Die Tauscher 17
Dr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 17
Sie überquerten Industrieanlagen, die Hitze fauchender Abgasflammen war bis in ihre Höhe zu spüren, aus einem Stahlwerk drang ein düsterer roter Schein wie von einem Gewitter und eine rötliche Wolke wälzte sich aus der Werkhalle und verschlang die Umgebung.
Dann blickten die Häuser mit weniger Fenstern in die Nacht, die Straßenbeleuchtung wirkte sparsamer, die Abstände zwischen den Häusern wurden größer. Und dann flogen sie in das große Schwarz, unter, neben, über ihnen war nichts als schwarze Nacht.
Florian hatte keinen blassen Schimmer, wie seine Pilotin den Landeplatz finden wollte. Dennoch traute er es ihr zu. Sie war eine Nervensäge, aber sie log nicht und wahrscheinlich neigte sie nicht einmal zu Übertreibungen.
Und sie würde ihn wieder abholen. Auch das wusste Florian. Sie würde es tun, damit er keinen Verdacht schöpfen könnte. Das war die eine Seite seiner Gewissheit. Die andere Seite, die er sich unwillig bewusst machte, schien unpassend und widersprüchlich. Es war die intuitive Überzeugung, dass er sich auf Sara Levinsohn verlassen konnte. Trotz allem. Vielleicht war es eher ein Wunsch als eine Überzeugung.
Die Rotoren, die bisher über ihm mehr oder weniger im Fahrtwind mitgelaufen waren, begannen sich kräftiger zu drehen. Der ganze Rumpf erzitterte. Florian klammerte sich wieder fester und spürte die abgeschliffene und übertünchte Stelle unter seinen Fingern. In seinem Mund war ein bitterer Geschmack. Der Drehflügler rauschte im Steilflug nach unten, dann knatterten die Rotoren, bremsten den Sturz und machten ihn zu einem sanften Absinken. Im letzten Moment dachte Florian an das Fahrwerk, das sich wieder zusammendrücken würde und zog sich mit beiden Händen am Tritt hoch. Ein oder zwei Atemzüge später setzten sie auf, Sand wirbelte um seinen Kopf und das Rad versetzte ihm einen Klaps auf das Hinterteil.
Er zog sich hoch bis zur Kanzel.
»Zwei Stunden!«, brüllte er und Fräulein Levinsohn deutete auf den Zeiger ihrer Armbanduhr.
Florian sprang in den Sand und lief gebückt in Deckung. Sara Levinsohn startete den Drehflügler, der Rumpf stand fast senkrecht in der Luft, als sie vorwärts und dann steil nach oben flog. Zuerst wurde der helle Rumpf von der Dunkelheit verschluckt, kurz darauf verklang das Motorengeräusch.
Florian hockte sich auf ein Grasbüschel und wartete. Es dauerte, bis sich seine Ohren von dem Fluglärm erholt hatten. Er hätte Ohrenschützer tragen sollen, dachte Florian und ärgerte sich über diese zu späte Erkenntnis. Aber wenn er auch noch immer ein leises Rauschen im Ohr hatte, schien in der Umgebung alles still zu sein. Keine Stimmen, kein Gebell, keine Motoren, kein Klappern von Waffen. Das konnte bedeuten, dass er allein war. Oder dass sich im nächsten Augenblick ein besonders gedrillter Wachtmann aus dem Dunkel auf ihn stürzen könnte.
Die Vorstellung trieb ihn weiter. Zuerst lief er gebückt, dann aufrecht. Sein Ziel war leicht auszumachen, denn die Rakete wurde von Scheinwerfern angestrahlt. Auch wenn sie in einer Senke stand, war der helle Schimmer am Horizont deutlich zu erkennen.
Florian stolperte über Grasbüschel, Kraut und niedriges Gebüsch. Er bewegte sich wesentlich langsamer, als er berechnet hatte. Schließlich stand er am Rand der Senke. Die Beleuchtung, eben noch hilfreich, war jetzt ein Hindernis. Er blieb in Deckung hinter Heidekraut, eng an den sandigen Boden gedrückt. Die Rakete stand inmitten der fast runden Senke, geradezu unwirklich deutlich unter dem Licht der Scheinwerfer, die auf hohen Masten ruhten. Unter der Rakete, zwischen den drei großen Heckflossen, auf denen sie stand, lag schwarzer Schatten.
Florian wartete, aber nichts regte sich. Kein Mensch war zu sehen, die Fenster der Pilotenkanzel in der Raketenspitze waren dunkel. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich beeilen musste. Er stieg genau hinter einem der drei Pfeiler nach unten, holte tief Luft und rannte dann über die grell beleuchtete Fläche. Das Laufen fiel ihm schwer, seine Lungen bekamen nicht genügend Luft und er hatte zuviel Speck auf den Rippen, das wurde ihm nun klar.
Keuchend tauchte er in den Schatten unter der Rakete ein. Er wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, dann begann er seine Untersuchungen.
Und dann kämpfte er sich wieder über das helle Feld und stapfte den sandigen Steilhang zum Rand der Senke hoch. Immer wieder rutschte er aus und musste erschöpft pausieren. Es dauerte lange, bis er es geschafft hatte, dann musste er sich beeilen, weil Sara Levinsohn gleich mit ihrem Fluggerät hörbar werden musste.
Aber sie kam nicht. Florian lief zur Landestelle zurück. Im Licht seiner Lampe, die er immer nur kurz anschaltete, bekam er die Bestätigung. Er hatte sich perfekt orientiert, in Gras und Sand waren deutlich die Mulden zu sehen, die das Fahrwerk eingedrückt hatte. Sogar der Sand, den der Propeller auf die Blätter eines Buschs gefegt hatte, war deutlich zu erkennen. Ein wenig war er selbst über seinen Orientierungssinn verwundert.
