Wenn die Toten wiederkehren
Paul Rosenhayn
Elf Abenteuer des Joe Jenkins
Wenn die Toten wiederkehren
Der Kellner stellte die umfangreiche Platte mit dem ersten Frühstück vor dem Gast von Nummer 45 nieder, der soeben im Frühstücksraum erschienen war, und empfahl sich mit einer Verbeugung. Von der Tür aus warf er noch einen schnellen Blick, in dem ein seltsames Gemisch von Respekt und Neugierde zu lesen war, auf den Fremden und verschwand geräuschlos durch die Glastür.
Es war 11 Uhr vormittags. Der Hotelraum war um diese Stunde schon ziemlich leer. Unter dem dunkelgrünen Laub der Palmen leuchteten die kleinen Tischchen mit den hellen Korbsesseln vornehm-reserviert hervor. Nur hier und da räkelte sich noch ein Spätaufsteher bei der Morgenzeitung. Während der Gast mit sichtlichem Appetit einen Teller Porridge leerte, winkte er mit den Augen einen der Kellner heran, die von Zeit zu Zeit durch die Halle glitten, und drückte ihm ein Geldstück in die Hand. »Holen Sie mir die neuen Zeitungen.«
Der Befrackte kam nach einer Weile zurück, in der Hand ein Paket Morgenblätter, die er in dem kleinen Kiosk gekauft haben mochte, der den Abschluss des Hoteleingangs bildete. Er legte den Stoß auf den Tisch und fasste in die Tasche.
»Es ist gut«, sagte der Gast mit einer verabschiedenden Handbewegung.
Der Gast entfaltete eben die Oberste der Zeitungen, als im Rahmen der Tür der Hoteldirektor auf seinem Inspektionsgang auftauchte. Er erblickte den lesenden Gast, ging mit diskreten Schritten auf ihn zu und begrüßte ihn mit einer Verbeugung. »Guten Tag, Mr. Jenkins«, sagte er in höflichem Ton. »Es freut mich, dass es Ihnen bei uns in Berlin so gut gefällt. Ich habe eigentlich schon von Tag zu Tag gefürchtet, Sie würden abreisen. Nachdem Sie Ihre diplomatische Mission — ich habe darüber gelesen — in einer Weise erledigt haben, wie sie in der ganzen Welt eben nur Mr. Joe Jenkins erledigen konnte.«
Der Detektiv lächelte. »Ich will Ihnen gestehen, Direktor, ich bin nicht ganz freiwillig hier. Vorgestern wollte ich abreisen. Da bekam ich mittags ein Telegramm von meinem Schiffsagenten in Rothenburg, worin er mir anzeigte, im Skagerrak sei ein schwedisches Schiff auf eine treibende Mine aufgelaufen und in die Luft geflogen. Nun — ich habe wirklich nicht viel Lust, ein derartiges Risiko zu laufen. Ich glaube, es wäre ein bisschen schade … Die Herren Verbrecher brauchen mich viel zu nötig …«
Mr Jenkins griff, nachdem sich der Direktor entfernt hatte, wieder nach seinen Zeitungen und war bald in die neuesten Kriegstelegramme vertieft. Nachdem er die eine gewissenhaft bis zum Ende gelesen hatte, faltete er sie sorgfältig zusammen und griff nach der Zweiten. Eben wollte er auch diese fortlegen, da sie ihm nichts Neues zu enthalten schien, als sein Blick auf eine Notiz im lokalen Teil fiel, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Die Notiz lautete: Ein seltsamer Vorfall.
In einer hiesigen angesehenen Familie hat sich gestern ein mysteriöses Ereignis zugetragen. Bei der Frau Regierungsrat F. am …platz, deren Gatte seit Beginn des Krieges als Hauptmann im Feld steht, erschien gestern Nachmittag, etwa um 5 Uhr, ein hiesiger Arzt. Er erklärte der erstaunten Dame, vor einer Viertelstunde sei bei ihm ein Offizier gewesen und habe ihn aufgefordert, zu Frau Regierungsrat F. zu fahren, denn diese Dame leide seit heute früh um 9 Uhr an starken Asthmaanfällen. Der Offizier habe ihn weiter gebeten, möglichst ein geeignetes Mittel gleich mitzubringen, ein Ansuchen, dem der Arzt entsprochen hatte.
