegen von den Ranglogen und zwei Garderobenfrauen. Danach ist erwiesen, dass der Logenschließer als Täter nicht infrage kommen kann, denn er ist während des ganzen Abends gewissermaßen unter Aufsicht gewesen. Alle drei Zeugen sagen übereinstimmend aus, dass der Schließer die Proszeniumsloge I während des ganzen Abends nicht betreten hat. Nur ein Einziger außer dem Ermordeten ist in der Loge gewesen: sein Sohn.
Danach kann der Logenschließer als Täter nicht in Betracht kommen und ist auf freien Fuß gesetzt worden.
Nun hat die Behörde einige Mitglieder des Theaters vernommen und mehrere überraschende Feststellungen gemacht. Der Kassierer hat bekundet, dass der junge Valoni der Kasse Summen entnommen hat, die weit über seine Befugnisse hinausgingen. Auch am Mordtag wurde ihm, dem Kassierer, eine Tratte über 15 000 Mark zur Einlösung präsentiert, die der Sohn auf seinen Vater gezogen hatte. Einige Stunden später haben zwei Schauspieler des Theaters, die im Vorzimmer auf den Direktor warteten, einen lauten Wortwechsel aus dem Direktionszimmer vernommen, der von Sekunde zu Sekunde heftiger wurde. Man hörte die Stimmen des alten und des jungen Valoni. Augenscheinlich machte der Vater dem Sohn heftige Vorwürfe. Durch die Tür, die nur angelehnt war, drangen von Zeit zu Zeit Worte und Rufe, die besonders laut hervorgestoßen wurden.
Einer der beiden Schauspieler hörte den Sohn sagen: »Du wirst es mit deiner Knauserigkeit noch so weit treiben, dass etwas passiert, was ich nachher bereue.« Darauf ist der junge Valoni unter allen Zeichen heftigster Erregung durchs Vorzimmer gestürmt, um gleich darauf die Tür wütend hinter sich zuzuschlagen. Die Schauspieler haben angesichts der offenkundigen Verstimmung auf ihre Absicht, um Vorschuss zu bitten, für diesen Tag verzichtet.
Die Sensation geht glänzend. Übermorgen erscheint die neue Nummer. Übrigens ist für morgen meine Vernehmung in der Mordsache angesetzt. Ich werde versuchen, sie in die Nummer von übermorgen noch hineinzubringen. Gute Nacht.
Kurt.
Die Sensation vom 22. November.
Der Fall Valoni.
Der eigene Sohn unter Mordverdacht verhaftet!
Die Affäre des ermordeten Theaterdirektors Valoni gestaltet sich immer rätselhafter. Vorgestern fand auf dem Kommissariat die Vernehmung einiger Personen statt, die an dem Mordabend den jungen Valoni gesehen und gesprochen haben. Unser Referent, Herr Kurt Harsfeld, gibt in Nachstehendem eine lebendige Schilderung der Vernehmungen, wie sie sich in ihrem Gesamtbild darstellen. Herr Harsfeld ist hierzu um so mehr in der Lage, als er selbst als Zeuge in dieser Tragödie vernommen worden ist und die Ereignisse zum Teil miterlebt hat. Als erster Zeuge war der junge Ernst Valoni geladen. Der hochgewachsene, schlanke junge Lebemann, dessen hübsches Gesicht und dessen liebenswürdige Manieren schon manchem biederen Ehemann unserer Stadt schlaflose Nächte bereitet haben – man erinnert sich der Affäre der Frau v. N. vor zwei Jahren -, sah ernst und bleich aus, als er das Verhörzimmer betrat.
