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Die Tauscher 18

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 18

Es dauerte eine Weile, bis er das Polizeipräsidium betrat und sich nach Oberkommissar Traut erkundigte. Die uniformierte Dame in der Eingangshalle hob das Telefon, auf ihrem Gesicht spiegelte sich die mangelnde Begeisterung Trauts, als sie den Namen des Besuchers nannte.

»Achter Stock, Zimmer 826, nehmen Sie den Paternoster dort links.« Florian fuhr in der ruckenden Kabine, in der es nach Bohnerwachs roch, nach oben. Auf jeder Etage bot sich dasselbe Bild – Männer und Frauen in Uniform oder Zivil, die durch den Flur eilten, Telefonklingeln, Hämmern von Schreibmaschinen, Stimmengewirr. Er stieg im achten Stock aus und wandte sich sofort der richtigen Seite des Flures zu.

Auf sein Klopfen antwortete eine tiefe Stimme mit einem kurzen ´Ja`.

Traut stand am Fenster und schaute in den Hof. Die Hände hatte er in den Taschen seines zerknitterten Anzugs vergraben. Er war ein älterer, korpulenter Mann, der leicht gebückt ging, als erwarte er in jedem Moment einen heftigen Schlag auf den Kopf. Als die Tür zufiel, zog er seufzend den Hosenbund über den Bauch und sagte müde: »Ich hatte gehofft, dass wir uns nie wieder sehen würden.«

Florian schaute sich in dem Büro um. Der für Groß-Berlin offenbar vorgeschriebene Bürogeruch nach Staub, Möbelpolitur, Papier, Kaffee und Tabakrauch. Die Einrichtung war dürftig und bestand aus einigen Aktenschränken mit Rolltüren, einem abgenutzten Schreibtisch mit Telefon und drei Stühlen. In der hinteren Ecke war ein Waschbecken, in dem kleinen Spiegel darüber war Trauts Profil zu sehen – das schwindende Haar, das in Wellen lag, die faltige Stirn, die große Nase und die mindestens drei Kinne, die unter dem schlaffen Mund lagen.

»Na ja«, sagte Florian, »es reicht, wenn wir miteinander reden, du brauchst dich nicht zu mir umzudrehen.«

Genau das tat Traut in diesem Moment. Seine Augen passten nicht zu seinem Gesicht. Sie waren von einem künstlich wirkenden Blau und wirkten derart lebendig und voller Energie, als hätten sie ihre Kraft aus dem Rest des Gesichtes gesaugt und es so zu dieser Wüste von Schlaffheit und ältlicher Ermüdung gemacht.

»Ich weiß, dass du ein notorischer Witzbold bist«, sagte er leise und dennoch drang seine tiefe Stimme messerscharf durch den Raum, »aber ich bin preußischer Beamter und daher per Definition humorlos. Hammerstain, wir sind quitt. Du hast mir geholfen, im Beruf zu bleiben, ich habe dich vor dem Schafott bewahrt. Das reicht an Bekanntschaft.«

Traut setzte sich und goss sich aus einer Thermoskanne Kaffee ein. Er trank einen Schluck und blickte dann auf, offenbar erstaunt, dass Hammerstain nach wie vor in seinem Büro stand.

»Also«, seufzte Traut, »um was geht es?«

»Sara Levinsohn«, sagte Florian.

Traut stellte die Tasse ab und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Die kleine Levinsohn. Warum kommst du zu mir?«

»Weil ich mir denke, dass ein solcher Fall wie der Mord an Zucker bei dem besten landet. Also in diesem Büro«, sagte Florian.

»Schleimen kannst du dir sparen, Hammerstain«, gab Traut zurück, ohne seine Miene zu verändern, »ich lasse dich so oder so in einer Minute achtkantig rausschmeißen. Aber vorher schenke ich dir ein Nicken. Stimmt, ich habe den Fall.«

Dann herrschte eine Weile Stille, dann fixierte Traut Florian mit seinem Blick und als der lächelnd standhielt, blaffte Traut: »Was?«

»Ich möchte nur ein paar Sachen wissen, die nicht in der Zeitung stehen.«

»Es stand alles in der Zeitung!«

»Ich habe einige Ausgaben verpasst.«

»Geh ins Archiv.«

»Ich möchte es lieber aus erster Quelle erfahren«, sagte Florian ungerührt.