Die Dame war im höchsten Grade verwundert; kannte sie doch weder diesen Arzt noch den Offizier. Das Seltsame aber war, dass die Angaben des fremden Offiziers hinsichtlich ihrer asthmatischen Anfälle richtig waren. Von einer unerklärlichen Furcht ergriffen, forschte die Dame, wie denn der Offizier ausgesehen habe? Der Arzt gab nunmehr eine Beschreibung des rätselhaften Besuchers: Er habe einen dunklen Schnurrbart und leicht ergrautes Haar gehabt, sei von großer Gestalt gewesen und habe ein kleines Muttermal unter dem rechten Auge gehabt. An der linken Schläfe sei ein kreisrunder, roter Fleck zu sehen gewesen, der fast wie von einer Schusswunde herrührend ausgesehen habe. Frau Regierungsrat F. erkannte aus dieser Beschreibung zu ihrer grenzenlosen Bestürzung ihren Mann, der im Feld stand und von dem sie erst gestern früh einen Brief aus … erhalten habe. Bis auf die rote Stelle in der linken Schläfe passten die Angaben genau … Der Arzt händigte der Dame sein Mittel aus und empfahl sich … Und nun kommt das Unbegreifliche: Gestern Abend um 9 Uhr lief bei der Dame ein Telegramm ein, ihr Gatte sei gestern früh 10 Uhr durch einen Schuss in die linke Schläfe getötet worden …
Die Dame ist durch den rätselhaften Vorfall derart erschüttert worden, dass sie sich in ein Sanatorium begeben musste.
Joe Jenkins las diesen Artikel zweimal aufmerksam durch, schüttelte während des Lesens mehrere Male den Kopf und versank in längeres Nachdenken. Dann ließ er sich Hut und Überzieher bringen, verließ das Hotel, rief ein Auto und nannte dem Chauffeur die Adresse der Redaktion des Blattes.
Es mochte gegen 2 Uhr mittags sein, als sich ein Mr. James Mac Donald beim Chefarzt des Racotschen Sanatoriums melden ließ.
Der Besuch wurde in ein ruhig und vornehm ausgestattetes Sprechzimmer geführt, das auf einen alten, schönen Park hinausblickte. Der Fremde sah sich aufmerksam in dem Raum un, dessen einzelne Gegenstände ausnahmslos Zeugnis von einem gediegenen und kultivierten Geschmack ablegten, als sich die Tür öffnete. Der Eintretende war ein untersetzter Herr mit raschen, energischen Bewegungen. Durch die Brillengläser drang ein kurzer, prüfender Blick aus zwei klugen Augen auf den Besucher. Eine kurze, einladende Handbewegung, die auf einen Sessel deutete, dann setzte sich der Professor nieder und sah dem anderen fragend ins Gesicht.
»Herr Professor«, begann dieser, »um Ihnen gleich die Wahrheit zu sagen: Ich bin kein Patient, und ich wünsche Sie nicht zu konsultieren. Es ist lediglich die Bitte um eine Auskunft, die mich zu Ihnen führt. Ich bin Mitglied eines spiritistischen Vereins in Philadelphia, und ich komme, um mich über einen Fall näher zu informieren, der mich außerordentlich interessiert.«
»Nun«, unterbrach der Chefarzt, »Sie kommen vermutlich in der Angelegenheit der Frau Regierungsrat Forsting.«
»Ganz richtig. Und, wie gesagt, ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir einiges Nähere über diesen interessanten Fall mitteilen würden.«
»Ja«, begann Professor Racot, »die Geschichte ist in der Tat sehr merkwürdig. Ich würde sie vielleicht ins Reich der Legende verweisen, wenn nicht mein eigener Assistenzarzt sie miterlebt hätte. Sie haben wohl gelesen, dass Dr. Loy gestern Abend den Besuch eines Offiziers erhielt, der ihn ersuchte, Frau Regierungsrat Forsting zu Hilfe zu eilen.«