Der Kommissar: »Herr Valoni – ich habe Sie kommen lassen, um von Ihnen einiges zu erfahren, was Sie an dem Mordabend gesehen und gehört haben.«
Valoni: »Herr Kommissar, ich kann in der Sache so gut wie nichts aussagen.«
Der Kommissar (erstaunt): »Und warum nichts …?«
Valoni: »Weil ich das Theater bereits um halb zehn verlassen habe.«
Der Kommissar: »Und wo waren Sie in dieser Zeit?«
Valoni: »Ich bin zu meiner Geliebten gefahren.«
Der Kommissar: »Wer ist Ihre Geliebte?«
Valoni: »Fräulein M., die Soubrette vom Stadttheater.«
Der Kommissar: »Ah – Sie waren also die Zeit über mit Ihrer Geliebten zusammen, und die Dame kann dies bezeugen?«
Valoni (zögernd): »Nein …«
Der Kommissar: »Geben Sie es nur zu … Sie können sie nicht zu Hause angetroffen haben. Denn sie hat an diesem Abend von acht bis elf Uhr im Stadttheater gespielt. Sie hat das Theater während dieser Zeit nicht verlassen. Was haben Sie darauf zu erwidern?«
Valoni: »Es ist richtig … Ich habe Fräulein M. nicht zu Hause angetroffen.«
Der Kommissar: »Und wussten Sie nicht von vornherein, dass sie an diesem Abend zu spielen hatte?«
Valoni: »Ja, ich wusste es. Indessen … ich hatte Gründe, anzunehmen, dass sie an dem betreffenden Abend absagen würde.«
Der Kommissar: »Hatte Fräulein M. eine derartige Absicht ausgesprochen?«
Valoni: »Nein!«
Der Kommissar (lächelnd): »Dann werden Sie nicht umhin können, mir die Gründe für Ihre Annahme, Fräulein M. würde an diesem Abend absagen, zu nennen.«
Valoni (stockend): »Wenn ich es denn sagen muss … ich glaubte Grund zur Eifersucht zu haben. Ich habe an jenem Abend die Villa Fräulein M.s beobachtet.«
Der Kommissar: »Hm … Hat Fräulein M. je Anlass zur Eifersucht gegeben?«
Valoni: »Nein, aber …«
Der Kommissar: »Was aber …?«
Valoni: »An jenem Abend wurde ich telefonisch angerufen, und jemand teilte mir mit, dass Fräulein M. in ihrer Villa einen Herrenbesuch erwarte.«
Der Kommissar: »Wer hat Ihnen dies mitgeteilt?«
Valoni: »Ich weiß es nicht. Eine unbekannte männliche Stimme.«
Der Kommissar: »Um welche Zeit fand dieser telefonische Anruf statt?«
Valoni: »Kurz nach 9 Uhr.«
Der Kommissar: »Im Theaterbüro?«
Valoni: »Ja!«
Der Kommissar: »Hm … Eins stimmt an Ihren Angaben: Sie haben in der Tat das Theater um halb 10 Uhr verlassen. Herr Harsfeld, der Referent von der Sensation, hat es bezeugt. Er hat Sie im Theaterbüro aufgesucht und einige Worte mit Ihnen gesprochen. Dann hat Herr Harsfeld in Ihrer Gegenwart den Gast aus Wien interviewt. Darauf erklärten Sie, etwa um halb 10, Sie hätten keine Zeit mehr. Herr Harsfeld hat Sie darauf vor die Tür begleitet und Sie haben Ihr Auto bestiegen, um in der Richtung nach dem Westen abzufahren.«
Valoni: »Ja. Das stimmt.«
Der Kommissar: »Wo liegt die Villa Ihrer Geliebten?«
Valoni: »In der Kirschenallee.«
Der Kommissar: »Kann Ihr Chauffeur bezeugen, dass Sie dorthin gefahren sind?«
Valoni: »Ich habe selbst gesteuert.«
Der Kommissar: »Hm. Sie sind also nach der – Kirschenallee gefahren. Was hat sich weiter ereignet?«
Valoni: »Ich habe das Auto in dem kleinen Wäldchen hinter der Kirschenallee verlassen, bin die kurze Straße zu Fuß hinuntergegangen und habe mich in den Schatten der Häuser gestellt, die dem Haus meiner Geliebten gegenüberliegen. Dort habe ich etwa zwei Stunden gestanden.«