Traut stand auf und stellte sich vor Florian, bis sein Bauch fast dessen Jägerjacke berührte. Er war einen halben Kopf größer als Hammerstain und wirkte jetzt bedrohlich.

»Traut, diese Spielchen wirken, wenn du einen kleinen Ganoven beeindrucken willst. Bei mir ist das Zeitverschwendung. Setze dich friedlich hin, wir reden ein wenig und schon bin ich wieder unterwegs.«

»Gibt nicht viel zu erzählen über deine sogenannte Assistentin«, fing Traut an, nachdem er sich wieder hinter seinem Schreibtisch verschanzt hatte. »Die kleine Levinsohn hat Haare auf den Zähnen und eine große Klappe, heißt es. Bei mir hat sie gekuscht. Und im übrigen – die Sache ist klar. Sie hat zwar ständig ihre Unschuld beteuert, aber welche Mörderin macht das nicht.«

Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in Richtung Florian. »Damit das klar ist, die Levinsohn kommt nicht mehr aus der Sache raus. Und weil die Staatsanwaltschaft überspielen will, dass bei ihr die Sektkorken geknallt haben, als Zucker über den Jordan ging, wird sie es besonders scharf angehen. Die Levinsohn behauptet zwar, sie könne sich an nichts erinnern und sie wirkte tatsächlich bei der Festnahme so, als ob sie einen im Tee gehabt hätte, aber das wird ihr nichts nutzen. Die Anklage lautet auf Mord, nichts mit Totschlag oder Notwehr oder eine andere Hintertür. Und weil die Sache klar ist, wird sie verurteilt. Da kann ihr feiner Bruder so viele Rechtsverdreher anheuern, wie er will, die schaffen es auch nicht. Und weil weder König noch Kaiser einen blaublütigen Finger rühren werden, um eine Begnadigung zu gewähren, kommt deine kleine Assistentin aufs Schafott. Wenn sie keine aus der Levinsohn-Dynastie wäre, hätte sie wohl eine Chance auf lebenslänglich. Aber so – Fallbeil, Kopf ab.« Trauts feiste Hand sauste herunter und klatschte auf den Schreibtisch.

»Sie war es nicht«, sagte Florian.

»Ach ja?«

»Sie würde so etwas nie tun.«

»Oh ja, ich vergaß«, spottete Traut, »sie war ja deine Assistentin. Das ist ein Charakterzeugnis – bei einem Schnüffler mitzumachen, der sich vorzugsweise saufend durch die Stadt prügelt. Seid ihr euch nähergekommen, ihr zwei Täubchen?«

Florian angelte sich den zweiten Stuhl und setzte sich.

»Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Erstens, du machst so weiter und bist mitverantwortlich, wenn eine Unschuldige hingerichtet wird und der wahre Mörder sich ins Fäustchen lacht. Oder du erzählst mir endlich, was Sache ist, denn ich habe Sara Levinsohn am Abend der Tat gesehen und ich bin sicher, dass sie alles andere vorhatte, nur nicht Zucker auszuknipsen.«

Traut holte einen schweren Aktenordner aus einem Schrank und warf ihn krachend auf den Tisch. Staubkörnchen wirbelten in der Luft, der Geruch nach trockenem Papier verstärkte sich.

»Sie hat dich um den Finger gewickelt, Hammerstain, die Frauen waren schon immer dein Problem«, sagte Traut und er sagte es seltsamerweise ohne sarkastischen Unterton.

»Danke für diese Erkenntnis, aber können wir jetzt mit dem anderen Problem anfangen, bevor ich das größere löse?«

Aus dem Hof erklangen Befehle, Pfeifsignale und dann das Trampeln schwerer Stiefel. Motoren wurden angeworfen, die Tasse auf Trauts Schreibtisch zitterte leise klingelnd auf der Untertasse, als die Wagenkolonne aus dem Hof preschte und unter Sirenengeheul auf die Straße einbog.

