Der Freibeuter – List und Gewalt
Der Freibeuter
Dritter Teil
Kapitel 11
Schweden war in arger Verwirrung. Der hohe Adel, im Geheimen immer von der jüngeren, falschen Schwester des Königs und von deren Gemahl, dem Prinzen von Hessen-Kassel, begünstigt, hatte sich mit heftigen Diskussionen seines alten Wahlrechtes wieder bemächtigt. Der listige Graf Horn, plötzlich als Organ der lange niedergehaltenen Aristokratie an der Spitze derselben, lenkte die Wahl mit schlauer Berücksichtigung seiner eigenen Vorteile auf die schwache Ulrike Eleonore. Selbst für den vorausgesehenen Fall, dass sie ihren Gemahl als Mitregenten annehmen oder ihm gar die Alleinherrschaft übertragen würde, war der herrschende Adel gedeckt, denn Prinz Friedrich war ein Schwächling an Leib und Seele, lenksam, nachgiebig, in kleinlichen Begriffen befangen, der sich für die nüchterne Ehre, König von Schweden zu heißen, alles gefallen ließ, kurz, ein König, wie ihn der hohe Reichstag sich nicht besser wünschen könnte. Der Erfolg hat die Voraussetzung des Adels gerechtigt. Die schwache und unbedeutende Regierung König Friedrichs hat für sein persönliches Wollen und Tun, für sein Eingreifen in die Räder des Staats sich keinen Platz in der Geschichte verschaffen können. Man hört in jenen dreißig Jahren, während welchen er die schwedische Krone trug, nur von den gewaltigen Kämpfen der Adelsparteien, von jenem weltberühmten Streit der Mützen und Hüte oder der Hornschen und Güllenborgschen Partei, und der lächerliche König war nur der Spielball bald der einen, bald der andern, bald sogar beider zugleich.
Das erste Aufbrausen des von Karls des Zwölften Geist niedergedrückten Adels, nach der Ermordung des Königs durch Meuchlerhand, glich dem eines wilden Rosses, das, nachdem es lange durch Zaum und Sporn zugleich zur Wut gereizt und doch auch gebändigt worden ist, sich plötzlich vom strengen, geschickten Reiter befreit sieht, die lästigen Zäume abstreift und nun dahin rast, wohin es seine Tollheit führt, und mit dem Huf zerschmettert und zerstampft, was ihm lange ein Ärgernis gewesen ist. In der ersten Zeit war an keine Ordnung in den Geschäften zu denken, alles ging tumultuarisch- chaotisch durcheinander. Nur Rache lechzten alle, im Durst nach Rache an dem genialen Ratgeber des Königs, an dem edlen Görz, von welchem sie sich durchschaut wussten, waren sie alle eins. Mit der nichtswürdigsten Parteilichkeit, mit dem empörendsten Unrecht wurde Görz der Prozess gemacht. Er durfte sich nicht verteidigen, er durfte die Berechnungen seiner Verwaltung nicht vorlegen. Seine Feinde wussten so, dass er für Schwedens Wohl gearbeitet hatte und dass er sich glänzend rechtfertigen konnte, aber sie wollten sein Blut.
Aber auch der dritte Stand, bis jetzt noch niemals berücksichtigt, der Stand, der dem Staat Leben gibt, indem er ihn erhält durch die Arbeit seiner Hände. Auch Bürger und Bauern regten sich und wollten beim Reichstag vertreten sein. Dies verursachte tobende Zusammenkünfte, Zank und Streit, und eine ungeheure Bewegung ging von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, durch das ganze Schwedenreich.
Norcroß trat in Marstrand mitten in die Bewegung hinein. Alles staunte, den Mann zu sehen, auf dessen Kopf ein Preis gesetzt war, und die große Masse war sogleich für ihn gestimmt und sehr geneigt, ihm mit Auszeichnung zu begegnen. Seine näheren Freunde und Bekannte, welche die Lage der Dinge in Schweden besser kannten, beschworen den Kapitän einstimmig, sein Schiff wieder zu besteigen und so schnell wie möglich von der schwedischen Küste zu fliehen, wo für ihn keine glücklichen Tage mehr aufdämmern könnten. Aber je mehr man ihm zuredete, desto heißer erwachte in ihm die Liebe zu Frau und Kind, desto heftiger glühte das Verlangen in ihm auf, sich zu rechtfertigen und seine Ehre zu retten. Er ließ alle seine Leute in Marstrand zurück – selbst Juel durfte ihn nicht begleiten – und reiste allein nach Stockholm.