»In der Tat. Ich habe es gelesen, also, Herr Dr. Loy …?«
»Ist mein Assistent. Er unterhält in seiner Privatwohnung eine kleine Praxis und ist tagsüber in meinem Sanatorium beschäftigt.«
»Und haben Sie, Herr Professor, sich irgendeine Erklärung für das Vorkommnis gebildet?«
Der Chefarzt sah den Fragenden mit einem prüfenden Blick an und sagte dann reserviert: »Nein. Ich bedaure, darüber nicht das Geringste sagen zu können. Jedenfalls, das eine kann ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: Frau Forsting ist krank, ernstlich krank … Sie werden begreifen, Mr. Mac Donald … ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen … es handelt sich um das ärztliche Berufsgeheimnis … ich muss bedauern, keinen Anlass zu haben, Ihnen gegenüber von meiner Schweigepflicht abzugehen.«
Der Amerikaner stand auf. Er sah den Arzt mit einem ruhigen Blick an, zwei Augenpaare schienen sich einen Augenblick zu messen, dann sagte der Amerikaner langsam: »Mein Name ist Joe Jenkins.«
Der Professor fasste sich an die Stirn. »Darum kamen Sie mir gleich so bekannt vor. Ich habe Ihr Bild vor einigen Tagen in einem illustrierten Journal gesehen, Mr. Jenkins, kurz nach Ihrer Aufdeckung des Dokumentendiebstahls. Ich freue mich, den berühmten amerikanischen Detektiv in meinem Haus zu sehen. Nun, da Sie ja gewissermaßen zur Polizei gehören, will ich Ihnen zur Verfügung stehen. Also was möchten Sie wissen?«
»Ich würde«, antwortete Jenkins, »gern einmal mit Frau Geheimrat Forsting persönlich ein paar Worte sprechen. Natürlich in Ihrer Gegenwart, Herr Professor.«
Der Chefarzt drückte auf den Knopf des Haustelephons. »Herr Dr, Loy möge mit Frau Geheimrat Forsting herüberkommen.«
»Es handelt sich«, wandte sich der Professor wieder an Jenkins, »hier ursprünglich um einen Fall von Kriegsspychose. Allgemeine nervöse Überreiztheit, hervorgerufen durch den Ausbruch des Krieges, in Verbindung mit der Einberufung des Gatten, verstärkt durch das Gefühl der Verlassenheit, vielleicht der persönlichen Gefahr. Durch ein asthmatisches Leiden haben sich diese Dinge in den letzten Tagen noch zugespitzt. Dazu die niederschmetternde Nachricht vom Tod des Gatten und, was allem anderen die Krone aufsetzte, dieser geheimnisvolle Besuch des Gatten beim Arzt — des Gatten, der am Morgen des gleichen Tages, 10 Uhr, schon tot war. Dies alles hat die Dame in einen Zustand versetzt, der mehr als bedenklich zu nennen ist. Herr Dr. Loy, ein sehr tüchtiger, gewissenhafter Arzt, hat mir ein bis ins Kleinste detailliertes Krankheitsbild in dieser seltsamen Sache zusammengestellt. Danach ist über die Gefährlichkeit des Zustandes der Frau Regierungsrat Forsting leider kein Zweifel möglich.«
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
»Noch eins«, sagte Mr. Jenkins. »Ich bitte Sie, mich den Herrschaften als Mr. Mac Donald vorzustellen. Es würde Frau Forsting unnötig erregen, wenn sie meinen Namen hört, und auch Herrn Dr. Loy könnte es vielleicht befangen machen.«
Auf das energische »Herein!« des Chefarztes trat ein dunkelhaariger, jüngerer Herr ein, gefolgt von einer Dame, die in der Mitte der Vierzig stehen mochte. Die stattliche Gestalt war einfach, aber mit einer gewissen diskreten Eleganz gekleidet. Das Gesicht war von Sorgen durchfurcht und stach in seiner Blässe kaum von dem weißen Haar ab, das es umrahmte. Die Augen hatten einen flackernden Glanz.