Traut wartete, bis der Sirenenklang verstummt war, dann deutete sein Daumen nach hinten, zum Fenster.

»Da hast du es. Seit über einer Woche Urlaubssperre, Doppelschichten und ständige Bereitschaft. Diese Stadt dreht so langsam durch, Hammerstain. Zucker war das Ventil, er hatte die Unterwelt unter Kontrolle. Und jetzt, wo das Ventil weggeplatzt ist, will jeder sehen, wie er an ein größeres Stück vom Kuchen kommt. Die Einheimischen, die Russen, die Leute vom Balkan, die Asiaten. Wahrscheinlich hat sich die Zahl der Experten für Mord und Totschlag in der letzten Woche verdreifacht. Die spielen Krieg. Dazu die legalen Unternehmen, die Zucker betrieb und natürlich die Gewerkschaften, wo er den Daumen drauf hatte. Denen fällt plötzlich ein, dass sie ihre Mitglieder bisher für doof verkauft haben und sie streiken und das finden andere Zucker-Erben irgendwie unhöflich, also wird ein Streikführer gefaltet, womit er noch Glück hat, denn einige andere wurden schon aus dem Kanal gefischt. Und du kannst Gift darauf nehmen, in den nächsten Tagen wird irgendein völlig übermüdeter und überforderter Polizist irgendeinen über den Haufen schießen, der bloß zufällig dort stand, einen völlig Unschuldigen und dann hetzen die Zucker-Zeitungen gegen die Brutalität der Staatsbüttel und bringen das Volk gegen uns auf und es geht richtig los. Glaubst du, dass dieses Mädel noch irgendwen kümmert? Die muss abgeurteilt werden, damit der Staat Stärke zeigt. Denn Wien wird schon hellhörig, die sind immer hellhörig, wenn es an der Spree rappelt.«

Das Wort ´Wien` klang nach, Florian suchte irgendeinen Haken, einen Ansatzpunkt und gab dann zähneknirschend auf. Er musste gelassen bleiben. Solche Dinge konnte man nicht zwingen.

»Diese Stadt spielt ständig verrückt«, sagte er.

Traut schüttelte heftig den Kopf. »Vergiss es, ich bin fast vierzig Jahre im Dienst bei der Polente, aber das hat noch keiner erlebt.«

»Kein Grund, einen unschuldigen Kopf abzuschlagen.«

Traut blies die Backen auf, als würde ihn ein trotziges Kind nerven. Dann las er aus der Levinsohn-Akte vor.

Sara Levinsohn war neben der Leiche des ermordeten Alfred Zucker im Hangar gefunden worden, die Tatwaffe noch in der Hand. Zucker lag neben ihrem Rennflugzeug. Sie hatte einen lahmen Fluchtversuch unternommen, wirkte verwirrt und orientierungslos. Die Polizei war durch einen Anruf zum Hangar bestellt worden. Sara Levinsohn hatte Zucker mit einem handgeschriebenen Zettel um ein Treffen gebeten.

Florian zog die Ermittlungsakten zu sich herüber, Traut beobachtete ihn mit verschränkten Armen.

»Bei der Autopsie wurden Spuren von Erde und Gras am Ende des Stichkanal gefunden«, sagte Florian.

»Weiß ich. Habe ich selbst diktiert.«

»Wie kommen Erde und Gras dahin?«

»Von der Tatwaffe. Die Levinsohn hat Zucker mit irgendeinem Werkzeug zum Ausstanzen von Aluminium oder Leinwand ermordet. Stich ins Herz. Irgendwann vorher hat sie das Teil einmal neben sich in den Boden gesteckt, als sie außerhalb des Hangars arbeitete. Und …« Traut winkte ab, als Florian heftig den Kopf schüttelte, »… komm jetzt bloß nicht mit, ´das würde sie nie machen.`«

»Das würde sie nie machen. Sara Levinsohn würde niemals ein Werkzeug in den Boden stecken, wo es Erdspuren abbekäme.«

»Weil Sie bei dir immer so sorgfältig Staub wischt, oder?«, spottete Traut.

