Der Kommandant des Tower 26
Der Kommandant des Tower
Historische Erzählung von W. Harrison Ainsworth
Verlag von Christian Ernst Kollmann, Leipzig, 1863
Zweites Buch
Der Lordprotektor
Achtzehntes Kapitel
Wie die königliche Leiche in die St. Georgs-Kapelle gebracht wird
Am anderen Morgen erhoben sich die zahlreichen Insassen des Klosters beizeiten und bereiteten sich zum Aufbruch nach Windsor. Die meisten der zum Zug Gehörigen hatten auf Stühlen oder Bänken schlafen müssen oder auch auf den Binsen, womit der Flur reichlich bestreut war. Alle indes waren lange vor Tagesanbruch auf. In jenen derben Zeiten wich das Frühstück nicht sonderlich vom Mittag- oder Abendessen ab, und den Gästen wurde vor dem Aufbruch ein sehr konsistentes Mahl nebst gewürzten Worten vorgesetzt.
Um sieben Uhr präzise bewegte sich der Leichenzug in derselben Ordnung wie tags vorher und von ebenso viel brennenden Fackeln begleitet zum Klostertor hinaus. Als der Trauerzug sich dem Dorf Isleworth näherte, wurden die Glocken angezogen und die Geistlichkeit erschien, um die königliche Leiche zu beweihräuchern. Ähnliche Zeremonien wurden in jedem Dorf, durch welches man zog, wiederholt.
Von der nördlichen Terrasse des Schlosses Windsor aus bot die Prozession, indem sie sich langsam von Eton her über die Themsebrücke bewegte, einen besonders merkwürdigen und höchst interessanten Anblick. Aber nur wenige genossen ihn von hier aus. Die Schlossbewohner hatten meist alle Hände voll mit Vorbereitungen für die erwarteten Gäste zu tun, und diejenigen, die nicht so in Anspruch genommen waren, hatten sich zur Themsebrücke begeben, wo sich der Mayor von Windsor, die Aldermen, Grundbesitzer und Bürger sowie die Geistlichkeit der Kirche Johannes des Täufers, die in der Stadt liegt, aufgestellt hatten. Von hier bis zu dem Schloss war der Weg auf beiden Seiten gesperrt, die Einzäunung bis auf die Erde mit schwarzem Tuch behangen und mit Wappenschildern und genealogischen Registern bedeckt. Wie im Kloster zu Zion, nur in viel großartigerem und reichlicherem Maßstab, waren auch im Schloss Vorbereitungen zur Aufnahme der zahlreichen und vornehmen Gäste nebst ihrem Gefolge getroffen worden. Alle diejenigen Zimmer, welche für die ungesehensten Edelleute und Gesandten bestimmt waren, hatte man schwarz verhangen, sowie auch die St. Georgs-Halle und das Innere des Garter Tower.
Ein schöneres kirchliches Gebäude wie die St.-Georgs-Kapelle zu Windsor, existiert wohl nicht, und um die Zeit, von der wir reden, war der Bau noch vollkommen erhalten. Keine entweihende Hand hatte seine Schönheit verunziert. Der äußere Anblick war überwältigend. Die zahllosen geschwärzten Türme waren mit blitzenden Wetterfahnen geschmückt, die von vergoldeten Löwen, Antilopen, Windhunden und Drachen getragen wurden. Das Innere entsprach dem Äußeren und glücklicherweise ist der beste Teil nur wenig verstümmelt worden. Man kann sich nichts Herrlicheres denken, als die reich dekorierten Wölbungen, die von unvergleichlich schönen Pfeilern getragen wurden, dann die schlanken und graziösen Säulen des Schiffes, die zahlreichen Kapellen und Emporkirchen oder den vollendet schönen Chor.