Der Kommissar: »Haben Sie irgendetwas entdeckt, was Ihren Verdacht rechtfertigte?«
Valoni: »Nein. Nicht das Geringste.«
Der Kommissar: »Sie sagen, Sie haben dort zwei Stunden lang auf Ihrem Posten gestanden. Was taten Sie dann?«
Valoni: »Dann bin ich zum Auto zurückgekehrt und bin zu meiner Wohnung gefahren.«
Der Kommissar: »Das Auto hat also zwei Stunden lang auf der Straße gestanden. Es ist ein wenig auffallend, dass niemand dieses Auto gesehen hat!«
Valoni: »Das Wäldchen, in dessen Schatten ich das Auto gesteuert habe, ist nur von zwei Villen flankiert. Es ist kein Wunder, wenn mich niemand gesehen hat, ja – es war meine Absicht, nicht gesehen zu werden. Darum habe ich auch die Laternen gelöscht.«
Der Kommissar: »In der Tat, sehr vorsichtig! … Wann sind Sie in Ihrer Wohnung angelangt?«
Valoni: »Es mag Mitternacht gewesen sein. Mein Diener empfing mich mit der furchtbaren Nachricht, mein Vater sei ermordet worden.«
Der Kommissar stand auf. »Herr Valoni«, sagte er ernst, »Ihren Angaben stehen die Aussagen von sechs einwandfreien Zeugen gegenüber, die das Entgegengesetzte bekundeten. Um halb 10 Uhr haben Sie das Theater verlassen. Das stimmt. Was Sie uns weiter gesagt haben, ist durch Zeugenaussagen widerlegt. Denn – um 10 Uhr haben Sie das Theater wieder betreten.«
In diesem Augenblick sprang Valoni auf, totenbleich und zitternd. »Herr Kommissar,« stieß er mühsam hervor, »das ist nicht wahr. Ich habe das Theater um halb zehn verlassen und bin nicht mehr zurückgekehrt.«
»Sie sind im Übrigen auch von sämtlichen Schauspielern auf der Bühne gesehen worden, als Sie, neben Ihrem Vater, im Hintergrund der Loge saßen und dem Spiel folgten.«
»Ich war es nicht.«
»Endlich muss ich Sie noch auf einen besonders gravierenden Punkt aufmerksam machen. Der Ermordete saß noch nach seinem Tod in friedlicher Haltung in seinem Sessel, das Gesicht der Bühne zugewandt. Ein Beweis, dass der Eingetretene, der etwa eine halbe Stunde neben ihm gesessen hat, ihm genau bekannt gewesen ist. Dass aber dieser zugleich der Mörder ist, unterliegt keinem Zweifel.«
»Ich war es nicht«
»Herr Valoni – ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht, Ihren Vater ermordet zu haben.«
Die Kunde von der Verhaftung verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Das Publikum, dessen Erregung täglich wächst, hat sich in zwei Gruppen gespaltet: Die eine schwört darauf, dass Ernst Valoni der Mörder sei, die andere ist überzeugt, dass Valoni unter keinen Umständen die Tat begangen haben könne. Wir werden unparteiisch und objektiv über den weiteren Verlauf dieser sensationellen Affäre berichten.
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24. November. Liebe Klara!
Die Sensation geht glänzend. Heute haben wir allein im Straßenverkauf 1000 Exemplare abgesetzt.
In der Sache Valoni nichts Neues. Höchstens wäre zu vermelden, dass die Stimmen, die für seine Unschuld eintreten, sich stark mehren. Selbst auf der Polizei hörte ich vor einigen Tagen die Ansicht vertreten, dass Valoni junior unschuldig sei. Übrigens soll Valoni den bekannten Detektiv Mr. Joe Jenkins, der zurzeit in Deutschland weilt, mit seiner Sache betraut haben.
Viele Grüße Kurt.