»Zum Beispiel. Warum war sie verwirrt? Hat ihr jemand eine Betäubung verpasst, um in der Zwischenzeit Zucker zu ermorden und alles schön appetitlich für die Polizei anzurichten?«

»Das würde der Verteidiger behaupten. Unser Psychologe sagt, dass Typen wie die Levinsohn auf starken Stress mit kurzzeitigem Bewusstseinsverlust reagieren können, das ist nicht ungewöhnlich. Diese Typen beginnen zu verdrängen, wenn das Messer noch im Opfer steckt.«

»Unsinn«, widersprach Florian energisch, »die Levinsohn ist hartgesottene Fliegerin und fährt Auto wie ein betrunkener Teufel. Die macht anderen Leuten Stress, aber fällt nicht um, wenn sie selbst Stress hat.«

Aus einem Schrank kam lautes Hämmern.

»Der Fernkopierer, eine Fernfotoübertragung, dauert eine Weile«, erklärte Traut.

Während das hektische Hämmern andauerte, las Florian weiter. Sara Levinsohns Fingerabdrücke waren an der Tatwaffe, das Werkzeug selbst war mit Blut bedeckt und zeigte keinerlei weitere Spuren.

»Ist irgendjemandem aufgefallen, dass der Drehflügler draußen vor dem Hangar stand?«, fragte Florian.

»Es gibt einige Tatortskizzen, hinten angehängt«, erklärte Traut. Das Hämmern hörte auf, Traut drückte sich schnaufend hoch und trat an den Schrank.

»Soll ich dir erzählen, was passiert ist?«

Traut stieß einen Pfiff aus und zog das bedruckte Papier mit einem energischen Ruck aus der Maschine.

»Ich brenne darauf«, sagte er kühl.

»Also, die Levinsohn hat nicht an ihrem Rennflugzeug geschraubt. Das ergäbe keinen Sinn, weil ihr Drehflügler draußen stand, also muss sie an dem gearbeitet haben. Hat sich einer deiner Kollegen mal die Mühe gemacht festzustellen, ob die Motoren des Drehflüglers warm waren?«

Traut schüttelte den Kopf.

»Nun, ich sage dir, sie waren es«, fuhr Florian fort, »und ich sage dir auch, dass die Levinsohn kurz vorher geflogen war und kurz danach noch einmal fliegen wollte.«

»Woher bist du so sicher?«

»Betriebsgeheimnis«, sagte Florian, »jedenfalls schraubte sie draußen an ihrem Fluggerät. Jemand schleicht sich von hinten an sie heran, das ist in der Dunkelheit und auf dem Gras kein Problem und betäubt sie. Zucker taucht auf, natürlich hergelockt. Zucker ist vorsichtig bleibt im Hellen, wird umgebracht und die Levinsohn wird in die Halle geschleift, bekommt die Tatwaffe in die Hand gedrückt, Stiel der Waffe im Blut des Opfers, dann wird die Polizei geholt. Gibt es Schleifspuren?«

Traut senkte verkniffen den Kopf. »Was? Nein, was soll die Frage?«

»Weil Schleifspuren meine Theorie bestätigen würde. Dass Sara Levinsohn außerhalb des Hangars betäubt und danach in den Hangar gebracht wurde. Keine Schleifspuren – nicht gesucht oder nicht gefunden?«

»Hammerstain«, begann Traut, die nächste Zigarette im Mund, »du gehst mir eigentlich schon viel zu lange auf die Nerven und ich sollte dich jetzt endlich auf die Straße schmeißen lassen. Aber irgendwie bist du plötzlich interessant geworden. Also sage ich dir, dass mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht nach Schleifspuren gesucht wurde. Aber selbst wenn gesucht worden wäre, ohne sie zu finden, bedeutet das nichts. Die Levinsohn ist ein Fliegengewicht. Ein durchschnittlicher Mann könnte so ein Püppchen auf der kurzen Strecke problemlos tragen und hätte sogar noch Spaß dabei. Aber das ist Theorie.«

