Die Geschichte vom Werwolf Teil 25
Die Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger
Kapitel 25
Die wilde Jagd
Der Werwolf war den Hunden weit voraus. Es dauerte ziemlich lange, bis er das Gebell der Meute hörte. Bald jedoch wurde er unruhig und lief mit verdoppelter Schnelligkeit.
Erst als er einen sehr großen Vorsprung gewonnen hatte, hielt er an und sah sich nach allen Seiten um.
Er war auf der Höhe von Montagu. Er lauschte. Die Hunde schienen ihm nicht näher gekommen zu sein. Nur ein Wolf konnte sie in so großer Entfernung hören.
Er wandte sich nun seitwärts gegen Erneville, lief lange in einem Bach fort und kam endlich in den Wald von Compiègne.
Trotz des dreistündigen raschen Laufes fühlte er nicht die geringste Ermüdung, und diese Wahrnehmung beruhigte ihn einigermaßen. Er trug indes einiges Bedenken, sich weit in den Wald zu wagen, der ihm minder bekannt war wie der Wald von Villers-Coterrets. Er nahm daher seinen Weg über das freie Feld zwischen Pierrefonds und Montgobert, lief in einem Bach fort und kam in den Wald von Longpont.
Zum Unglück traf er daselbst eine frische Meute von zwanzig Hunden, die der Baron von Montbreton auf Ansuchen des Oberjägermeisters bereithielt, um die erste Meute nötigenfalls abzulösen.
Die Meute wurde sogleich losgelassen, und es begann ein toller Wettlauf zwischen dem Werwolf und den Hunden. Es war eine wilde Jagd, welcher die Pferde, ungeachtet der Gewandtheit und Kühnheit der Reiter, kaum zu folgen vermochten.
Die Jagd brauste mit Gedankenschnelle durch Feld, Wald und Heide. Das Echo hatte kaum Zeit, die Hörnertöne und das Geschrei zu wiederholen. Die Hunde und Pferde schienen Flügel zu haben, so rasch setzten sie über Flüsse und Schluchten. Selbst die Pferde des Junkers Jean, der sich mit seinem Gefolge bald zu den neuen Hilfstruppen gesellte, schienen keine Ermüdung zu kennen.
Inzwischen blieb der Werwolf immer in gleicher Entfernung von der ihn verfolgenden Meute. Es schien ihm unmöglich, dass er diese Prüfung nicht bestehen werde. Er glaubte nicht sterben zu können, ehe er Rache genommen für alle erduldeten Qualen und zumal ehe er die ihm versprochenen Freuden genossen hatte. Zuweilen wurde er von Schrecken ergriffen, aber dies waren nur Anwandlungen der Furcht. Seine vorherrschende Stimmung war der Zorn, der Menschenhass, die Rachgier.
So lief er rasend immer fort, aber die bellende Meute war immer hinter ihm. Seine Kräfte ließen noch nicht nach; allein sein Unstern konnte ihn wieder einer frischen Meute entgegenführen, und dann würden seine Kräfte vielleicht nicht ausreichen. Er beschloss daher alles aufzubieten, um die Hunde von seiner Fährte abzulenken. Er wandte sich plötzlich gegen Puiseux, lief wieder in den Wald von Compiègne, schwamm durch die Aisne und schlüpfte wieder in den Wald von Villers-Cotterets, wo er alle Schlupfwinkel genau kannte.
Hier atmete er wieder freier. Er befand sich an den felsigen Ufern des Ourq. Von einer steilen Felsenplatte stürzte er sich in den Strom und schwamm zu einer Höhle, welche sich dicht über dem Wasserspiegel befand und hinter Gestrüpp versteckt war.
Er war mehr als eine halbe Meile voraus, aber er hatte kaum zehn Minuten in seinem Versteck gelauert, so erschienen die Hunde oben auf der Felsenplatte. Die Vordersten der Meute sahen in ihrem Eifer den Abgrund nicht und stürzten sich in den Strom. Die Hunde, welche nicht so stark waren wie der Werwolf, wurden vom Strom fortgerissen.