Florian wartete. Das Rauschen in den Ohren entpuppte sich nun als Geräusch, das von der nahe liegenden Stadt zu ihm herüber wehte.
Nach einer Stunde begann Florian, sich Sorgen zu machen. Nicht um sich, seltsamerweise, sondern um Fräulein Levinsohn. Wind kam auf, in der Ferne grollte ein Gewitter, einzelne Regentropfen klatschten auf Blätter.
Nach einer weiteren Stunde beschloss Florian, dass er auf eigene Faust von diesem Versuchsgelände kommen musste. Er trottete in Richtung Umzäunung, immer wieder anhaltend und lauschend, ob nicht doch das erhoffte Motorengeräusch zu hören sein würde.
Der Zaun war hoch, schien aber kein wirkliches Problem darzustellen. Den Maschendrahtzaun konnte er hochklettern, über den Stacheldraht konnte er zum Schutz seine Jacke werfen. Florian trug eine Jacke im Uniformstil, graugrün, aus festem Stoff und mit ausreichend vielen Taschen, um einige notwendige Werkzeuge mitzunehmen. Danach tastete er und beschloss, sich den Weg ins Freie direkt durch den Maschendrahtzaun zu schneiden.
Während er sein Werkzeug vorbereitete, drückte eine Sturmböe die Birkengruppe neben ihm fast auf den Boden. Ein Baumwipfel berührte den Zaun. Es gab einen Blitz und einen Knall, der halbe Baum stand plötzlich in Flammen.
Florian packte sein Werkzeug zurück. Der Zaun stand unter Starkstrom. Jemand hatte eindeutiges Interesse daran, jeden Besucher abzuhalten. Seine einzige Chance war jetzt das Einfahrtstor. Es würde bewacht sein. Mal sehen.
Er trottete am Zaun entlang. Immer wieder berührten Äste den Zaun, gab es Funken, einen Knall und in der Luft lag ein Geruch nach Ozon und gekochten Blättern.
Immer noch schien das Gelände völlig verlassen zu sein. Es dauerte lange, bis er in der Nähe des Tores war. Etwas klapperte und er sah eine Gestalt in einem seltsamen eckigen Schutzanzug, die einen Handkarren in Richtung auf die Rakete zog. Sie lief mit ungelenken, aber entschiedenen Bewegungen und gab ein stetes Klappern, Scheppern und Quietschen von sich. Eine Lampe am eckigen Helm beleuchtete den Weg. Die Gestalt verschwand und Florian blieb allein. Er war beinahe beruhigt, als er das Glühen einer Zigarette oben auf dem Wachtturm bemerkte. Aus dem Wachhaus neben dem geteilten Tor erklang Schnarchen.
Es sah gut aus. Florian entdeckte die schmale Pforte neben dem Wachhaus und unter den Stützen des zweiten Wachtturms. Der Posten oben hustete, zog lautstark Rotz aus der Nase hoch und spuckte dann nach unten. Der Fladen klatschte mit einem satten Geräusch in Florians Nähe in den Sand.
Florian machte sein Werkzeug bereit. Nur noch wenige Sekunden, dann hatte er es geschafft.
Er richtete sich auf, um zur Tür zu springen.
Hinter ihm erklang ein Fauchen, das sich zu einem erschütternden Donnern steigerte. Gleichzeitig war die gesamte Umgebung in ein kalkweißes, bläulich flackerndes Licht getaucht. Florian fuhr unwillkürlich herum. Die Rakete startete. Ein weißes Rauchgebirge schoss über der Senke in die Höhe, beleuchtet von dem Schein des Düsentriebwerks.
Über ihm erklang eine Sirene.
Florian fuhr herum. Keine Panik, noch war nichts verloren. Dann sah er aus den Augenwinkeln eine weitere Gestalt im eckigen Schutzanzug, die mit absurd weiten Schritten auf ihn zuhetzte. Er wollte in die Dunkelheit fliehen, aber mit einem harten Schlag kam die Dunkelheit zu ihm und verschlang ihn wie ein riesiger Wal.
»Nun kommen Sie schon. Sie sind fast wach, Herr Hammerstain, den Rest des Weges schaffen Sie auch noch!«
Die sanfte Stimme drängte sich in Florians Bewusstsein. Sie erinnerte ihn an etwas. An eine andere Stimme oder war es sogar dieselbe?
Er wurde wach, aber irgendein antrainierter Reflex hinderte ihn daran, die Augen zu öffnen oder sich auch nur zu regen. Stattdessen schaltete er alle anderen Sinne ein, um sich zu orientieren. Er konnte Herrenparfüm, Zigarrenrauch und einen Hauch von Möbelpolitur unterscheiden. Aber es lag noch etwas anderes in der Luft, etwas Schärferes, Chemischeres. Krankenhausgeruch. Neben ihm regte sich etwas, ein Geräusch von Lederbezug, Rauschen von Kleidung. Aber es war ein Mann, also ein Kittel. Und der Raum war klein, das war am Schall erkennbar. Das Fenster war hinter ihm, er spürte Sonnenschein auf der Hand.
Florian richtete sich auf.
»Na also, das sah doch ganz gut aus«, kommentierte die freundliche Stimme.
»Nicht so viel Lob, sonst steigt es mir zu Kopf«, sagte Florian. Er stützte sich mit beiden Händen auf das Laken, das die Lederliege bedeckte. Vor ihm befand ein Schreibtisch, an der Seite standen sich zwei bequeme und offensichtlich sehr teure Sessel aus Leder und poliertem Tropenholz gegenüber.