»Hat man sonst Spuren gefunden? Im Hangar?«

»Himmel, Hammerstain, da sind zuerst die Männer von der Bereitschaftspolizei rein, dann der Arzt, dann erst die Ermittler. Bis die anfingen, waren ganze Kohorten durch den Hangar gelatscht, weil die Journalisten sich wie üblich an die Streifenwagen gehängt haben, um zu sehen, ob es eine Sensation gibt, die die Auflagen treibt.«

»Und was macht mich jetzt interessant«, fragte Florian mit hochgezogenen Brauen, »meine Eitelkeit sucht nach Bestätigung.«

Traut ließ das Blatt aus dem Telekopierer über den Tisch gleiten. Florian nahm es und betrachtete es ausführlich.

»Ein ziemlich unvorteilhaftes Foto«, sagte er dann.

Traut stieß eine Mischung aus Husten und Lachen aus. Er lehnte sich zurück und legte seine Füße auf den Tisch.

»Ja, die Technik des Fernkopierens kann selbst einem männlich markanten Antlitz wie dem des Silwester Hammerstain abträglich sein. Aber gräme dich nicht. Du bist eindeutig erkennbar und darum …« Traut riss die Füße von der Tischplatte und beugte sich zu Florian, »…frage ich mich, warum du als gesuchter Ausbrecher aus irgendeiner Anstalt …«

»Geschlossene Anstalt für gemeingefährliche Geistesgestörte Heiligenwald, steht hier«, unterbrach ihn Florian lässig.

»… warum du die Chuzpe hast, hier bei mir aufzutauchen? Wirklich, dass du kalt wie eine Hundeschnauze bist, wissen wir seit längerem. Aber das hier ist wirklich allererste Sahne. Du weißt, ich könnte dich über den Haufen schießen und es würde nicht mal eine interne Untersuchung geben. Peng, Peng, Unterschrift unters Protokoll und ich wäre einen Kerl los, der mich erpressen könnte und der auch sonst nur Ärger macht.«

»Nur zu«, sagte Florian und blickte Traut in die Augen, »ich möchte mir nur die Ohren zuhalten, wenn du schießt. Ich bin nämlich so sensibel und lärmempfindlich.«

»Du würdest den Knall nicht mehr hören, weil nämlich der Teil deines Gehirns, der für Geräuschempfindungen zuständig ist, nur noch Frikassee sein wird.«

»Nur zu«, wiederholte Florian gelassen.

Traut blies kopfschüttelnd den Rauch aus. Als er Florian anblickte, zuckten seine Mundwinkel.

»Oh Mann, Hammerstain, aus dir soll einer schlau werden. Du rauchst nicht, du stinkst nicht nach Fusel, du hast ein paar Kilo abgenommen, du machst die Flitze aus einer geschlossenen Anstalt, aus der bisher niemand fliehen konnte und dann stiefelst du zu mir ins Büro und willst eine Mörderin freibekommen. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Das ist genau das, was ich interessant nenne.«

»Wer leitet diese geschlossene Anstalt Heiligenwald?«, fragte Florian.

Traut verzog den Mund, griff aber zum Telefon und stellte einem Mitarbeiter die Frage.

»Der Kollege ruft zurück«, erklärte er, »bis dahin kannst du mir erzählen, wie es so in der Klapse war.«

»Lange Geschichte. Wenn ich dort war, kann ich mich nicht erinnern. Mir fehlen zehn Tage, aufgewacht bin ich im Büro von Dr. Spellberg.«

»Spellberg, dieser Psycho-Heilige, der jetzt auch im Filmgeschäft ganz groß rauskommt?«

»Genau der. Und wieso Filmgeschäft?«

»Hammerstain, du lebst wohl hinter dem Mond. Er hat in vielen Reden und Artikeln den Film als das Medium der Zukunft gefeiert. Seit es den Tonfilm gibt, betreibt er eine Produktionsfirma. Du hast dir tatsächlich Teile deines Hirns mit Sprit weggespült, was?«

Florian schloss für einen Moment die Augen und erinnerte sich an den Behandlungssaal, an den Mann auf der Liege, an die hektisch wechselnden Bilder, die Musik, die großen Kopfhörer.