Der Assistenzarzt war ein hübscher, schlanker Mann mit sanften, braunen Augen. Er warf einen kurzen Blick auf Mr. Jenkins und sah dann seinen Chef fragend an. Dieser stellte »Herrn Mac Donald aus Philadelphia« der Frau Regierungsrat Forsting und Herrn Dr. Loy vor. »Mr. Mac Donald interessiert sich sehr für Ihren Fall, gnädige Frau«, sagte er. »Er würde gern einiges darüber hören; namentlich auch über den Vorfall von heute Vormittag. Vielleicht erzählen Sie das Erlebnis selbst, gnädige Frau. Sie sind, um es kurz zu resümieren, der Meinung, Ihren Gatten heute Vormittag leibhaftig gesehen zu haben?«
Die Patientin fuhr sich mit der Hand über die Schläfen, blickte einen Augenblick traurig vor sich nieder und sagte dann mit leiser Stimme: »Ja, Herr Professor. Ich habe mich nicht getäuscht. Bestimmt nicht. Es war mein Mann. Nicht nur, dass ich natürlich die Gestalt und das Gesicht erkannte. Der vorüberschreitende Offizier hatte auch den charakteristischen Ansatz des rechten Fußes, der meinem Manne eigen ist.«
»Und wo haben Sie ihn erblickt?«
»Auf meinem Spaziergang. Ich ging mit Herrn Dr. Loy heute Vormittag durch den Park. Wir kommen an eine Stelle, an der sich die Wege kreuzen. Plötzlich kommt, auf einen Stock gestützt, von links ein Offizier langsam daher und kreuzt meinen Weg. Ich verfolge mit wachsendem Erstaunen die mir wohlbekannte Gestalt. Auf einmal, als er an mir vorübergegangen ist, wendet der Offizier den Kopf und schaut mich an; mit Augen, die glasig und überirdisch aus einem totenbleichen Gesicht leuchten. Der Schrei bleibt mir in der Kehle stecken. Der dort geht, ist mein Mann! Während meine Augen auf seinem Gesicht umherirren, fallen sie auf ein feuerrotes Wundmal an seiner linken Schläfe. Ich will auf die Erscheinung losstürzen, da hält mich Herr. Dr. Loy am Arm fest. ›Wohin wollen Sie?‹, fragt er.
›Wohin ich will?‹, frage ich erstaunt. ›Sehen Sie denn nicht den Offizier dort? Das ist mein Mann!‹
›Wo?‹, fragte er verwundert und sieht mit leeren Blicken in die Richtung, die ihm mein ausgestreckter Arm zeigt. ›Sehen Sie denn nicht den Offizier dort? Der dort langsam hinaufsteigt, in der rechten Hand einen braunen Krückstock?‹
Da antwortet mir Herr Dr. Loy mit einer Stimme, aus der ich tiefes Mitleid, trauerndes Mitleid höre: ›Gnädige Frau, da geht kein Offizier. Weder ein Offizier, noch sonst ein Mensch.‹«
Damit wandte sich Dr. Loy mit seiner Patientin zur Tür. »Sie kommen wohl noch einmal zurück, Herr Kollege!«, bat der Professor seinen Assistenten. Dieser machte eine kleine Verbeugung und war im nächsten Augenblick mit Frau Forsting verschwunden.
»Und Ihre Meinung?«, fragte Jenkins den Professor, als die beiden allein waren. »Sie halten die Dame für irrsinnig?«
»Auf alle Fälle«, antwortete Professor Racot, »muss ich an einen beginnenden Irrsinn glauben. Denn die Symtome sind unabweisbar und unverkennbar.«
»Gestatten Sie eine weitere Frage, Herr Professor. Hat die Dame Vermögen?«
Der Arzt stutzte, sah den Detektiv mit einem schnellen Blick an und sagte dann lächelnd: »Nein, Mr. Jenkins. Ihre kriminellen Bedenken — falls Sie solche haben sollten, — sind hier unbegründet. Die Dame hat nichts als ihre bescheidene Pension, die natürlich mit ihrem Tode aufhört. Sie hat keinen Feind, sie ist im Gegenteil überall als eine harmlose und bescheidene Frau beliebt.«
»Hat die Dame Verwandte?«
»Sie hat einen Bruder, der vor vielen Jahren nach Südamerika ausgewandert und dort verschollen ist. Außerdem lebt hier in Berlin ein Bruder ihres Mannes als Rentier. Er ist mit Frau Forsting befreundet und stand ihr in der letzten Zeit, da sein Bruder — ihr Mann — abwesend ist, sehr zur Seite.«
Ein Klopfen an der Tür, ein lautes »Herein!« Dr. Loy kam zurück.