Im Schiff waren die Wappen Heinrichs VIII. gemalt sowie auch diejenigen seiner berühmten, ihn überlebenden Zeitgenossen, Carls V. und Franz’ I., welche beide Ritter des Hosenbandordens waren. Zur Zeit unserer Geschichte waren die Fenster der Kapelle von dunkel gefärbtem Glas. Sie glühten in den bunten und gesättigten Farben des Rubins, des Topases sowie des Smaragds und verbreiteten ein feierliches Licht über die architektonischen Wunderwerke des Gotteshauses. Der Bau war im 15. Jahrhundert von Edward IV. begonnen, von Heinrich VII. weiter ausgeführt und verschönert und mit der unvergleichlich schönen Decke des Chors versehen worden. Heinrich VIII. vollendete ihn, wie auch an den heraldischen Zeichen, womit das schöne Getäfel der Kirche geschmückt ist, und anderen Spuren sich erkennen lässt.
Der stattfindenden Zeremonie wegen war das Innere der Kirche zum Teil schwarz verhangen, der Boden des Schiffes in der Mitte mit schwarzem Tuch bedeckt und die Säulen der Nebenschiffe mit Bannern und Wappenschildern geschmückt. Der Flur des Chores war ebenfalls mit schwarzem Teppich belegt, und die reichgeschnitzten Kirchenstühle der Ritter des Hosenbandordens mit zobelbesetztem Samt überkleidet.
Mitten im Chor, von zweifachen Schranken umgeben, stand ein Katafalk, größer und prächtiger noch als die beiden anderen im Westminsterpalast und in der Zionskirche. Er war fünfunddreißig Fuß hoch, hatte acht Felder und dreizehn Kapitäler, die in eigentümlicher Weise gemalt und vergoldet waren. Ein reicher Thronhimmel überdachte ihn. Am Fuße des Katafalks war noch ein dritter mit schwarzem Samt, Silbergeschirr und anderen Kostbarkeiten bedeckter Altar. Unter dem herrlichen Katafalk befand sich die Gruft, in welche binnen Kurzem die königliche Leiche auf ähnliche Weise herabgelassen werden sollte, wie es jetzt auf unseren Kirchhöfen gebräuchlich ist. In dem Gewölbe lag bereits die einst so liebreizende Jane Seymour, an deren Seite Heinrich ruhen wollte. Hier wurde später auch die Leiche des unglücklichen Karl I. bestattet.
Nachdem alles innerhalb des Chores geordnet war und tausend große Wachskerzen um den Katafalk brannten, brachten die drei Riesenwächter zuerst das Bildnis des Königs durch das westliche Tor der Kirche herein und setzten es auf dem Chor nieder. Gardisten brachten darauf den Sarg durch den offen gelassenen Weg, sechs Lords trugen den Baldachin darüber. Voraus gingen der Bischof von Winchester und andere Prälaten im Ornat bis zum Katafalk, wo der Sarg in ehrfurchtsvoller Weise niedergesetzt wurde.
Unterdessen hatte der Bischof von Winchester, dem als ersten Prälaten die Verrichtung des heiligen Amtes oblag, seinen Platz vor dem Hochaltar eingenommen, zu beiden Seiten die übrigen Bischöfe, das Conseil, mit dem Lordprotektor an der Spitze, der Lordkanzler hinter ihm, betraten den Chor und setzten sich zu beiden Seiten desselben nieder, sodass der Erzbischof von Canterbury sich dem Hochaltar zunächst befand.
Auf der oberen Galerie war jetzt eine Bewegung bemerkbar. Die Königinwitwe begab sich in die königliche Loge. Zwei Zeremonienmeister gingen vorauf. In schwarzen Samt gekleidet, ohne jegliches andere äußere Zeichen der Trauer, sah Catharina zwar etwas bleich aus, doch waren sonst keine Spuren des Leides in ihrem Gesicht zu lesen. Es begleiteten sie die Marquise von Dorset und ihre Tochter, Lady Jane Grey, die Gräfin von Hertford und andere Damen, alle in tiefe Trauer gekleidet. Hinter ihnen sah man eine Menge von Gesandten und andere angesehene Fremde. Aber weder die Prinzessin Mary noch die Prinzessin Elisabeth waren zugegen. Ebenso wenig – wie schon wird bemerkt worden sein – nahm der junge König an dem Leichenzug teil.