30. November. Liebe Klara!
Gestern habe ich eine interessante Bekanntschaft gemacht. Nach längerer Zeit war ich zum ersten Mal wieder im Rembrandt-Theater, das unter neuer Direktion wieder eröffnet worden ist. Im Foyer fiel mir ein hochgewachsener, breitschultriger Herr auf, in dem glattrasierten Gesicht mit dem breiten Kinn ein Paar kühle, graue Augen, die ruhig forschend die Menschen und die Dinge zu durchdringen schienen. Ich erkundigte mich nach ihm, und man sagte mir, es sei Mr. Joe Jenkins, der berühmte amerikanische Detektiv. Durch den Dramaturgen des Theaters wurde ich ihm nachher vorgestellt. Er kannte meinen Namen. Er hatte meine Berichte in der Sensation gelesen, und er beglückwünschte mich zu meinen, wie er sagte, scharfsinnigen und sachverständigen Beobachtungen, die ihn sehr gefesselt hätten. Er ist ein höflicher und angenehmer Mensch mit den Allüren eines Mannes, der die ganze Welt gesehen hat. Er hat mich übrigens aufgefordert, ihn in seinen Recherchen zu unterstützen. Natürlich habe ich zugesagt. In der nächsten Nummer der Sensation werden wir das Bild von Mr. Joe Jenkins bringen.
Dein Kurt.
5. Dezember. Liebe Klara!
Mit Joe Jenkins habe ich mich fast angefreundet. Gestern hat er mir einen Beweis gegeben, wie er arbeitet. Er holte mich um 10 Uhr früh aus der Redaktion ab, um mit mir aufs Hauptpostamt zu fahren. Denke Dir, hier hat er Folgendes festgestellt: Der junge Valoni ist in der Tat am Mordabend antelefoniert worden, in seinem Büro im Theater, und zwar um 9 Uhr zehn Minuten. Der Anruf ist von einer öffentlichen Fernsprechstelle aus erfolgt – die Gespräche werden bekanntlich registriert wegen der Kontrolle über die Gebühren. Und nun kommt das Merkwürdige. Weißt Du, von wo der Anruf erfolgt ist? Aus dem Foyer des Rembrandt-Theaters. Ist das nicht unglaublich? Und nebenbei furchtbar unvorsichtig? Diese Entdeckung kann übrigens zu zwei verschiedenen Schlüssen führen: entweder, Valoni ist unschuldig und es handelt sich in der Tat um einen anderen, der telefoniert hat, um Valoni aus dem Theater fortzulocken – oder aber dieser Anruf war bestellte Arbeit. Valoni hat die Recherchen nach diesem Anruf vorausgesehen, und der Anrufende war ein Helfershelfer Valonis. Jenkins ist fieberhaft damit beschäftigt, den Betreffenden, der vom Theater ins Theaterbüro telefoniert hat, zu ermitteln.
Gruß Kurt.
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8. Dezember. Liebe Klara!
Joe Jenkins hat eine neue Entdeckung gemacht. Sie sieht unwichtig aus, kann aber unter Umständen der ganzen Angelegenheit eine entscheidende Wendung geben. Valoni junior hat das Theater im Pelzmantel verlassen und ist im Ulster zurückgekehrt. Das Merkwürdigste dabei ist: Dieser Ulster, ein hellgelber, langer Raglan, ist nach Aussage Valonis seit der Mordnacht unauffindbar verschwunden. Der Logenschließer, die Garderobenfrauen und auch der Portier erinnern sich ganz genau, dass Ernst Valoni im Ulster war, als er zurückkehrte. Die hellgelbe Farbe musste jedem auffallen. Der Logenschließer weiß es speziell um so genauer, als der Ulster das charakteristische Parfüm ausströmte, das der junge Valoni benutzte: Orchidee. Und – die Proszeniumsloge Nr. I weist noch heute einen leisen Duft von Orchidee auf … Merkwürdig, nicht?
Kurt.
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12. Dezember. Liebe Klara!
Joe Jenkins verwöhnt mich ein bisschen mit seiner Freundschaft – ja, um die Wahrheit zu sagen, er fällt mir manchmal ein wenig auf die Nerven. Der berühmte Detektiv scheint mich außerordentlich ins Herz geschlossen zu haben – was ja an sich sehr schmeichelhaft ist -, leider aber drückt er diese Freundschaftsgefühle dadurch aus, dass er mich zu allen möglichen und unmöglichen Tageszeiten förmlich überfällt. Neulich kommt er um 7 Uhr früh bei mir an. Ich denke wunder, was geschehen ist! Und was will er schließlich? Er fragt mich nur, ob ich die Entgleisung bemerkt hätte, die dem berühmten Gast aus Wien neulich in der Romeo und Julia-Vorstellung passiert wäre. Weißt Du, am Mordabend!