»Nun Herr Kollege«, wandte sich Professor Racot dem Eintretenden entgegen, »wie denken Sie über Frau Forstings Zustand?«
Der Arzt warf einen fragenden Blick auf Jenkins und sah dann seinen Chef an. Dieser neigte ermutigend den Kopf. »Herr Professor«, sagte Dr. Loy leise, »ich muss Ihnen gestehen: Ich fürchte, eine Katastrophe kann jeden Augenblick eintreten. Die Nerven der Patientin sind aufs Äußerste gereizt. Noch eine solche Halluzination — und … ich fürchte, eine Überführung ins Irrenhaus …«
In diesem Augenblick gellte ein fürchterlicher Schrei durch das Haus, ein Schrei der Angst, der die Luft förmlich durchschnitt. Das Rennen eines Menschen, der in Todesangst sein musste, kam über den langen Korridor. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und bleich, mit verzerrten Zügen und weit geöffneten Augen, in denen eine namenlose Angst fieberte, stürzte Frau Forsting herein und sank ohnmächtig in einen Sessel.
Eben wollte Professor Racot die Tür hinter ihr schließen, als sie zum zweiten Mal krachend aufflog. In eiligem Lauf stürzte Frau Forstings Krankenschwester ihrer Patientin nach.
Die Schwester schöpfte ein paar Mal keuchend Atem und sagte dann bebend: »Frau Forsting hat eine neue Erscheinung gehabt. Ich hatte sie einen Augenblick verlassen. Da hörte ich einen Schrei, eile zurück und treffe Frau Forsting schon auf dem Korridor, mit der zitternden Rechten zurückdeutend: ›Mein Mann, mein Mann! Dort! Dort ist er eben erschienen!‹«
Jetzt richteten sich alle Blicke auf Frau Forsting, die langsam die Augen aufschlug und verwirrt um sich blickte.
»Ist das wahr?«, fragte der Chefarzt mit leiser Stimme, aus der es fast wie ein leichter Vorwurf klang. »Sie haben eben wieder Ihren Gatten gesehen?«
Die Gefragte sprang plötzlich auf, blickte die Versammelten verwirrt an und schrie dann laut: »Er war es! Ich habe ihn gesehen, Herr Professor! Ich habe ihn gesehen! An meinem Fenster ist er eben erschienen! Mit einer blutigen Wunde in der linken Schläfe.«
Die beiden Ärzte wechselten einen Blick und sahen dann auf Mr. Jenkins, der stumm vor sich niedersah.
»Schwester Maria«, sagte der Chefarzt nach einer Pause, »Sie haben Ihre Pflicht versäumt. Sie dürfen Ihre Pflegebefohlene nicht allein lassen … Beruhigen Sie sich, Frau Forsting. Hier, nehmen Sie etwas Brom. Danach werden Sie gut schlafen. Und morgen früh werden wir weiterreden. Schwester Maria, bringen Sie Ihre Patientin wieder auf ihr Zimmer.«
Die beiden Frauen verließen das Zimmer. Plötzlich drang ein seltsamer, rührender Ton durch die Räume: Die Ängste und Schmerzen der bedauernswerten Frau hatten sich in einem unaufhaltsamen, hilflosen, trostlosen Weinen aufgelöst.
Mr. Jenkins erhob sich. »Ich will gehen, Herr Professor. Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie haben meinen Erfahrungsschatz um einen wertvollen Beitrag aus der Geschichte menschlicher Leiden und menschlicher Tragik bereichert.«
Joe Jenkins ging nachdenklich den langen Parkweg hinunter, der zwischen dunklen Tannen hindurch zum Tor des Sanatoriumsgartens führte. Je mehr er sich dem Ausgang näherte, desto mehr verfinsterte sich sein Gesicht.
Plötzlich stuzte er. In einem Seitengebüsch knackte es. Im nächsten Augenblick löste sich aus dem Dickicht eine menschliche Gestalt.
Eine Hand fasste die seine, und eine zitternde Stimme rief in beschwörendem Ton:
»Retten Sie Frau Forsting, Mr. Jenkins«!
Eben wollte er etwas erwidern, als die Hand ihn losließ. Ebensoschnell, wie sie gekommen war, schlüpfte die Gestalt in die Büsche zurück, und nur im Vorbeihuschen konnte der Detektiv einen Blick auf das Gesicht und das Kleid der Enteilenden werfen. Es war Schwester Maria.