Es war schon Nacht, als er ankam. Am Tor nannte er furchtlos seinen Namen. Das Fuhrwerk ließ er in einem Gasthof zurück und ging zu Fuß zu seiner Behausung. Über den Säugling gebeugt saß Dina allein im Zimmer, als Norcroß hereintrat. Ihr Schrecken war heftig. Aber selbst mit zitternden Armen zog sie ihn an ihr vor Angst aufwallendes Herz, selbst mit bleichem Mund gab sie ihm den Kuss der Liebe. Aber dann rief sie mit bebender Stimme: »Norcroß, um Gotteswillen, was willst du hier? Mich noch einmal heimlich sehen und dein Kind, und dann Schweden für immer verlassen? Oder uns mit dir nehmen? Ja, ja das Letztere, du wolltest nicht ohne uns deine Ferse auf ewig dem Land zukehren, wo unser nur Unglück wartet. Aber warum dich selbst hierher wagen? Warum dein teures Leben aufs Spiel setzen? Warum selbst in die Löwengrube deiner Feinde hinabsteigen? Du konntest uns ja einen Boten schicken, und ich wäre dir nachgesegelt bis ans Ende der Welt.« So koste sie furchtsam und freudig zugleich, streichelte ihm das bärtige Kinn dazu und zog ihn zur Wiege, wo sein kleines Ebenbild schlummerte. Er hatte sie ausreden lassen und betrachtete sie dann mit düster-wehmütigen Blicken. »Nicht also, Dina«, sprach er dann. »Zwar bin ich gekommen, dich aus diesem Land hinwegzuführen, das außer dir nichts Angenehmes mehr für mich hat. Aber nicht heimlich, nicht wie ein Dieb will ich herein- und hinausgehen und dich stehlen, als wärst du eines anderen Eigentum. Auch will ich nicht allein dich mir hier holen, sondern auch meine Ehre. Nicht feige bin ich geflohen vor den versteckten Angriffen meiner Feinde, nein, ich bin aus freiem Antrieb gekommen, mich ihnen gegenüberzustellen, Stirn gegen Stirn, Auge in Auge. Sie sollen sehen, dass Norcroß ein Mann von unerschütterlichem Mut und unbefleckter Ehre ist.«
»Wehe uns, dann bist du verloren!«, kreischte Dina auf. »Sie werden dich fangen wie den gemeinsten Verbrecher. Sie werden dir das Leben nehmen wie dem abscheulichsten Bösewicht!«
»Tröste dich, Kind, sie werden es nicht tun. Noch ist das Recht nicht untergegangen in der Menschen Brust, und selbst den Schurken ergreift ein Schrecken, wenn es leuchtend ihn antritt und mit gebieterischem Blick Anerkennung fordert.«
»O, John! Du bist im Irrtum. Hier triumphiert die Bosheit. Wer soll dich retten, wenn sie dich in den Kerker werfen, wie den Baron Görz, dessen Freund und Helfershelfer sie dich allgemein nennen? Du weißt nicht, was hier vorgegangen ist.«
»Ich weiß alles, liebe Frau. Aber der meiner Ehre angetane Schimpf hätte mich aus dem entferntesten Winkel des großen Ozeans hierher getrieben und bestände der Reichstag aus lauter blutdürstigen Tigern.«
»Aber du bist uns dein Leben schuldig, mir, deinem Kind!«
»Die Ehre gilt mir mehr als das Leben.«
»So höre denn: Der Kammerherr von Wollstrupp hat sich an mich gedrängt und mir zugeschworen, so wie dich ihre Spione erwischten, in welchem Land Europas es auch immer sei, so wäre dein Tod gewiss. Ach, und auf diese Bestimmtheit gründete er ein Recht zu seinen frechen Anträgen, die ich dir zu wiederholen erröten muss. Da empfand ich recht mit tiefen Schmerzen, dass mein Vetter, der Graf Mörner, nichts mehr galt. Sein Todfeind, der Graf Horn, ist hier der allmächtige Gott.«
»Und dieser Nachtvogel, dieser Schurke Wollstrupp, wagt sich auch wieder ans Tageslicht hervor?«
»Fürchte ihn! Du hast ihn beleidigt, er ist ein entsetzlicher Mensch.«
»Ja, ja, die Sonne Schwedens ist untergegangen, und alle lichtscheuen Fledermäuse, alles böses Nachtgeflügel und finsternisliebende Gewürm kriecht nun aus den Winkeln und Löchern hervor, in welchen es seither versteckt war. Doch ruhig nur, meine teure Frau, wenn sich ein Licht zeigt, so flieht das Volk schreiend in seine alten Hinterhalte.«