»Mein Name ist Stefan Spellberg«, sagte der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß und sich nun zu Florian vorbeugte, »oder wenn Sie es ganz offiziell haben wollen, Professor Doktor Stefan Spellberg, Leiter des Sanatoriums Seelensonne und diverser Institute, die sich der Erforschung und Optimierung der menschlichen Seele widmen.«
Florian ließ den Kopf hängen, um das Schwindelgefühl loszuwerden. Er starrte auf seine Schuhe, knöchelhoch, aus festem Leder und mit Resten von Sand am oberen Rand der derben Sohle. Es fiel ihm wieder ein, was er gemacht hatte.
»Ein vielbeschäftigter Wissenschaftler«, antwortete Florian, »und trotzdem haben Sie Zeit, mir beim Schlafen zuzusehen?«
Dr. Spellberg zauberte ein spitzbübisches Lächeln auf sein freundliches Gesicht. Er war nicht mehr jung, was sein gepflegter Vollbart und das volle, lange Haar bezeugten, denn beide waren silberfarben. Dennoch wirkte das rundliche Gesicht frisch und alterslos, die blauen Augen hinter der runden Brille wurden nur von wenigen Fältchen umrandet. Dr. Spellberg wirkte schon auf den ersten Blick wie das Symbol der Seriosität und der Freundlichkeit.
»Oh, nicht nur zuzusehen. Zuhören war noch interessanter.«
»Gut«, Florian massierte sich die pochenden Schläfen, »ich habe die Ehre im Konsultationsraum des Leiters des Sanatoriums zu sein. Und wie komme ich zu der Ehre?«
»Sagen Sie es mir!«
Dr. Spellberg kam um seinen Schreibtisch und setzte sich burschikos auf die Platte.
»Nach allen mir zugänglichen Informationen wurden Sie in der vergangenen Nacht am Straßenrand gefunden. Sie waren unverletzt, bis auf einige Blutergüsse, die aber von Ihren Sturz stammen werden. Allerdings befanden Sie sich in einem Zustand der katatonischen Starre, weshalb der Arzt Sie in meine Klinik schickte.«
»Wie spät ist es?«
Dr. Spellberg warf einen Blick auf die Schreibtischuhr hinter sich. »Bald 18 Uhr. Sie haben sechzehn Stunden geschlafen.«
»Das sollte fürs erste reichen. Und katatonisch bin ich offensichtlich auch nicht mehr«, sagte Florian, »damit sollte es nun ausgestanden sein.«
»Ich fürchte, da sind wir vorschnell«, lächelte Dr. Spellberg. Er löste sich vom Schreibtisch und setzte sich neben Florian auf die Liege. Seine Hand berührte beruhigend Florians Nacken und ließ ihn dann los.
»Es ist nämlich so, Herr Hammerstain, dass die Katatonie Ihr geringstes Problem war. Und obwohl es mich ehrt, dass meine Behandlung bei Ihnen so perfekt anschlägt, dass Sie jetzt schon fast auf dem Heimweg sind – nun, bei dieser Behandlung sind Ihre wirklichen Probleme sichtbar geworden.«
»Probleme? Ich weiß, Alkohol, wenn er nicht da ist, Zigaretten, wenn sie zu Ende geraucht sind. Und Frauen, aber die sind immer ein Problem, also zählen sie eigentlich nicht«, sagte Florian.
Dr. Spellberg ließ ein herzhaftes Lachen hören, das den Raum mit einem Klang von Sympathie erfüllte. Er klopfte Florian auf die Schulter, stand dann auf und zündete sich eine Zigarre an. Florian winkte beim Anblick der hingehaltenen Kiste ab.
Dr. Spellberg blies vergnügt den Rauch aus und schaute den Kringeln hinterher.
»Sehen Sie, Herr Hammerstain, da haben wir schon Ihr Problem.«
»Ich bitte um eine weitere Erläuterung«, sagte Florian.
»Nun, eben noch hatten Sie Alkohol und Nikotin als Ihre Probleme bezeichnet. Und nun lehnen Sie diese ausgezeichneten Zigarren aus den Konföderierten Staaten von Amerika ab. Möchten Sie lieber eine Zigarette? Nein? Auch nicht? Sehen Sie – Sie reden so und handeln anders. Fällt Ihnen das nicht selbst auf?«
Florian schaute dümmlich vor sich hin. In seinem Schädel fanden ständig kleine Explosionen statt, die jeden kompletten Gedanken wieder bersten ließen, bis sie in kleine, harte, unbrauchbare Splitter zerteilt gegen seine Knochen prallten.
»Ich bin Mensch, kein Automat mit festgelegtem Programm«, erklärte er schließlich.
»Zwei«, kam es von Dr. Spellberg, verbunden mit einem Lächeln.
»Wie bitte?«
»Ihr Problem ist, Herr Hammerstain, Sie sind zwei Menschen.«
Dr. Spellberg hatte sich in den Sessel gesetzt und schmauchte mit großem Genuss seine Zigarre. Sein Kopf verschwand in einer blauen Wolke duftenden Rauches. Seine Augen funkelten vor Vergnügen.
»Sehen Sie, Herr Hammerstain, als Sie vor einigen Stunden hier eingeliefert wurden, waren Sie – verzeihen Sie mir den Kalauer, so starr wie der Stein in Ihrem Namen. Da meiner Theorie und meiner Erfahrung nach diese Starre einen nervlichen oder seelischen Ursprung hat, bestand meine Therapie also darin, mit Ihrer Psyche in Kontakt zu treten. Nun, und im Zuge dieser Behandlung erkannte ich Ihr eigentliches Problem. Ihre Schizophrenie.«
»Aha, wir sind also schizophren«, spottete Hammerstain.