Drei Tage später las man in den Berliner Blättern folgende Notiz:
Frau Regierungsrat Forsting, von deren aufsehenerregenden Erlebnissen hier wiederholt berichtet wurde, ist für unheilbar geisteskrank befunden worden. Die Bedauernswerte ist daher gestern in eine hiesige Irrenanstalt übergeführt worden. Der Fall ist um so trauriger, als soeben die Nachricht eintrifft, dass die Dame Erbin eines großen Vermögens geworden ist, das ihr durch den Tod ihres einzigen Bruders zugefallen ist, der in Südamerika ungeheure Waldungen besaß. Zum Verwalter ihres Vermögens ist der Bruder ihres verstorbenen Gatten, der Rentier Amandus Forsting ernannt worden.
* * *
Das Konzil der Ärzte, das über das weitere Schicksal der Frau Forsting beraten sollte, tagte im Sitzungszimmer des Dr. Stellenmannschen Irrenhauses. Den Vorsitz führte Dr. Stellemann persönlich, ihm zur Seite saß sein Assistent Dr. Haller, ein noch ziemlich junger, aber sehr bedeutender Spezialist für Nervenleiden, den Dr. Stellmann mit großer Auszeichnung behandelte. An den beiden Längsseiten des Tisches hatten Professor Racor und Dr. Loy Platz genommen. Nachdem die geheime Konferenz beendet war, hatte man Frau Forsting hereingerufen, die nun in einem bequemen Fauteuil, vom Licht der Lampen voll bestrahlt, der Unterredung beiwohnte. Dr. Loy hatte soeben seinen instruktiven Vortrag beendet. Sein Chef Professor Racot hatte den Ausführungen mit sichtlichem Stolz zugehört und mehrere Male anerkennend genickt. Auch der Irrenhausdirektor lächelte zustimmend und blickte seinen Assistenten Dr. Haller fragend an.
Dieser erhob sich nach einer Weile und begann: »Ich danke Ihnen, Herr Dr. Loy, für das ausführliche und anschauliche Referat, das Sie uns gegeben haben. Mein Chef, Herr Direktor Dr. Stellemann, hat diesen Fall in meine Hände gelegt und ich soll die Patientin weiter observieren und behandeln — soweit sich hiervon ein Erfolg erwarten lässt.«
Professor Racot warf einen bedenklichen Blick auf Frau Forsting, die in ihrem Sessel lehnte und den Worten des Vortragenden mit Aufmerksamkeit folgte.
Dr. Haller fuhr fort: Wenn ich richtig verstanden habe, haben sich also die Erscheinungen vier- oder fünfmal wiederholt, und zwar hat die Dame ihren verstorbenen Gatten jedes Mal mit dem Wundmal in der linken Schläfe erblickt, also in einem Zustand, in dem sie ihn selbst nie gesehen hat. Nicht wahr, Frau Forsting, so war es doch?«
Hier stand Professor Racot, nachdem er sich leise mit Dr. Loy unterhalten hatte, auf und sagte mit einem Blick auf Frau Forsting in warnendem Ton: »Ich weiß wirklich nicht recht, Herr Kollege, ob es ratsam ist … in Gegenwart der Patientin … diese Dinge …«
Dr. Haller machte eine begütigende Handbewegung. »Ich spreche in einer bestimmten Absicht — Sie werden gleich sehen, in welcher. Lassen wir die Patientin hier. Ich bin gleich zu Ende. Also«, wandte er sich nunmehr an Dr. Loy, »es gibt zwei Möglichkeiten. Frau Forsting hat die von Ihnen anschaulich beschriebenen Halluzinationen gehabt. Das steht außer Frage. Nach Ihrer Meinung folgt daraus, dass sie wahnsinnig ist. Nicht wahr?«
Der Assistenzarzt blickte ein wenig erstaunt auf den Sprechenden und sagte trocken: »Selbstverständlich, Herr Doktor.«
»Nun«, fuhr Dr. Haller fort, »haben Sie selbst aber die gleiche Erscheinung gehabt wie Frau Forsting: Sie haben, nach Ihren Angaben, den Offizier mit der Schläfenwunde, also die Erscheinung des Hauptmanns Forsting, in Ihrer Wohnung gesehen, und zwar nach seinem Tod. Der Offizier kam zu Ihnen, um Sie aufzufordern, seiner Frau Hilfe zu leisten. Wie erklären Sie sich dies, Herr Dr. Loy?«
Der Gefragte zog die Brauen zusammen und zuckte die Achseln. »Dafür vermag ich natürlich eine Erklärung nicht zu geben. Zumal ich, trotz dieses unerklärlichen Vorfalls, an Spiritismus nicht glaube.«
»Sie werden das eine zugeben: Es ist unlogisch, dass, wenn Sie und Ihre Patientin die gleiche Erscheinung gehabt haben — dass dann der eine normal und der andere irrsinnig sein soll. Es gibt, wie ich schon bemerkte, nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Erscheinung des toten Offiziers war in der Tat eine Halluzination, dann sind Sie beide irrsinnig, Sie und Frau Forsting.« Hier machte Dr. Haller eine Pause, und alles blickte mit unverhohlenem Argwohn auf Dr. Loy, der bleich, mit halbzugekniffenen Lidern, dasaß und den Sprechenden anstierte. »Oder aber, die Erscheinung war eine reale … dann, Herr Dr. Loy, … dann sind Sie … ein Schuft.«
Die Wirkung dieser Worte war eine unbeschreibliche. Die drei Herren waren aufgesprungen, Professor Racot war mit zwei Schritten auf Dr. Loy zugegangen und stellte sich vor ihn hin, als ob er von ihm Rechenschaft fordere.