»Wenn ich wüsste, dass es das wäre, könnte ich zufrieden sein«, sagte er.

»Das wird ja immer doller«, grunzte Traut und schüttete sich Kaffee ein, den er schwarz und ungezuckert herunterkippte. Das Telefon schepperte. Traut nahm ab, sein Gesicht verfinsterte sich.

»Schau mal einer guck, der gute Dr. Spellberg ist auch für eine Abteilung in der Klapse verantwortlich. Seltsam das. Aber was meintest du damit, dass du froh wärst und so weiter, Hammerstain?«

Florian deutete auf seine Narbe an der Schläfe und gab einen kurzen Bericht über seinen Aufenthalt im Sanatorium.

»Also bist du tatsächlich abgehauen«, stellte Traut fest, »und das ist Spellberg so peinlich, dass er dich gleich zum geflohenen gemeingefährlichen Irren umwidmet. Du bist dir klar darüber, dass deine Visage in allen Polizeistationen des Landes aus dem Telekopierer gerattert ist?«

»Ich habe Löcher in der Erinnerung, aber ich kann noch bis drei zählen«, konterte Florian, »aber egal wo das Foto herkommt, es sieht mir nicht mehr allzu ähnlich.«

»Dieser eitle Kinnbart und dein Gewichtsverlust macht was aus«, stellte Traut fest, »außerdem trägst du ja immer Hut. Mhm.« Traut stockte und holte schließlich eine Lupe heraus.

»Was ist, Traut?«

»So weit ich das erkennen kann, hast du auf dem Foto keine Narbe. Und du siehst ja tatsächlich jünger aus, das Foto muss einige Jahre alt sein. Trotzdem solltest du vermeiden, in eine Polizeikontrolle zu geraten. Aber kommen wir zurück zum Thema!«

»Und das war?«, erkundigte sich Florian vorsichtig.

»Die kleine Levinsohn.«

Florian fächerte die Unterlagen auf dem Schreibtisch aus.

»Also«, begann er zögernd. Jetzt musste er Traut überzeugen. Jetzt oder nie. »Die Levinsohn ist nicht die Täterin, weil sie in der fraglichen Nacht zwei Flüge zu absolvieren hatte. Ich kann das beschwören, werde aber jetzt keine weiteren Angaben machen. Sie befand sich also draußen, neben ihrem Drehflügler, sie hatte keinen Grund, neben dem Rennflugzeug zu sein. Das Teil ist eingemottet, hat sie mir selbst gesagt. Sie hatte auch weder Zeit noch Grund, in genau dieser Nacht Zucker in den Hangar zu bitten. Nächster Punkt: Das angebliche Mordwerkzeug wurde ihr in die Hand gedrückt, Zucker wurde mit einem anderen Werkzeug erstochen. Nächster Punkt: Zucker lag schon auf dem Boden, bevor er getötet wurde. Irgendjemand hat ihn umgehauen, Tritt in die Kniekehlen oder so und das war nicht Sara Levinsohn. Zucker war dreimal so schwer wie sie und zweieinhalb Köpfe größer, der lässt sich von so einer nicht umschubsen. Also hatte der Mörder eine ganz andere Statur.«

»Wie kommst du darauf, dass Zucker umgehauen wurde?«, fragte Traut und stellte sich hinter Florian. Der zeigte auf das Tatortfoto. »Schau dir die Hände an. Beide Arme sind nahe am Körper, die Handflächen sind auf den Boden gepresst. Zucker wird umgehauen, versucht sofort sich aufzurichten und dann – zack – war es das für ihn. Seltsam, dass der Mörder von oben eingestochen hat, das ist ungewöhnlich.«

Tausend feine Nadeln schienen in Florians Schläfen zu stechen. Er schnappte nach Luft, musste husten, weil ihm der Rauch in die Lungen kam und lehnte sich zurück. Da war etwas. Es gab etwas, das er wissen sollte, weil es eine Verbindung mit dem Fall hatte und weil es irgendwo in seinem Gedächtnis war. Aber er bekam es nicht zu fassen, mal wieder.