Als die Königinwitwe allein voran in der Loge Platz genommen hatte, während die übrigen Damen standen, trat Norrey vor und ersuchte die Anwesenden in herkömmlicher Form, für das Seelenheil des verstorbenen Königs zu beten. Darauf wurde ein Requiem gesungen und von dem Bischof von Winchester und anderen Prälaten die Messe gelesen.
Am Schluss des Gottesdienstes verließ die ganze Versammlung die Kirche, und auf dem Chor blieben nur die Leichenwächter, deren Zahl bedeutend vermehrt worden war.
So reichlich auch die Bewirtung in Zion gewesen war, in Windsor wurde sie bedeutend übertroffen. In der St.-Georgs-Halle wurde den Edelleuten und anderen von hohem Rang ein Bankett gegeben, wo der Lordprotektor mit dem Conseil und den Gesandten unter dem Thronhimmel saß. In den verschiedenen Speisezimmern waren ebenfalls Tische gedeckt, woran die große Anzahl von Esquires, Gardehauptleuten, Herolden, Dienern und andere niedersaßen. Unsere drei Riesen fanden den Weg zur Speisekammer, Kellner und Küchendiener sorgten trefflich für sie. Sie vertilgten eine unglaubliche Quantität von Speisen und Getränken.
Die Nacht war weit vorgerückt, ehe die Festlichkeiten ein Ende hatten. Und auch dann noch blieben Nachzügler an einigen Tischen sitzen. Aber nicht nur in dem Schloss, sondern auch außerhalb war die geräuschvollste Bewegung, denn in beiden Höfen, sowohl in dem oberen als auch in dem tiefer gelegenen, gingen Stallknechte und Dienstleute aller Art beständig aus und ein. Die Terrassen jedoch waren einsam, obwohl die Schönheit der Nacht wohl manchen der Gäste zu einem Spaziergang im Mondlicht hätte verführen können. Gegen Mitternacht öffnete sich das Hinterpförtchen an der Südseite eines der Schlosstürme und Sir Thomas Seymour, gefolgt von seinem Diener, trat heraus. Beide trugen schwarze Samtmäntel, mit Zobel besetzt. Sie gingen rasch auf die östliche Terrasse zu, ohne zu verweilen und der herrlichen Waldlichtung zu ihren Füßen einen Blick zu schenken. Nachdem sie den durch die Mauern gebildeten Kreis halb durchschritten hatten, erreichten sie die nördliche Terrasse, welche in tiefem Schatten lag, da der Mond sich auf der entgegengesetzten Seite des Himmels befand. Weit über die Wiesen hinaus war der unregelmässige Schatten des mächtigen Turmes gelagert, aber die silberne Themse glitzerte im Mondschein und in ihm schlummerte friedlich die benachbarte Kirche von Eton. Ein heiliger Friede schien auf der Landschaft zu ruhen, aber Seymour war unempfänglich dafür. Ihn beschäftigten andere Dinge, die seine Seele bewegten.