Der Junker Jean schimpfte und fluchte oben auf dem Felsen. Es blieb ihm nichts übrig, als mit den übrigen Jägern am Ufer hin stromabwärts zu reiten. Der Werwolf aber, der wohl ahnte, dass der Waidmann mit seiner Meute umkehren werde, hielt es nicht für geraten, sie zu erwarten. Er verließ sein Versteck und wandte sich, bald schwimmend, bald im Wasser gehend, stromaufwärts. Als er endlich einen weiten Vorsprung hatte, beschloss er sich in ein Dorf zu flüchten, wo man ihn gewiss nicht suchen würde.
Er dachte an Préciamont. Dieses Dorf war ihm wohl bekannt, und überdies meinte er, die Nähe Agnelettes werde ihm Glück bringen und neue Kraft geben. Er nahm also diesen Weg.
Es war sechs Uhr abends. Die Jagd hatte gegen fünfzehn Stunden gedauert. Werwolf, Hunde und Pferde hatten wohl fünfzig Meilen zurückgelegt.
Als er nach einem Umweg über die Feldmark von Oigny am Saum des Waldes erschien, begann die Sonne sich zu neigen. Die ganze Heide war mit einer rötlichen Glut übergossen. Die Waldblumen verbreiteten einen würzigen Duft, die Heimchen zirpten und die Lerchen schwirrten hoch in der Luft, wie zwölf Stunden zuvor, als sie den jungen Tag begrüßt hatten.
Die Ruhe der Natur machte einen seltsamen Eindruck auf Thibaut. Es schien ihm sonderbar, dass sie so schön und lieblich sein konnte, während sein Gemüt so von Angst gefoltert wurde. Als er die Blumen betrachtete, die Insekten summen, die Vögel zwitschern hörte, verglich er die sanfte Ruhe dieser kleinen harmlosen Welt mit der schrecklichen Unruhe, die er fühlte, und begann an den versprochenen Herrlichkeiten zu zweifeln.
Er befand sich auf dem Fußpfad, auf welchem er Agnelette an dem Tag, wo er sie kennengelernt, ins Dorf zurückbegleitet hatte, und wo er ihr, seinem guten Genius folgend, die Ehe versprochen hatte. Der Gedanke, dass es jetzt in seiner Gewalt stehe, die Liebe Agnelettes wieder zu gewinnen, hob seinen Mut einigermaßen wieder.
Die Abendglocke von Préciamont erinnerte ihn an die Menschen und an alles, was er von ihnen zu fürchten hatte. Er lief keck querfeldein, dem Dorf zu, wo er in einem verödeten Haus oder Stall eine Zuflucht zu finden hoffte.
Der Hohlweg führte ihn dicht an den Friedhof. Als er an der niedrigen Mauer war, hörte er Stimmen. Da er nicht weiter gehen konnte, ohne den näherkommenden Leuten zu begegnen, und sich nicht der Gefahr, gesehen zu werden, aussetzen wollte, so sprang er über die Mauer.
Der Friedhof war an einigen Stellen mit hohem Gras und Gestrüpp bewachsen. Der Werwolf versteckte sich in dem dichtesten Gestrüpp, welches eine eingestürzte Gruft bedeckte. Hier konnte er ungesehen beobachten.
Zehn Schritte von seinem Versteck war ein frisches Grab. Bald tat sich das Tor des Friedhofs auf, und ein Leichenzug, von weiß gekleideten Mädchen eröffnet, erschien. Die mit einem weißen Tuch bedeckte Bahre wurde von vier Bauern getragen. Oben auf den Sarg lagen grüne Zweige und Blumenkränze.
Dieser Anblick machte einen tiefen, erschütternden Eindruck auf den Werwolf. Obwohl er sich durch die geringste Bewegung verraten und ins Verderben stürzen konnte, so beobachtete er doch die ganze Zeremonie mit gespannter Aufmerksamkeit.