Traut klopfte Florian auf die Schulter und wirkte in diesem Moment beinahe väterlich besorgt.

»Was ist mit der Theorie, dass die Levinsohn zwar die typische halbe Portion ist, aber irgendwie gelernt hat, wie man schwerere Gegner aufs Kreuz legt. Unsere Kolleginnen können das auch«, wandte er ein.

»Es gibt physikalische Grenzen«, widersprach Florian, »Levinsohn gegen Zucker ist wie ein Staubfeudel gegen einen Wasserturm. Und nehmen wir an, mit langer Übung und ausgefeilter Technik bringt eine zierliche Frau so was zustande – die Levinsohn gehört nicht zu der Kategorie.«

»Vielleicht hat sie einfach in all den Jahren als deine Assistentin den Impuls unterdrücken können, dich mal fachgerecht zu vermöbeln«, meinte Traut grinsend.

Florian schüttelte wieder den Kopf. »Das ist auszuschließen.«

»Warum?«

»Weil sie dann auch die Polizisten zerlegt hätte. Selbst wenn sie halb im Tran war, das sind instinktive Reaktionen. Wer das kann, lässt sich nicht einfach so festnehmen und zum Fallbeil transportieren.«

Traut steckte die Hände in die Taschen und begann eine stumme Wanderung durch sein Büro. Zwischendurch steckte er den Kopf aus der Tür, brüllte auf den Flur »Gibt es in diesem Puff eigentlich keinen Kaffee mehr?«

Sekunden später stürzte eine sichtlich panische Sekretärin mit einer vollen Thermoskanne in das Büro und verschwand ebenso schnell mit der leeren.

»Du hast deine Leute im Griff!«, griente Florian.

Traut verzog den Mund. »Praktikantin, seit zwei Tagen hier, da kann ich sie noch beeindrucken. Ab der zweiten Woche muss ich mir den Kaffee wieder selbst holen.«

Er goss sich ein und schob Florian eine zweite Tasse zu. Der Kaffee schmeckte wie ein chemisches Kampfmittel, aber er glitt angenehm warm die Kehle hinab und munterte auf.

»Warum die Levinsohn?«, fragte Traut, »warum die kleine Levinsohn, die keiner Fliege was zuleide tun kann und außerdem aus einer der besten Familien des Reiches stammt. Warum wird sie in die Pfanne gehauen und nicht einer von den Millionen Feinden, die Zucker auf der Welt hat?«

»Weil es plausibel ist. Wenn ich ehrlich bin, habe ich für kurze Zeit auch mit dem Gedanken gespielt. Ihr Bruder ist eine große Nummer im Bankenbereich. Schwesterchen Sara taucht bei einem versoffenen Schnüffler unter und nutzt dessen Kenntnisse, um alles über Zucker rauszufinden. Über seine Organisation, seine Beteiligungen. Und dann schaltet sie Zucker aus und tritt an seine Stelle. Ab dann ist Berlin Levinsohn-Land. Er oben, sie unten. Unbesiegbar.«

»Ich denke, solche Gedanken hatten ein paar mehr Leute.«

»Weiß ich. Aber auch wenn man nicht das große Rad drehen will – es gibt eine Verbindung zwischen Zucker und Levinsohn. Keine Ahnung welche, aber es gibt sie. Und deshalb ist der Mord auch dann plausibel, wenn man den ganzen ´Wir übernehmen Berlin` Quatsch beiseite lässt.«