Eben wollte Dr. Loy zu reden anfangen. Tiefe Stille trat ein. Da geschah etwas Unerwartetes. Wie von unsichtbarer Hand getrieben, öffnete sich die Tür und in ihrem Rahmen stand die Gestalt eines Offiziers, bleich, auf einen Krückstock gestützt, mit einer blutigen Wunde an der linken Schläfe.
Mit einem Schrei fuhr Frau Forsting empor, deutete mit der zitternden Hand auf die Erscheinung und schrie: »Da ist er! Da ist er!« Dr. Loy stand in gebrochener Haltung, auf die Tischkante gestützt, und stierte auf den Offizier im Türrahmen.
»Nun, Herr Doktor?«, wandte sich Dr. Haller lächelnd an den Assistenzarzt, »sind wir nun alle wahnsinnig? Denn ich glaube, meine Herren, Sie, Herr Professor Racot und Sie, Herr Direktor Stellemann, sehen die Erscheinung ebenfalls ganz deutlich!« Professor Racot aber wandte sich langsam zu seinem Assistenten herum mit einem Blick, in dem eine fürchterliche Drohung lag.
Dr. Haller ging langsam auf die Erscheinung zu und zog sie ins Zimmer. Erst jetzt wurden zwei Männer sichtbar, die rechts und links der Tür von außen Posto gefasst zu haben schienen.
Dr. Haller schloss die Tür und sagte lächelnd: »Sie gestatten wohl, Herr Geist, dass ich Sie ein wenig vermenschliche? Damit sich diese Herrschaften nicht weiter vor Ihnen fürchten … Gestatten Sie!« Damit nahm er vom Schreibtisch einen feuchten Briefmarkenschwamm, näherte sich dem Offizier und fuhr ihm damit über das Wundmal an der Schläfe. Zum Erstaunen der Zuschauenden schwand die rote Farbe augenblicklich unter der Einwirkung des Schwammes, und ebenso waren die Furchen im Gesicht der Erscheinung im nächsten Augenblick verschwunden. Darauf riss Dr. Haller der Erscheinung die Mütze herunter und gleichzeitig eine Art von Perücke und fragte, zu Frau Forsting gewendet:
»Kennen Sie diesen Mann?«
Frau Forsting hatte mit weit aufgerissenen Augen die Manipulationen des Arztes verfolgt. Auf seine Aufforderung erhob sie sich, ging drei Schritte auf den Entlarvten zu und sagte mit zitternder Stimme: »Ja, ich kenne ihn. Es ist Amandus Forsting, mein Schwager, der Bruder meines Mannes.«
»Es freut mich«, antwortete Dr. Haller, »dass Sie so scharf und kühl denken und erkennen. Beweist es mir doch, dass Sie normal und im Besitz Ihrer vollen Geisteskräfte sind. Sie müssen nämlich wissen, meine Herren: Dieser würdige Herr wusste schon seit Wochen von dem Tod des Bruders der Frau Forsting und von dem ihr zugefallenen Vermögen. Er hat nun den Plan gefasst, sich dieses Vermögens zu bemächtigen, und er rechnete darauf, mit einer schwachen, nervösen Frau ein leichtes Spiel zu haben. Ein Zufall kam ihm zu Hilfe. Er erhielt die Nachricht von dem Tod seines Bruders früher als dessen Ehefrau. Die Abschrift des Telegramms, die Sie hier sehen, ist mir von der Post zur Verfügung gestellt worden. Nun hat er sich an seinen ehrenwerten Freund und Studiengenossen Dr. Loy gewandt, einen verkrachten Studenten, der im Übrigen noch weniger als ein Doktor ist — ein