Die Glocke, welche Mitternacht schlug, schreckte ihn auf, und er schritt mit seinem Diener durch den Torweg, der mit dem unteren Hof in Verbindung stand und zu der St.-Georgs-Kapelle führte. Indem er sich an die Seitentür der Bray-Kapelle begab, sah er hier mehrere Gardisten aufgestellt sowie auch zwei Zeremonienmeister, die zu dem Gefolge der Königin gehörten. Bei diesem Anblick pochte sein Herz freudig. Er wusste, dass Catharina in der Kirche war, und trat sofort mit seinem Diener ein. Schiff und Flügel waren in tiefes Dunkel gehüllt und bildeten den schroffesten Kontrast zu dem glänzend erleuchteten Chor. Die Wächter standen um den Katafalk, Kaplane am Hochaltar, der Chor sang ein Klagelied. Seymour blieb in der Nähe einer Säule stehen und hieß Ugo zu dem Chor gehen. Nach einer kleinen Weile kehrte der Diener zurück und sprach: »Die Königin ist da, sie kniet am Hochaltar neben dem Sarg.«
»Ich will hier auf sie warten. Zieh dich zurück, bis ich dich rufe.«
Eine volle Viertelstunde verging, ehe Seymours Wachsamkeit belohnt wurde. Nach Verlauf dieser Zeit trat Catharina aus dem Chor. Wie Sir Thomas vorausgesetzt hatte, war sie ohne alle Begletung und ging langsamen Schrittes auf die Tür neben der Bray-Kapelle zu, als Seymour hinter dem Pfeiler hervor und ihr in den Weg trat.
»Verzeiht mir, Catharina! Verzeiht mir, Königin meines Herzens!«, rief er, indem er sich ihr halb zu Füßen warf.
Catharina war überaus betroffen und würde sich zurückgezogen haben, aber er fasste ihre Hand und hielt sie fest.
»Ihr müsst – Ihr sollt mich hören, Catharina!«, rief er aus.
»So fasst Euch kurz und lasst meine Hand los«, antwortete sie.
»Ich weiß es, ich verdiene keine Verzeihung!«, rief er, »aber ich weiß auch, dass Ihr von Natur barmherzig seid, und darum wage ich zu hoffen. O Catharina! Ich bin geheilt von dem Wahnsinn, der mich befallen hat, und bitter bereue ich meine Torheit. Ihr habt die ganze Gewalt in meinem Herzen wieder erlangt, um sie auf ewig zu behaupten.«
»Mich gelüstet nicht danach, in einem so verräterischen Herzen zu thronen«, entgegnete Catharina streng. »Ihr bittet umsonst, Seymour. Eine Treulosigkeit wie die Ehre ist nicht zu verzeihen.«
»Sprecht nicht so, schöne Königin!«, rief er leidenschaftlich. »Stürzt mich nicht in Verzweiflung. Sagt mir, wie ich mein Vergehen büßen kann, und es soll geschehen. Aber verurteilt mich nicht zu Schlimmeren als zum Tode!«
»Da Ihr Euch einmal falsch und meineidig erwiesen habt, wie kann ich Euch jetzt glauben? Kann ich dem Zeugnis meiner eigenen Sinne misstrauen? Kann ich vergessen, was ich gehört habe?«
»Aber ich bin von meiner Tollheit geheilt. Ich sage es Euch, Catharina. Jahre der Ergebenheit sollen meine Schuld sühnen. Ich will mich jeder Strafe unterwerfen, die Ihr mir auferlegt, wenn mir nur die Hoffnung endlicher Vergebung winkt.«
»Ich wollte, ich könnte Euch glauben!«, seufzte die Königin. »Aber nein, nein! Es kann nicht sein. Ich will nicht noch einmal hintergangen werden.«
»Bei meiner Seele! Ich hintergehe Euch nicht!«, rief er, ihre Hand an seine Lippen pressend. »Stellt mich auf die Probe, und wenn ich je an meinem jetzigen Gelübde unwandelbarer Liebe irrewerde, so stoßt mich für immer von Euch!«
Eine kleine Pause folgte, worauf Catharina in zögerndem Ton sprach: »Ich muss Zeit zum Überlegen haben.«
»Bis wann?«, fragte er flehend.
»Das kann ich nicht sagen. Nicht eher werde ich über die Sache reden, bis sich das Grab über Heinrich geschlossen hat. Ich wünsche Euch Gute Nacht, Sir Thomas.«
»Gute Nacht, schöne Königin! Gebe der Himmel, dass Ihr günstig für mich entscheidet!«, rief Seymour, als er fortging.
Und als sein Diener sich vorsichtig näherte, rief er jubelnd. »Vittoria! Ugo – fatta!«