Dr. Spellberg kicherte, ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen. »Sehen Sie, Herr Hammerstain, Humor als Abwehrhaltung ist so typisch, dass er meine These untermauert.«
Er legte seine Unterarme auf den Schreibtisch, die qualmende Zigarre deutete auf Florian.
»Sie glauben, Sie sind Silwester Hammerstain, ein nicht allzu erfolgreicher Privatdetektiv mit ernsten Alkoholproblemen und offenbar ebenso gravierenden Problemen mit Frauen. Vielleicht war das der Auslöser für Ihre Persönlichkeitsspaltung. Ihre enttäuschenden Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht ließen sich nicht mehr mit Ihrem Selbstbild vereinbaren. Der harte Kerl Silwester Hammerstain, der gerne mal zulangt, der absolute Siegertyp, der dummerweise erkennen muss, dass er ein Komplettversager ist, der sich kaum über Wasser halten kann, indem er untreuen Gatten hinterherschnüffelt. Also wurden Sie zu einem zweiten. Sie wurden zu Florian, einem knapp achtzehnjährigen Jugendlichen, der mit Verlaub gesagt, eine ziemliche Pfeife zu sein scheint. Jedenfalls können Sie ihm den schmerzlichsten Teil Ihres Versagens in die Schuhe schieben, Ihre Unfähigkeit, bei Frauen Eindruck zu machen. Florian ist völlig unerfahren, wohl schüchtern, absolut nicht der Typ, der ein Mädchen beeindrucken könnte, er ist dafür geboren, in der Ecke zu stehen und darauf zu warten, dass das letzte übrig gebliebene Mädchen ihn zum Tanz auffordert. Er ist der Versager, der Panik bekommt, weil er sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht erkennt.«
Florian verbarg das Gesicht in den Händen. Es war so einfach, so einleuchtend, so wahr.
Dr. Spellberg war wieder neben ihm und legte ihm den Arm um die Schulter.
»Sie müssen sich von dieser zweiten Person namens Florian trennen, Herr Hammerstain. Wir werden Ihnen helfen. Können Sie sich erinnern, wann Florian Sie zum erstenmal belästigte. Wann er sich als Person manifestierte und sich in Ihr Leben einmischte?«
Florian schüttelte den Kopf.
»Vor drei Jahren vielleicht? Könnte das sein?« In dem freundlichen Ton von Dr. Spellberg war plötzlich ein anderer Klang. Kaum merklich, aber Florian bemerkte ihn ebenso wie er den Klinikgeruch bemerkt hatte. Er bemerkte diesen lauernden Unterton, als würde sich mit dem weichen Fell von Dr. Spellbergs Stimme ein Raubtier anschleichen.
»Wirklich nicht?«, drängte der Doktor, »versuchen Sie einfach mal, sich zu erinnern. Was war vor drei Jahren? Nennen Sie mir einfach mal Namen – Menschen, Orte.« Und dann schob Dr. Spellberg nach: »Frauen.«
Hammerstain presste sich die Fingerspitzen an die Schläfen. Er schüttelte verwundert den Kopf. »Ich kann mich an gar nichts erinnern. Da ist nur ein einziges schwarzes Loch.«
»Sehen Sie, dieser Florian stiehlt Ihnen Ihre Erinnerungen.«
Dr. Spellberg gab Hammerstain einen aufmunternden Stups in die Seite. »Die Erinnerung kommt wieder. Es ist völlig unmöglich, dass ein geistig normaler Mensch wie Sie ganze Jahre aus seiner Erinnerung verliert. Sehen Sie, es wird sich meist um Alltag gehandelt haben – normale Tage, die irgendwie mit anderen Tagen verschwimmen. Ja, und was möglicherweise besonders und bemerkenswert war, hat der abgespaltene Teil Ihrer Persönlichkeit namens Florian für sich okkupiert. Verstehen Sie? Es ist da, aber Sie kommen nicht heran, weil dieser Kerl Sie abhält. Er ist Ihr größtes Problem.«
Hammerstain wedelte eine Fluse von seinem Hosenbein. »War ich die ganze Zeit hier? Auf dieser Liege?«
»Wo sonst? Der Arzt draußen erkannte, dass Sie leben, aber stocksteif und völlig ohne Reaktionen auf äußere Reize sind. Sie wurden wie ein Brett auf diese Liege verfrachtet. Wir haben Sie nicht angerührt, nur mit Ihnen gesprochen. Und – nun ja – ich habe einige dieser Geräte eingesetzt. Um Kontakt zu Ihrem Unbewussten zu bekommen.«
Dr. Spellberg deutete lächelnd auf einige Kästen aus hellem Holz und dunklem Kunststoff, auf denen Skalen und Drehknöpfe zu sehen waren. Etwas rollte vom Schreibtisch und fiel Florian vor die Füße. Er hob es auf, ein kleines Röllchen, aus dessen Enden kurze Drähte ragten. Der Doktor nahm es mit einem dankbaren Lächeln und legte es vorsichtig in eine Schublade.
»Diese Geräte, nein, nicht diese, sondern andere in einem anderen Behandlungszimmer, werden Sie in der nächsten Stunde von Ihrem Dämon namens Florian heilen. Wir führen eine Psychosektion durch, so etwas wie das Schnippschnapp für die Seele. Eine Spritze zur Entspannung, einige Elektroden, Sie werden in den Kopfhörern ein leises Rauschen vernehmen, durch das ich Ihnen sublimale Botschaften zukommen lasse. Und dann können Sie endlich als Silwester Hammerstain wieder aus diesem Sanatorium gehen. Und ich verspreche Ihnen, die Probleme, die Sie dann haben, bekommen wir durch eine weitere Sitzung mit Sublimalsuggestion wieder hin.«
»Das sollten Sie auch«, sagte Hammerstain und erhob sich, »sonst haben Sie nie eine Chance, an Ihr Honorar zu kommen.«
Dr. Spellberg lachte herzlich und legte ihm erneut freundschaftlich den Arm um die Schulter, als sie aus dem Raum traten und er Hammerstain sanft in die richtige Richtung dirigierte.