Kapitel, das die Behörde noch gesondert beschäftigen wird. Die beiden haben nun zusammen einen menschenfreundlichen Plan ausgeheckt. ›Mord‹, so kalkulierten sie, ist immer eine riskante Sache, denn sie kann den Kopf kosten. Einen Menschen dagegen langsam, aber sicher in den Irrsinn treiben — das führt genau zu dem gleichen Ziel: nämlich zum bürgerlichen und rechtlichen Tod des Betreffenden, ist dabei aber ganz ungefährlich, denn es kommt nicht heraus.‹ Mit der Feststellung des Irrsinns bei Frau Forsting war notwendig ihre Unmündigkeitserklärung verbunden. Verwalter ihres Vermögens, also der ihr zugefallenen Erbschaft, wurde alsdann ihr Schwager, der würdige Herr Amandus Forsting. Nach einigen weiteren Halluzinationen — und die wären bestimmt eingetreten — war mit ziemlicher Sicherheit der Tod der bedauernswerten ›Irrsinnigen‹ zu erwarten — dafür hätte ein so tüchtiger Arzt wie Herr Dr. Loy schon gesorgt — und dann war Herr Amandus Forsting im Besitz des Vermögens seiner Schwägerin, denn weitere Verwandte hat die Dame nicht.
Nun, Herr Forsting hat seine Rolle als Geist seines Bruders nicht schlecht gespielt. Das fiel ihm um so leichter, da er seinem Bruder sehr ähnlich sieht. Herr Dr. Loy hat ihm geschickt assistiert. Er hat seine Blicke jedes Mal verständnislos ›ins Leere‹ schweifen lassen und mit der unschuldigsten Miene von der Welt erklärt, er sähe keinen Offizier. In Wirklichkeit hat er ihn natürlich genau so gut gesehen, wie wir alle ihn jetzt erblicken. Der ›Geist‹ ist dann jedes Mal hinter einem Gebüsch ›verschwunden‹. Es ist Frau Forsting aufgefallen, dass sie die Erscheinung zwar sehen, aber nicht hören konnte; dies erklärt sich dadurch, dass der Geist von der praktischen Erfindung der Gummisohlen Gebrauch gemacht hat. Diese Gummisohlen, deren gitterartigen Abdruck ich im Sand des Parks fand, haben mich überhaupt zuerst auf die richtige Fährte gebracht. Er hat nun seinen Chef, Herrn Professor Racot, systematisch über den Zustand der Frau Forsting getäuscht, indem er ihm planmäßig ein falsches Krankheitsbild entworfen hat.«
Hier drückte Dr. Haller auf einen Knopf, die beiden Männer erschienen und Dr. Haller sagte, zu ihnen gewendet: »Hiermit übergebe ich Ihnen Herrn Dr. Loy und Herrn Amandus Forsting als Arrestanten.«
Nun blickte Dr. Haller Frau Forsting an und sagte in freundlichem Ton: »Wie mir Herr Direktor Dr. Stellemann eröffnet, sind Sie frei, gnädige Frau. Mein Automobil steht vor der Tür. Ich werde die Ehre haben, Sie selbst in Ihre Wohnung zu geleiten.«
Teils bewundernd, teils voll Ingrimm, schaute jetzt alles auf diesen jungen Arzt.
Dr. Loy machte eine Bewegung auf ihn zu, wurde aber im nächsten Augenblick zurückgerissen.
»Wer … sind … Sie?«, fragte er heiser, die Augen starr auf Dr. Haller gerichtet. Dieser lächelte. »Ihre Frage beweist mir, dass Sie in meine Person einige Zweifel setzen. Nun, Sie haben nicht unrecht.« Damit riss er Bart und Brille herunter. »Mein Name ist Joe Jenkis!«