»Nun gut, Hammerstain, sagen wir mal, du hast mich zwar nicht überzeugt, aber ich bin es leid, dass du mir die Ohren voll quatschst. Nehmen wir also an, ich bemühe mich, die kleine Levinsohn auf Kaution freizubekommen. Weißt du, was dann passiert? Sie kommt aus dem Knast und wird fünf Meter weiter umgenietet, weil irgendeiner von den Zuckererben sich den Orden ´Wir haben die Mörderin des guten Onkel Zucker bestraft` ans Revers heften will. Im Gefängnis ist sie am sichersten.«

»Die Zucker-Jungs sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Für das Mädel haben sie gar keine Zeit, sie müssen sich gegenseitig umbringen.«

Florian schaute die Akte mit den Beweismitteln durch. »Das Problem ist außerdem, dass auch im Gefängnis ein Anschlag auf sie verübt werden kann. Und außerdem soll der Prozess wohl sehr schnell beginnen. Wenn sie im Gefängnis und unter Anklage bleibt, besteht sie in vier Wochen aus zwei Teilen.«

»Ich würde sagen, drei Wochen, die Staatsanwaltschaft wird den Prozess schnell durchziehen«, rechnete Traut ganz trocken nach. »Mann, der Staatsanwalt wird toben, wenn ich ihm sage, dass die Indizien nicht ausreichen.«

»Der will auch keine Unschuldige unters Fallbeil bringen«, vermutete Florian.

»Hammerstain, du bist ein Idealist. Was passiert, wenn ich die Levinsohn frei eise?«

»Du hast was gut bei mir.«

»Mir kommen die Tränen.«

»Traut, spotte nicht über den alten Silwester Hammerstain. Ich will es mal so formulieren. Mein alter Kanalratteninstinkt sagt mir, dass hinter der Sache mehr steckt. Was für mich dabei rauskommen kann, ist meine Sache. Aber du könntest die Treppe rauffallen. Der Leiter der Kommission für Schwerverbrechen steht kurz vor der Pensionierung, stimmt ´s?«

»Woher weißt du das?«

»Keine Ahnung, ich weiß es eben. Wundert mich zwar auch, aber egal. Das wäre doch noch mal ein Karrieresprung. Traut, der Mann mit der sauberen Weste, der sich im Zucker-Fall mit Ruhm bekleckert hat. Das gibt einen Reichsorden und ein Gehalt, mit dem man wirklich sauber bleiben kann, selbst wenn die Kinder studieren wollen oder eine ärztliche Behandlung brauchen.«

Traut war blass geworden, als Florian von der weißen Weste sprach. Da war also was und er musste es rauskriegen. Jetzt aber deutete er auf einen kleinen Zettel, der offensichtlich aus einem Notizbuch gerissen worden war.

»Den haben wir in Zuckers Tasche gefunden, daher auch das Blut an der Ecke.«

»Ist das Sara Levinsohns Schrift?«

»Es ist eine völlig neutrale Blockschrift, die kann man nicht zuordnen.«

Florian hielt die durchsichtige Papiertüte mit dem Zettel an die Nase.

»So eine grüne Tinte mit demselben Duft ist mir heute schon einmal begegnet«, erklärte er.

»Es gibt in Berlin ungefähr dreihundert Läden, die diese Tinte verkaufen. Haben wir nachgeprüft.«

»Und wie teuer ist diese Tinte?«

Traut hob die Achseln. »Das kann ich dir nun nicht sagen, weil es uns nicht interessiert hat. Aber eines kann ich dir sagen – sie ist teuer. Ein Luxusprodukt.«

»Seltsam«, überlegte Florian, »wieso kann sich eine Krankenschwester im Sanatorium Seelensonne so ein Luxusprodukt leisten? Werden die so gut bezahlt?«

»Vielleicht ist es ihr Steckenpferd?«

»Jedenfalls habe ich solche Tinte bei der Levinsohn nie gesehen.«

»Sie wurde auch nicht gefunden«, erklärte Traut, »aber der Zettel ist mit einem Füllfederhalter beschrieben worden und den kann man mit einem weiten Wurf hinter den Busch für immer verschwinden lassen.«