Sie liefen durch einen langen Gang. Das gesamte Gebäude vermittelte den Eindruck von Weite und Großzügigkeit. Eine Krankenschwester schob einen Rollstuhl vorbei. Sie schenkte Hammerstain ein strahlendes Lächeln. Der Mann im Rollstuhl schaute starr geradeaus, seine linke Schläfe war von einem dicken Verband verdeckt. Ohne es zu wollen, hob Hammerstain die Hand und tastete nach seiner Narbe. Die an exakt derselben Stelle war und an deren Herkunft er sich nicht erinnern konnte.
»Hier entlang, Herr Hammerstain!«
Sie befanden sich offensichtlich am Ende des Sanatoriums, denn durch die hohen Fenster waren die einzelstehenden Nebengebäude zu sehen. Der Gang mündete hier in einen lichtdurchfluteten Saal, in dem Krankenschwestern und Pfleger geschäftig hin und her eilten und Patienten entspannt in Korbsesseln unter Palmen ruhten. Aus Lautsprechern drang leise Musik.
Dr. Spellberg wurde von allen Seiten gegrüßt und rief launige oder aufmunternde Bemerkungen zurück. Ein Mann hob den Kopf von einem Buch und winkte dem Doktor zu. Die Narbe an seiner linken Schläfe schimmerte weißlich im Schein der Sonne.
»So, da wären wir!«
Dr. Spellberg stieß schwungvoll beide Türflügel auf. Dahinter lag ein weiterer Saal, der allerdings durch die vorhandenen Geräte klein und von gedrängter Enge wirkte.
»Ich weiß, es ist eindrucksvoll«, bestätigte Dr. Spellberg mit einer ausschweifenden Geste, der man seinen Stolz ansah. »Aber auch wenn diese Maschinen riesig sind, sind sie doch winzig im Vergleich zu dem Universum, das wir mit ihnen durchmessen wollen – der menschlichen Seele.«
Vergleichbare Maschinen hatte Florian noch nie in seinem Leben gesehen. Im Grunde hatte er hier das Gefühl, selbst in einer großen Maschine zu stehen, denn alle Apparaturen und Geräten schienen miteinander verbunden zu sein, hatten Kupplungen, Kabelverbindungen, gemeinsame Röhren oder teilten sich Kühlleitungen.
Es waren meist große Zylinder, auf deren Ende eine Kugel angebracht war. Von dieser Kugel standen wie Haare kleinere, an Stäben angebrachte Kugeln ab. Leitungen hingen von der Decke, große braune Isolatoren trugen Drähte, die zwischen den Maschinen verschwanden, Kabel ringelten sich wie Lianen zwischen den Zylindern. Einige Bedienpulte waren mit Reihen runder Instrumente, Knöpfen und Hebeln versehen. In der Luft lag das leise Brummen von Elektrizität und auf den Pulten blinkten Lichter in verschiedenen Farben. Die Nadeln der Anzeigen zuckten in einem gemeinsamen Rhythmus, wie eine perfekte Tanzgruppe zu unhörbarer Musik.
»Und alles nur, um die eine Person auf dieser Liege von ihren Leiden zu befreien«, sagte Dr. Spellberg und deutete zwischen zwei Zylinder. Dort flackerte ein Film, der auf das Gesicht eines schlafenden, entspannt auf einer Konturliege ruhenden Mannes projiziert wurde. Die Bilder wechselten rasend schnell, als würde der Film im extremen Zeitraffer abgespielt, dazu war nun eine zugleich dramatische und süßliche Musik zu vernehmen.
»Der Film ist noch immer das beste Werkzeug zur Bewusstseinsverbesserung bei durchschnittlichen Menschen«, erklärte Dr. Spellberg und lächelte Florian zu, als hätte er ihn damit soweit ins Vertrauen gezogen, dass eine geheime Kumpanei zwischen ihnen entstanden war.
Eine weiße Gestalt sprang hinter einem der Bedienpulte hervor und eilte zu dem Doktor. Die beiden Männer entfernten sich einige Schritte von Florian, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Dr. Spellberg streichelte überlegend seinen Bart und entschied dann. »Geben Sie ihm noch eine Viertelstunde, das können wir ohne Risiko machen.«
Er winkte Florian weiter und ging mit ihm durch eine kleinere Tür.
»Ein Patient mit leider außergewöhnlicher Behandlungsresistenz. Wissen Sie, welche Frage ich mir im Laufe meiner nun schon langen Laufbahn immer drängender stelle? Warum klammern sich die Menschen an ihre Leiden? Es ist, als ob ihre Erkrankung mehr wert sei als seelische Gesundung. Als das Glück, heil zu sein. Ich fasse es nicht.« Kopfschüttelnd ging er weiter. Eine Schwester in einer Glaskabine hob grüßend die Hand.
Dr. Spellberg bat Florian in ein kleines Zimmer, das halb Ruheraum, halb Bad zu sein schien.
»Ihre Behandlung findet zwar an derselben Stelle, aber mit anderen Apparaturen statt. Deshalb müssen wir ein wenig warten. Aber das stört nicht. Sie können sich in der Zwischenzeit schon einmal bereit machen. Bitte den Oberkörper frei machen und die Haare nach hinten kämmen, damit wir die Elektroden anbringen können. Sie werden dann abgeholt.«
Lächelnd verschloss Dr. Spellberg die Tür. Florian war allein.