Die Träger setzten die Bahre nieder. Der im nördlichen Frankreich herrschenden Sitte gemäß werden die in der vollen Blüte der Jugend verstorbenen Mädchen und Frauen im offenen Sarg und nur mit dem Bahrtuch bedeckt auf den Friedhof getragen. Die Verwandten und Freunde können der Toten noch ein letztes Lebewohl sagen. Dann wird der Sargdeckel festgenagelt und die Leiche ins Grab gesenkt.
Eine alte Frau, von freundlicher Hand geführt, denn sie schien blind zu sein, trat näher, um die Tote noch einmal zu küssen. Die Träger nahmen das Tuch ab … Thibaut erkannte Agnelette!
Ein tiefer Seufzer wand sich aus seiner Brust und mischte sich unter das Schluchzen der Umstehenden.
Das bleiche Gesicht Agnelettes schien im Tod noch schöner, als es im Leben gewesen war.
Der Anblick der Toten machte einen unbeschreiblichen Eindruck auf ihn. Die Eisrinde, welche sein Herz umgab, begann zu schmelzen. Er dachte, dass er im Grunde der Mörder des holden Wesens sei, und ein tiefer, unendlicher Schmerz erfüllte ihn. Es war der erste wahre Schmerz, weil er zum ersten Mal nicht an sich, sondern nur an die Dahingeschiedene dachte. Er fühlte sich vom Schwindel ergriffen und verlor fast die Besinnung, als er die Schläge des Hammers auf dem Sargdeckel und das dumpfe Getöse der hinabfallenden Erde hörte. Es schien ihm, als ob Agnelette unter den harten, schweren Steinen zermalmt werden müsste. Er machte eine Bewegung, um sich auf die ^Umstehenden zu stürzen und ihnen die Tote zu entreißen, denn es schien ihm, dass sie im Tode ihm angehören müsse, nachdem sie im Leben einem anderen angehört hatte.
Aber der menschliche Schmerz war stärker als die letzte Regung des Raubtiers. Der Unglückliche fühlte sich unter seiner Wolfshaut von einem Schauer durchbebt, aus seinen wildrollenden Angen stürzten Tränen, tiefe Reue erfüllte sein Herz, und er rief: »Mein Gott! Nimm mein Leben, ich gebe es dir mit Freuden, wenn es die Entschlafene wieder ins Dasein zu rufen vermag!«
Diesen Worten folgte ein so entsetzliches Geheul, dass alle, die es hörten, erschrocken die Flucht nahmen. Der Friedhof blieb leer.
Gleich darauf sprang die Meute, welche die Spur des Werwolfs gefunden hatte, über die Mauer, und hinter den Hunden erschien der Junker Jean de Vez, von Schweiß triefend, auf seinem von Schaum und Blut bedeckten Pferd.
Die Meute stürzte auf das Gebüsch los.
»Hallali! Hallali!«, rief der Wolfsjägermeister mit einer Donnerstimme, sprang vom Pferd, zog sein Jagdmesser und machte sich Bahn durch die Hunde.
Die Hunde hatten ein frisches, blutiges Wolfsfell gefunden, der Körper war verschwunden.
Es war wirklich die Haut des Wolfes, den man gehetzt hatte, denn mit Ausnahme eines einzigen weißen Haares war er ganz schwarz.
Was aus dem Körper geworden war? Niemand wusste es. Aber da man Thibaut seit jener Zeit nicht mehr sah, so glaubte man allgemein, er sei ein Werwolf geworden. Da sich indes nur die Haut wiederfand, so erklärten die Leute, welche seine soeben erwähnten reuigen Worte gehört hatten, Gott habe Erbarmen mit dem bußfertigen Sünder gehabt und ihn gerettet.
Bis zu der Zeit, wo die Klöster durch die Revolution aufgehoben wurden, sah man anjährlich einen Prämonstratensermönch aus dem Kloster zu Bourg-Fontaine kommen und am Todestag Agnelettes an ihrem Grab beten.
***
Dies ist die Geschichte vom Werwolf, wie sie mir der Jäger Mocquet erzählte.
Ende
Die gesamte Story steht als PDF, EPUB, MOBI und AZW3 zur Verfügung.
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