»John, John! Du bist keine Sonne, die die Nacht verdrängen könnte. Du bist nur der Mond, der sein Licht von der Sonne erhielt. Die Sonne ist ausgelöscht und du bist lichtlos geworden. Oder du bist nur eine stille Leuchte, deren bescheidener Strahl gerade alles Nachtgeflatter heranzieht und um sich versammelt, damit sie mit roher Gewalt darauf stürmen und es verlöschen.«
»Nun, so will ich lieber sterben, als beschimpft leben.«
Vergebens umschlang Dina seinen Hals, vergebens weinte sie Tränenströme; er war und blieb fest.
Und es war wirklich so, wie Norcroß vorausgesagt hatte. Seine Feinde staunten teils über sein Erscheinen, teils erschraken sie über sein festes, furchtloses Auftreten in Stockholm. Mit der freien Stirn der Unschuld erschien der Freibeuter an öffentlichen Orten, machte Besuche, sprach mit Ruhe und Bestimmtheit von seiner kritischen Lage und stellte sich, als man keine Notiz von ihm nehmen zu wollen schien, mit der Würde des gekränkten Selbstbewusstseins vor den Grafen Horn, Haupt und Lenker des Reichstags, mit klaren Worten von demselben verlangend, dass ihm vor dem versammelten Reichstag eine öffentliche Verteidigung und Rechtfertigung seiner Handlungen während seiner Dienstzeit in Schweden gestattet würde, die ihm so von Gottes- und Rechtswegen gebühre. Der Graf entschuldigte sich schlau mit den ungeheueren Geschäften, welche die gänzliche Umänderung der Regierungsform mit sich bringe, doch würde ihm diese Erlaubnis vonseiten des Reichstages gar nicht entgehen, obwohl er ein Ausländer und Anhänger einer politischen Meinung sei, welche in Schweden jetzt ihre Bedeutung verloren habe.
»Exzellenz«, sagte Norcroß mit einem festen Blick, »ich hänge der Wahrheit an und dem Recht und es ist fürwahr schlimm, wenn diese in Schweden ihre Bedeutung verloren haben.«
»Ihr seid sehr kühn!«, sprach der Graf lächelnd. »Aber einem Seemann mag es schon hingehen, der zumal so hoch in der Gunst des verstorbenen Königs stand.«
»Ich frage nicht danach, was in Schweden noch Bedeutung hat und was nicht. Meine Ehre will ich zurück. Freche Hände haben sie mir hier geraubt, seit sich zwei Augen geschlossen habe, die mir mehr galten als nun das ganze Schwedenreich. Meine Ehre will ich wieder und dann gehen.«
»Macht doch aus jener Bekanntmachung nicht so viel!«, versetzte der Graf fein. »Sie ist in der ersten Aufwallung der Gemüter, wo noch alles drunter und drüber ging – Gott weiß, von wem – gemacht worden.«
»Gut! So soll sie der Reichsrat zurücknehmen und mich für einen ehrlichen, braven Mann erklären, der der Krone Schweden drei Jahre lang mit Treue und Eifer gedient hat. Weiter verlange ich ja nichts.«
»Tröstet Euch nur! Dies werdet Ihr bald erlangen, Kapitän Norcroß. Habt noch eine kleine Weile Geduld, bis wir aus dem Gröbsten sind, dann soll es auch an Eure Sache kommen.«
Norcroß ging und wartete Wochen lang; aber es kam nicht daran. Bald wurde er inne, und die Meinungen seiner Frau und einiger ihm gleichgesinnter Freunde bestätigten ihn darin, dass er von geheimen Spionen umgeben war. Zwar versuchte er es noch einige Male durchzudringen, aber es gelang ihm nicht. Dass er auf diese Weise scheitern müsse, hatte er freilich nicht geglaubt. Schlau hatte die List berechnet, dass Norcroß dadurch am besten geschlagen sei, wenn man ihn ungehört hinhalte. Er werde ungeduldig und heftig werden, und sich in der Heftigkeit vergessend, sich gegen die bestehende Regierung vergehen. Dann hatte man die triftigsten Gründe, ihm zu Leibe zu gehen. Leider gelang dieser nichtswürdige Plan nur zu gut.