Er setzte sich und dachte an die Apparaturen des Dr. Spellberg. Ehrfurchteinflößend. Furchteinflößend. Und dieses Zimmerchen war ein totaler Gegensatz, sauber, aufgeräumt, ein wenig spießig wie in einer altertümlichen Familienpension.
Er fürchtete sich. Aber es musste sein. Die Diagnose war so einleuchtend, dass sie wie ein Puzzleteil wirkte, nach dem er selbst vergeblich gesucht hatte. Mühsam erhob er sich, seine Beine trugen ihn kaum. Er schlurfte durch den Raum.
Er stellte sich vor den Spiegel, hob das Kinn und wusste, dass Professor Doktor Stefan Spellberg ihn angelogen hatte.
Es war der Krawattenknoten. Hammerstain hatte sich trotz aller Verspottungen seitens Fräulein Levinsohn nicht davon abhalten lassen, seine uniformartige Kleidung mit einer Krawatte zu krönen. Angesichts der zu erwartenden Belastung hatte er sich selbstverständlich für einen doppelten Knoten entschieden, etwas anderes kam gar nicht in Frage.
Und der Knoten, den er jetzt löste, war ein simpler Überschlagknoten. Viel zu primitiv, um von einem Silwester Hammerstain gebunden worden zu sein. Dass man den Binder gelöst hatte, ergab Sinn. Dass man ihn wieder gebunden hatte, um ihn in die Irre zu führen, ergab auch Sinn. Aber einen ganz anderen. Nach einigem Suchen fand er auch die erwarteten Einstichstellen am Unterarm. Sie waren winzig, fast nicht mehr als vergrößerte Poren, aber sie waren unverkennbar.
Wie viele Tage? Wie lange war er schon hier, bevor sie ihn wieder in seine Kleidung steckten und diese Aufwach-Komödie spielten? Im Augenblick war das Datum unwichtig. Wichtig war allein eine Tatsache: Spellberg ging nicht davon aus, dass Florian jemals wieder das Sanatorium verlassen würde, dass er jemals die Gelegenheit haben würde, sich über das Datum zu wundern. Florian starrte sich im Spiegel an. Man hatte ihn rasiert, aber sein Kinnbart hatte sichtbar zugelegt. Auch in dieser Hinsicht waren sie schlampig gewesen.
Die Narbe an seiner linken Schläfe pochte. Also er auch! Die Schlussfolgerungen rasselten durch sein Hirn wie die Buchstaben einer Zuganzeige.
Er erinnerte sich an den Kerl, der ihn zu dem Wett-Tipp um Franz Kuszynski weitervermittelt hatte. Derjenige, der ihn trotz Verkleidung für Hammerstain hielt und gesagt hatte, Hammerstain wäre für eine Weile verschwunden gewesen und verändert wiedergekommen. Diese Weile – war das vor drei Jahren? Jener Zeitraum vor drei Jahren, für den sich Dr. Spellberg so interessiert hatte? Und hatte er sich deswegen dafür interessiert, weil er, Silwester Hammerstain hier behandelt worden war, jene Art von Behandlung, die eine Narbe an der linken Schläfe hinterlässt?
Er zuckte zusammen, als schnelle Schritte an der Tür vorbeikamen. Das Geräusch jagte ihm eine unerklärliche Furcht ein, obwohl es sich nur um eine Frau mit hochhackigen Schuhen handelte.
Florian holte tief Luft. Ruhig bleiben. Zuerst einmal diesen jämmerlichen Krawattenknoten in einen anständigen verwandeln. Dabei sich im Spiegel anschauen und sich zuflüstern: »Ich bin Silwester Hammerstain.«
Warum lief hier eine Frau über den Gang, die solche Schuhe hatte? Krankenschwestern oder Pflegerinnen trugen im Dienst so etwas nicht. Patientinnen mit solcher Fußbekleidung waren ihm auch nicht begegnet.
Er öffnete vorsichtig die Tür und schaute auf den Gang. Leer, auch die Glaskabine an der Seite lag verlassen. Florian schlüpfte durch den Türspalt, drückte die Tür wieder zu und huschte zur Glaskabine. Seine Beine zitterten, er fühlte sich, als hätte er tagelang hohes Fieber gehabt. Den Gedanken an die chemischen Wirkstoffe, die in seinen Blutkreislauf injiziert wurden, unterdrückte er. Vielleicht war ja dieses Gedankenunterdrücken auch schon eine Wirkung der Chemie. Florian grinste. Es war mal wieder alles ziemlich kompliziert.
Er lauschte an der Tür neben der Glaskabine und öffnete sie dann. Sie war schwer, für einige Sekunden überkam ihn die Furcht, sie wäre verschlossen und dieser Fluchtweg versperrt. Sein Herz begann zu pochen. Das war gut, jetzt floss das träge Blut schneller durch seine Adern und er griff fester zu und bekam die Tür auf. Erst dann bemerkte er mit einem Knurren den Knopf in der Kabine, der die Öffnungsautomatik anschaltete.
Hinter der Türe war ein Gang, eine weitere Tür, ein Korridor mit vielen Türen. Eine Krankenschwester in Weiß saß an einem kleinen Tisch und schrieb. Sie beugte sich über den Briefbogen, schrieb konzentriert mit Füllhalter und grüner Tinte, die nach Apfel duftete. Sie blickte erst auf, als Florian fast neben ihr stand. Sie hatte schwarzes Haar und einen Pagenschnitt. Als sie ihn anschaute, hatte Florian wieder das Gefühl, dass er sie kennen musste, aber dafür keinen Anhaltspunkt fand.
»Was wollen Sie?«, fragte die Schwester ernst. Sie war im Ausland geboren, die Art, wie sie die Vokale rollte, stammte aus einer fremden Sprache.