»Haben Sie bemerkt«, fragte er, »wie anscheinend die Mordstimmung schon in der Luft gelegen haben muss?« Als ich ihn erstaunt ansah, fuhr er fort: »Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass der Gast aus Wien in der Kapellenszene im letzten Akt seinen Auftritt versäumt hat? Die Bühne ist etwa eine halbe Minute leer geblieben, dann ist der Gast eilends hervorgestürzt. Haben Sie das nicht bemerkt?«
»Selbstverständlich«, sagte ich, »wie sollte ich das nicht bemerkt haben.« Da fing Jenkins plötzlich aus vollem Hals an zu lachen und sagte: »Etsch – hereingefallen! … Ist ja alles nicht wahr!« Für einen Detektiv ein etwas kindlicher Scherz, nicht?
Ein weiterer Scherz von Jenkins. Vor einigen Tagen komme ich abends um zwölf nach Hause. Meine Wirtin ist noch wach. Sie berichtet mir, um 10 Uhr sei Mr. Jenkins dagewesen und hätte behauptet, ich habe ihm meinen Frack versprochen. Nun muss ich hierzu bemerken: Ich besitze gar keinen Frack. Meine Wirtin teilt ihm dies mit – aber er lässt sich nicht abschrecken.
Er ruhte nicht eher, bis meine Wirtin in seiner Gegenwart meinen Schrank öffnete und ihm die vorhandenen Kleidungsstücke zeigte. Da war er beruhigt. Als ich Jenkins am anderen Morgen darüber zur Rede stelle, will er sich halb totlachen und erklärte, das Ganze sei nichts als ein Scherz gewesen. Sonderbare Scherze!
Manchmal ist er wieder sehr liebenswürdig und angenehm. Gestern Abend kommt er um 9 Uhr mit einer Flasche Punsch bei mir an und lädt mich ein, mit ihm ein Gläschen zu trinken. Darauf geht er an den Ofen, kratzt sachkundig die Asche heraus, macht ein Feuer an, und bald sitzen wir bei einem Glas Burgunderpunsch. Nach langer Zeit habe ich zum ersten Mal wieder richtig gekneipt. Jenkins ist ein entzückender Zechkumpan, und wir haben über alles Mögliche geplaudert. An das Meiste kann ich mich nicht mehr so recht erinnern – Du begreifst, warum – ich weiß nur noch, dass wir von Dir gesprochen haben. Ich habe ihm auch Dein Bild gezeigt, und er lässt Dich herzlich grüßen.
Wir mochten etwa beim fünften Glas angelangt sein, da lehnte sich Jenkins plötzlich in seinem Stuhl zurück, blickte nachdenklich zur Decke und sagte: »Wir werden einige Überraschungen erleben, Mr. Harsfeld. In den nächsten Tagen!«
Ich sah ihn lächelnd an. »Sprechen Sie von der Mordsache?«
Er nickt.
»So halten Sie Valoni nicht für den Täter?«, frage ich.
»Nein«, sagt er.
»Und sind Sie dem wirklichen Mörder auf der Spur?«
»Ja!«
Du kannst Dir denken, wie neugierig ich war, aber ich hielt es für taktlos zu fragen – was übrigens bei Joe Jenkins auch keinen Zweck haben würde.
Herzlichen Gruß Kurt.
***
17. Dezember. Liebe Klara!
Heute kam Jenkins zu mir auf die Redaktion.
»Halten Sie sich bereit,« sagte er, »morgen werden wir ihn haben.«
»Wen?«, frage ich.
»Den Mörder.«
»Wirklich?«
»Morgen Mittag um 12 Uhr.«
»Wo?«
»Im Café Sirius. Kommen Sie mit!«
»So soll ich dabei sein?«
»Ja. Sie haben mich bisher unterstützt. Sie sollen auch das mit erleben. Überdies gibt das einen vortrefflichen Artikel für die Sensation. Also halten Sie sich bereit. Ich hole Sie morgen Mittag dreiviertel zwölf aus Ihrer Wohnung ab.«
Du kannst Dir denken, wie ich gespannt bin. Ich schreibe Dir morgen ausführlich.
