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Aëlita – Teil 24

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Gussew beobachtet die Stadt

Icha hatte völlig den Kopf verloren. Sie tat unverzüglich alles, was Gussew von ihr wollte, und blickte auf ihn mit verschleierten Augen. Es war zum Lachen, aber sie war auch zu bedauern. Gussew behandelte sie streng, doch gerecht. Wenn der Überschwang der Gefühle Ichoschka ganz und gar zu übermannen drohte, nahm er sie auf den Schoß, streichelte ihren Kopf, kraulte sie hinter dem Ohr und erzählte ihr allerhand spaßige Geschichten. Sie hörte ihm in völliger Geistesabwesenheit zu.

Der Plan, in die Stadt zu entwischen, saß wie ein Keil in Gussews Kopf. Hier kam er sich vor wie in einer Mausefalle. Weder konnte man sich verteidigen, wenn es soweit kommen sollte, noch davonlaufen. Und ihnen drohte eine ernste Gefahr, daran hegte Gussew keinen Zweifel. Seine Gespräche mit Losj hatten zu nichts geführt. Losj hatte nur das Gesicht verzogen, der sah ja die ganze Welt nicht mehr hinter dem Rock von Tuskubs Töchterlein.

»Was sind Sie für ein unruhiger Mensch, Alexej Iwanowitsch«, hatte er gesagt. »Na, wenn sie uns schon totschlagen – wir zwei fürchten uns doch nicht vor dem Tod. Wir hätten ja auch in Petrograd sitzenbleiben können. Was könnte ungefährlicher sein?«

Gussew befahl Ichoschka, ihm die Schlüssel zu dem Schuppen zu bringen, wo die geflügelten Boote standen. Er schlich sich mit einer Laterne dorthin und war eine ganze Nacht damit beschäftigt, ein kleines, offenbar schnellfliegendes, zweiflügeliges Boot zu untersuchen. Der Mechanismus war sehr einfach. Der winzige Motor wurde von Körnchen eines weißen Metalls gespeist, das unter der Einwirkung von elektrischen Funken mit einer ungeheuerlichen Kraft zerfiel. Die elektrische Energie erhielt der Apparat während des Fluges aus der Luft, da der Mars von Hochspannungsstrom überzogen war, den die Kraftstationen an den Polen aussandten. Aëlita hatte davon erzählt.

Gussew zog das Boot bis dicht an das Tor des Schuppens. Den Schlüssel gab er Icha zurück. Im Notfall war es nicht schwer, das Schloss mit der Hand abzureißen.

Danach beschloss er, die Stadt Soazera unter Kontrolle zu nehmen. Icha hatte ihm gelehrt, wie der matte Spiegel einzuschalten sei. Dieser sprechende Spiegel in Tuskubs Haus konnte einseitig eingeschaltet werden, das heißt so, dass man selber unsichtbar und unhörbar blieb.

Gussew durchforschte die ganze Stadt: die Plätze, die Geschäftsstraßen, die Fabriken, die Arbeitersiedlungen. Ein seltsames Leben offenbarte sich ihm und glitt auf der matten Scheibe des Spiegels an ihm vorbei.

Niedrige Fabriksäle mit Ziegelwänden, trübes Licht durch staubige Fenster. Niedergeschlagene, runzlige Arbeitergesichter mit tief in den Höhlen liegenden leeren Augen. Ewig und ewig sich drehende Werkbänke und Maschinen, gebeugte Gestalten, präzise Arbeitsbewegungen – ein trostloses Ameisendasein ohne jede Hoffnung. Es tauchten die geraden, gleich orangen Straßen der Arbeiterwohnviertel auf. Dieselben niedergeschlagenen Figuren bewegten sich auf ihnen, mit tief gesenkten Köpfen. Tausendjährige Traurigkeit und Langeweile wehte einen an von diesen ziegelsteinernen, sauber gefegten und einer dem anderen gleichenden Korridoren. Hier, und das war offensichtlich, hoffte man auf nichts mehr.

Es erschienen die großen Plätze im Mittelpunkt der Stadt: stufenförmig gebaute Häuser, vielgetöntes Grün von Kletterpflanzen, Fensterscheiben, in denen sich die Sonne spiegelte, elegante Frauen; mitten auf der Straße kleine Tische, darauf schmale, mit Blumen gefüllte Vasen; die strudelnde, auf und ab flutende geputzte Menge, die schwarzen weiten Mäntel der Männer, die Fassaden der Häuser – all das wurde von dem parkettartigen grünlichen Straßenpflaster widergespiegelt. Goldene Boote sausten, niedrig fliegend, vorbei, die Schatten ihrer Flügel glitten über die Köpfe, zurückgebogene Gesichter lachten, leichte bunte Schals flatterten …

Die Stadt lebte ein zweifaches Leben. Gussew hatte das sehr wohl bemerkt. Als ein Mann von großer Erfahrung fühlte er, dass außer diesen beiden Seiten hier auch noch eine dritte vorhanden sein müsse – eine illegale. Und tatsächlich, in den prächtigen Straßen der Stadt, in den Parks – überall schlenderte eine große Anzahl unordentlich gekleideter, abgezehrter junger Marsianer umher. Sie trieben sich ohne jede Beschäftigung herum, die Hände in den Taschen, und schauten um sich. Gussew dachte bei sich: Hehe, diese Stückchen kennen wir auch.

Ichoschka erklärte ihm alles ausführlich. Nur zu einem ließ sie sich nicht mehr herbei. Sie wollte den Spiegel nicht mehr auf das Haus des Höchsten Rates der Ingenieure einstellen.

Entsetzt schüttelte sie ihr rotes Haar, legte flehend die Hände zusammen: »Bitten Sie mich nicht darum, Sohn des Himmels, schlagen Sie mich lieber tot, teurer Sohn des Himmels.«

Eines Morgens, es war der vierzehnte Tag, setzte sich Gussew wie gewöhnlich in den Sessel – die Zifferntafel hatte er sich auf die Knie gelegt – und zog an der Schnur.

An der Spiegelwand erschien ein sonderbares Bild: Auf dem großen Platz im Mittelpunkt der Stadt standen besorgt aussehende, miteinander flüsternde Gruppen Marsianer umher. Die Tischchen, die Blumen und bunten Sonnenschirme waren vom Straßenpflaster verschwunden. Da kam eine Abteilung Soldaten. Sie marschierten in Dreieckformationen, mit steinernen Gesichtern wie schreckliche Puppen. Weiter, in einer der Geschäftsstraßen – eine laufende Volksmenge, ein Zusammenstoß, und dort ein Marsianer, der sich mithilfe seiner geflügelten Maschine in schraubenförmigem Flug einer Rauferei entzog. Im Park dieselben aufgeregt flüsternden Grüppchen. In einer der Fabriken durcheinanderredende Haufen von Arbeitern, erregte finstere und wütende Gesichter.

In der Stadt war offenbar etwas geschehen: ein Ereignis von außerordentlicher Bedeutung. Gussew schüttelte Ichoschka an den Schultern: »Worum handelt es sich?« Sie schwieg und blickte ihn nur mit matten verliebten Augen an.