Florian lächelte verbindlich. »Irgendwie habe ich mich auf dem Weg zum Behandlungszimmer verlaufen. Vielleicht gehe ich erst einmal zum Ausgang zurück und versuche es noch einmal aufs Neue.«
»Welche Behandlung? Ich bringe Sie.«
Florian zuckte die Schulter. »Ich habe Orientierungsprobleme und pathologische Angst mich zu verlaufen. Ich muss es selbst finden – Teil der Therapie.«
Ein Telefon begann zu scheppern. Florian zuckte zusammen. Er hatte den Apparat nicht bemerkt. Er befand sich auf einer Ablage unter dem Tisch, die Schwester nahm den Hörer und zog ihn an das Ohr. Sie schaute die Wand an, lauschte, sagte dann: »Hier ist er nicht vorbeigekommen.«
Florian hätte inzwischen schon die nächste Tür erreichen können. Aber er war wie gelähmt. Die schwarzhaarige Schwester legte den Hörer auf die Gabel.
»Ich helfe Ihnen«, sagte sie, »ich weiß, was die hier mit Menschen machen.«
Sie stand auf, betrat eines der Zimmer und kam kurz darauf zurück. Florian wurde mit einem Morgenmantel, einer Decke, die seine Schuhe versteckte und einem improvisierten Kopfverband auf einen Rollstuhl gesetzt und aus dem Korridor geschoben. Hinter ihm hämmerten die Schritte der Krankenschwester. Seltsam, dachte er, dass ich die einzige Krankenschwester treffe, die hier solche Schuhe trägt.
Unterwegs begegneten ihnen dreimal Patienten in Rollstühlen mit Kopfverbänden. Sie saßen zusammengesunken, ihre Augen wirkten vollkommen leer.
»Jetzt geradeaus, schnell«, hörte Florian hinter sich. Er warf seine Verkleidung ab, lief über den Gang und erwartete, jeden Moment hinter sich einen Schuss zu hören. Auf der Flucht erschossen.
Er hetzte die Treppe hinunter, stemmte die schwere Eingangstür auf, rannte keuchend über den knirschenden Kies und war endlich auf der Straße. Der Fleck von der Bremsflüssigkeit schillerte noch immer auf dem Asphalt.
Niemand verfolgte ihn. Vielleicht hatten sie das ja gar nicht nötig. Vielleicht hatte er ihnen alles verraten, nicht nur seinen Namen, sondern auch alles andere, vielleicht sogar Dinge, die er selbst nicht mehr greifen konnte.
Florian trottete Schritt um Schritt weiter der Stadt zu, deren Lärm und Geruch er schon bemerken konnte. Mit jedem Schritt wurde ihm eine Tatsache klarer: Egal was war, er musste weiter an seinem Fall arbeiten, auch wenn es das letzte war, was er je tun würde und auch wenn es völlig vergeblich war.
Ein Lastwagen mit meterlanger Motorhaube hielt mit zischenden Bremsen neben ihm. Der Fahrer hatte sich völlig verfahren und nahm Florian mit, nachdem der ihm den Weg erklärt hatte. Florian saß in der dröhnenden Fahrerkabine, vor sich das vibrierende Blech der Motorhaube und schaute dem Fahrer zu, der die Gänge mit Zwischengas schaltete. Dessen gewaltige Bizeps schwollen, wenn er an dem großen Lenkrad drehen musste.
»Ganz schön was los hier«, begann der Fahrer ein Gespräch.
»Na ja«, sagte Florian vorsichtig, »ist halt Großstadt.« Er musste sich gleichzeitig konzentrieren und völlig locker bleiben, dann erkannte er genau, wo sie abbiegen mussten.
Der Fahrer, ein schwerer Mann, dessen kräftige Muskeln unter Massen von schwabbelndem Fett verborgen waren, grunzte nur. Er trug eine weite Hose und ein durchschwitztes Unterhemd, das Stoppelhaar war nass und stand stachelig vom Kopf ab. Die Kabine war mit Blümchengardinen verziert, ein gehäkeltes Deckchen bedeckte den Getriebekasten, der sich wie eine Kiste zwischen den Sitzen erhob.
»Ich komme auch aus einer Großstadt, aber bei uns gibt es keine Schießereien am hellichten Tag und auf offener Straße.«
»Na ja«, sagte Florian geheimnisvoll, »in der letzten Zeit hat sich einiges aufgestaut. Und jetzt wird Dampf abgelassen.«
»Bei uns heißt so was Bürgerkrieg«, meinte der Fahrer.
Er schwenkte weit aus und lenkte seinen Lastwagen ächzend in eine Nebenstraße. Florian entspannte sich, als er die Ziegelmauer am Ende der Straße sah.
»Direkt vors Werkstor«, sagte der Fahrer befriedigt und Florian verabschiedete sich, um zur nahen Straßenbahnhaltestelle zu gehen. Alles wirkte normal, und es schien, als hätte der Fahrer von einer Stadt auf einem fernen Planeten gesprochen.
Florian setzte sich auf die Holzbank direkt gegenüber dem Einstieg. Unter einem Sitz in der Nähe lag eine vergessene Zeitung und er griff danach.
Zehn Tage. Wenn das die Zeitung von heute war, fehlten ihm ganze zehn Tage! Die Schlagzeilen titelten von Schießereien zwischen rivalisierenden Banden und blutigen Zusammenstößen verschiedener Gewerkschaftsgruppen miteinander und mit der Polizei. Das Ganze schien eher wie eine angenehme Unterbrechung im langweiligen Alltag einer Großstadt, die Berichterstattung ähnelte einem Abenteuerbericht, die Opfer schienen mit den Bewohnern dieser Stadt nichts zu tun zu haben.