Gruß Kurt.
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18. Dezember. Liebe Klara!
Es ist Vormittag. Ich bin in einer ungeheuren Erregung. Um dreiviertel zwölf will Jenkins kommen und mich an die Stelle führen, wo er den Mörder festnehmen wird. Was werde ich sehen? Wer wird es sein? Um meine Erregung ein wenig abzuleiten – eben höre ich Jenkins kommen.
(Eine Stunde später.)
Mein lieber Schatz … es heißt, Abschied nehmen. Ich habe das Spiel verloren. Verzeih mir, wenn Du kannst, und denke: Ich habe es Deinetwegen getan.
Draußen vor meiner Tür geht Joe Jenkins auf und ab. Ich höre seine regelmäßigen Schritte wie die eines Gefangenwärters. Er hat sein Versprechen erfüllt … Er hat mir den Mörder gezeigt. Die Uhr schlug zwölf. Ich sah Jenkins verwundert an – hatte er mir nicht gesagt …
»Sie wollten mir um Uhr den Mörder zeigen, Mr. Jenkins«, begann ich.
»Ich bin eben im Begriff, es zu tun«, erwidert er.
»Also – wer ist es?«, fragte ich beklommen.
Da tritt Jenkins einen Schritt auf mich zu, legt mir die Hand auf die Schulter und sagt: »Sie, Herr Harsfeld!«
Und – er hat recht. Ich bin es gewesen.
Ich habe vom Foyer aus an den jungen Valoni telefoniert, um ihn aus dem Haus zu locken. Als er fort war, bin ich durch den Hofeingang in seine Garderobe gegangen, habe mir seine Maske angeschminkt und habe seinen Ulster angezogen, der im Kleiderschrank hing. Nachdem ich mich so in den jungen Valoni verwandelt hatte, bin ich durch das Theater gegangen und habe mich in die Loge gesetzt, neben den alten Valoni. Auch er hielt mich für seinen Sohn. Er hat nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen – dank dem Zerwürfnis, das zwischen Vater und Sohn bestand. Dann habe ich den Alten erdrosselt. Es ging schnell …
Du wirst Dich entsetzt fragen, warum? Ich kann Dir nur die eine Antwort geben: aus Ehrgeiz, aus alles verzehrendem, wahnwitzigem Ehrgeiz. Ich suchte den großen Stoff, die große Sensation, die mich und meine Zeitung mit einem Schlag in den Brennpunkt des allgemeinen Interesses werfen sollte.
Jenkins, der Menschenkenner hat von vornherein Verdacht auf mich gehabt. Jetzt verstehe ich auch seine Scherze: der leise Orchideenduft, den er in meinem Kleiderschrank gesucht und gefunden hat, mag seinen Verdacht bestätigt haben. Gewiss, der Ulster selbst war nicht mehr da. Jenkins hat in meinem Ofen nach seinen Resten gesucht, und er hat zwei Knöpfe gefunden, die ihm seinen Weg weiter gewiesen haben.
Es war ein Experiment. Es ist gelungen – aber ich – ich zahle dafür einen hohen Treis: mein Leben.
Trotz alledem: Jenkins ist ein Gentleman. Er hat mir großmütig freigestellt, Dir diese Zeilen zu schreiben. Und er hat mir meinen Revolver gelassen …
Punkt halb zwei wird Mr. Jenkins hereinkommen. Eben holt die Kirchturmuhr zum Schlage aus.
Lebe wohl. Verzeihe Deinem Kurt.
Nachschrift
Eben ist der Schuss gefallen …
Ich übermittle Ihnen den Brief des Toten, seine Uhr und sein Bild. Ich will dafür sorgen, dass sein Andenken ohne Schatten bleibt. Niemand soll erfahren, warum er starb.
Verzeihen Sie auch mir. Aber ich tat meine Pflicht.
Gott weiß es, wie schwer sie mit geworden ist.
Joe Jenkins.