In roher und gewaltiger blinder Parteiwut gegen den Freiherrn von Görz unter seinen Richtern und den Beisitzern des Reichstages sich offenbarte, und je weniger man sich Mühe gab, auch nur die Maske von Rechtlichkeit festzuhalten, um so dringender rieten Norcroß’ Frau und Freunde ihm zur Flucht, um so kälter und fremder wurden seine scheinbaren Freunde. Er sah sich bald verlassen und allein stehend, denn sein unbändiger Stolz ließ nicht zu, dass er sich jemandem näherte.
In diesem ungewissen und für Norcroß schier unerträglichen Zustand waren mehrere Wochen vergangen, und im Stillen fing er an, zu bereuen, dass er dem Rat seiner Freunde nicht gefolgt und nach Stockholm gegangen war. Jetzt hielt ihn eigentlich nur Görz’ Prozess zurück. Da erfüllte die Stadt plötzlich das Gerücht von dem Todesurteil des Barons und der schleunigen Vollziehung desselben.
Das war ein Donnerschlag für Norcroß und alle, die noch Sinn für Recht und Billigkeit in der Brust trugen. Das hatte man doch nicht geglaubt, dass der Wahnsinn der Rachgierde die Seelen der ungerechten Richter so weit treiben könnte, einen offenbaren Mord im Namen des Rechts an dem verdienstvollen Mann zu begehen. Jetzt sah Norcroß ein, welch ein Los auch seiner wartete. Seine Freunde hatten schon bestimmt von seiner baldigen Verhaftung gehört, er gab ihren und seiner höchst besorgten Frau Bitten endlich nach und entschloss sich zur Flucht aus dem Land der Sünden, wo die blinde Rache, nicht die blinde Gerechtigkeit das Richterschwert führte. Mit der größten Behutsamkeit machte er heimlich Anstalten zur Abreise mit Frau und Kind. Er wollte wieder nach Frankreich zurück, wo er sich von mächtigen Freunden Schutz und Unterstützung versprechen durfte. Aber schon war es zu spät. Seine Absicht konnte den lauernden Spionen seiner Feinde nicht mehr entgehen. Er hatte an öffentlichen Orten die Gewaltschritte der Regierung hart und bitter getadelt und seine Worte dabei nicht mit dem Kammerstempel ausgeprägt. Ursache genug, um an ihn zu kommen.
Das Schiff lag im Hafen zur Abreise fertig, in der Nacht sollte der Anker gehoben werden. Seine Frau am Arme führend, dicht in Mäntel gehüllt, mit einer einzigen Dienerin, welche den Knaben trug, trat Norcroß abends spät in den Hafen. Aber kaum hatte er dem seiner im Boot wartenden Matrosen einen Wink gegeben, als er sich plötzlich von bewaffneten Leuten umringt sah.
»Im Namen des Königs! Kapitän Norcroß, Ihr seid Staatsgefangener!«, rief eine schadenfrohe Stimme.
Norcroß erkannte beim Schein der herbeigekommenen Fackeln den Kammerherrn von Wollstrupp in dem Sprecher. Dina schrie laut auf, aber der Kapitän wurde von ihrer Seite gerissen, fortgeführt und in einen unfreundlichen Kerker geworfen.