Florians Blick blieb an einem Satz hängen. ´… ausgelöst durch den Mord an Alfred Zucker …`.
Er blätterte rasch um. Seite Drei hatte die dicke Überschrift: ´Verdächtige beteuert weiterhin Unschuld. Polizei: Kein Zweifel an Täterschaft möglich.`
Darunter, mit angstvoll aufgerissenen, von Panik geschwärzten Augen, schaute ihn Sara Levinsohn an. Das grob gerasterte Foto war von der Polizei gemacht worden, am unteren Rand war noch das Schild mit der Registriernummer erkennbar. Florian legte die Zeitung zur Seite.
Er verstand überhaupt nichts mehr. Er hatte zehn Tage verloren und aus irgendeinem Teil seines Bewusstseins kam das Signal, das ihm nun nicht viel Zeit blieb. Und er schien auf einem fremden Planeten gelandet zu sein.
Er blieb bis zur Endstation in der Bahn, einer Gleisschleife zwischen Gemüsefeldern und Fabrikhallen. Der Fahrer und der Schaffner verschlossen die Bahn und schlenderten zu einem Kiosk, in dem auch ein Aufenthaltsraum war. Florian musste ebenfalls aus der Bahn steigen und setzte sich bis zur Abfahrt auf die Bank im Wartehäuschen.
In der Nähe bemühten sich krüppelige Bäume, mit ihren verstaubten Blättern einen Wald nachzuahmen. Von dort erklang das Dröhnen zahlreicher schwerer Motoren. Es wurde immer lauter, bis es sich zu seinem Brüllen steigerte, das die Luft in Schwingungen versetzte und dann stieg knapp über den Baumwipfeln ein Flugzeug auf. Von seinem bootsförmigen Rumpf rieselten noch dünne Wasserfäden. Es dröhnte über die Haltestelle hinweg, hinterließ einen Regen feiner Tropfen und stieg langsam in die Höhe, um kleiner und kleiner zu werden und zuletzt im blaugrauen Sommerhimmel zu verschwinden. Hier in der Nähe musste also der Landesee der Wasserflugzeuge sein. Florian versuchte sich zu entspannen, vor kurzem noch hatte er einen Lastwagen durch ein kompliziertes Straßennetz genau zum Ziel geführt und nun wusste er nicht, wo er war.
Irgendetwas an dem, was Dr. Spellberg gesagt hatte, musste stimmen, sonst wäre es ihm nicht so einleuchtend erschienen. Und dennoch war Dr. Spellberg keineswegs der freundliche Mensch, als der er sich ausgab und das machte seine Diagnose wieder zweifelhaft.
Florian lehnte sich auf der harten Bank zurück und schloss die Augen. Alles war zweifelhaft. Langsam kam die Erinnerung an den Tag der vorletzten Woche vollständig zurück. An den Tag, der für ihn gestern war, weil ihm zehn Tage fehlten.
Er hatte sich unter die Rakete geschlichen, unter den gewaltigen Rumpf, der von den drei Heckflossen gestützt wurde. Neben jeder der Heckflossen stand der Sicherungspfeiler, in denen die Flossen geführt wurden, während die Rakete langsam in die Höhe stieg und dann ebenso langsam wieder auf den Boden zurücksank. Das war die Theorie, die er aus dem Zeitungsartikel kannte. Aber als er sich die Sicherungsstützen und die Heckflossen aus der Nähe angesehen hatte, stürzte diese Theorie zusammen. Heckflossen und Pfeiler waren miteinander verschweißt, die Heckflossen waren zusätzlich mit schweren Eisenteilen in den Pfeilerfundamenten verankert. Florian hatte alles genau untersucht. Es gab keinen Zweifel: Diese Rakete war niemals auch nur einen Zentimeter aufgestiegen und es wurde alles getan, um genau diesen Aufstieg zu verhindern. Florian hatte die Lampe ausgeschaltet und nachgedacht, seine Entdeckung verwirrte ihn vollkommen. Über ihm war das Raketenheck, ein Bündel runder Rohre, aus denen der Feuerstrahl fauchte. Im Boden war ein rundes Loch, umgeben von einem niedrigen Betonwall. Der Beton war geschwärzt und rissig, bröckelte teilweise. Man sah ihm an, dass er bei jedem Probelauf der Antriebsdüsen unglaublicher Hitze ausgesetzt wurde.
Und dennoch passte alles nicht zusammen. Der Schaffner kam zurück, machte eine launige Bemerkung, dass diese Linie selten zu Vergnügungsfahrten benutzt würde und ließ die Rolltüre zur Seite gleiten.
Während der ganzen Fahrt fürchtete sich Florian vor der anderen Endstation. Er hätte endlos in der kleinen Bahn bleiben können und dem Fahrer zuschauen, der auf einer Art Fahrradsattel saß und mit seiner Drehkurbel den kurzen Zug durch enge, hochbebaute Straßen und knappe Kurven fuhr. Solange er hier saß und sich durchrütteln ließ, brauchte er nichts zu tun. Oder vielmehr – er brauchte sich nicht einzugestehen, dass er völlig hilflos war. Hilflos und verwirrt saß Silwester Hammerstain in der Bahn und schaute aus dem Fenster und manchmal, wenn die Bahn stark schaukelte, berührte er das Glas und hinterließ einen matten Fleck.
An einem kleinen Geschäft fiel ihm eine Schrift auf, die weiß über das Schaufenster gemalt war: Heute frische Trauben. Das Wort Trauben erinnerte ihn an etwas. Da war was und Florian zermarterte sich das Hirn, bis er dieses Wort endlich zu fassen bekam, es hochzog in das Bewusstsein und auch alles, was damit zusammenhing.