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Der goldene Fels – Kapitel 15

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Fünfzehntes Kapitel

Der Kommerzienrat hatte sich geweigert, Brockhof und de la Motte in den Saal hinauf zu folgen, aber sie fanden Martha, die noch neben der Leiche Wache hielt.

Mit schweren, schlurfenden Schritten ging der Professor bis an die Seite des toten Sohnes. Hier blieb er einen Augenblick stehen und sagte, zusammenschauernd, leise: »Mein Sohn ist ein Mörder!« Und, indem er zu Martha hinüber nickte, noch einmal: »Martha, mein Sohn ist ein Mörder!«

Dann aber ging eine plötzliche, starke Bewegung durch seinen Oberkörper, von dem er, sich schüttelnd, eine schwere Last abzuwerfen schien. »Ich will das nicht wissen, ich will das nicht hören! Du bist ja doch mein Kind gewesen, mein Karl, mein Junge!«

Die Stimme brach ihm, er warf sich neben der Leiche auf die Knie nieder, presste den Kopf auf das weiße Leinen, das den zerschmetterten Körper bedeckte. Jetzt endlich brachen ihm erlösende Tränen aus den Augen, und er fasste das Lager des Toten mit ausgebreiteten Armen. In wildem Schluchzen lag er eine ganze Weile. Brockhof und Martha standen, ohne sich zu bewegen, stumm beiseite.

Das leidenschaftliche Weinen erschöpfte sich zuletzt. Seinen Kopf hebend richtete de la Motte nun den Blick wieder auf das Antlitz des Toten und sagte leise: »Nein, du warst nicht schlecht von Jugend auf. Das Erbteil unseres Blutes war ja doch in dir und Mordgedanken haben wir dir nicht vererbt. Von außen haben sie in dich hineingetragen, was dich schlecht gemacht hat. Mit Gold haben sie dich geblendet. Sie haben den goldenen Felsen vor dich hingestellt. An ihm ist alles, was gut in dir war, zerschellt.«

Wankend griff er mit seinen Händen in die Luft. Eilig sprangen Brockhof und Martha hinzu. Sie fassten und stützten ihn und führten ihn zwischen sich vom Lager des Toten sanft weg.

 

***

 

Am gleichen Tag schlossen die Gräber sich über de la Motte und Ebisberg. Der Öffentlichkeit war nichts vom wahren Sachverhalt bekannt geworden, und so gab es ein paar herkömmliche, würdevolle Totenfeiern wie andere auch. Der Geistliche sprach mit warmen Worten von den beiden so rasch aufeinander nachgefolgten Unglücksfällen, die beinahe gleichzeitig tiefes Leid über zwei befreundete Familien hochangesehener Industrieller gebracht hätten.

Der Kommerzienrat war in diesen Tagen in einer ungeheuer milden, schmerzlich tränenreichen Stimmung. Er hatte so grenzenloses Mitleid mit sich selbst und seinem unerlaubt harten Geschick, dass er, durch eine Art von Reflexwirkung, sich auch anderen gegenüber ungewöhnlich gütig zeigte. Burkhardt vor allem wurde von ihm ausgezeichnet. Er hatte das Gefühl, ihm durch einen ungerechten Verdacht schweres Unrecht zugefügt zu haben, und suchte dafür ihm eine Genugtuung zu geben, die freilich zugleich den Interessen seines Geschäftes diente. Burkhardts Erfindung hatte sich glänzend bewährt, und so konnte Helbig nichts Besseres tun, als ihn dauernd an sich zu fesseln. Dass er sich aber im Stillen dabei gleichzeitig einen hübschen Lorbeerkranz wegen väterlicher Güte gegen den Sohn eines armen Werkmeisters winden konnte, gab der Sache noch einen wohltuenden Beigeschmack.

Er hatte denn auch des alten Ebisberg Anwesenheit gleich benutzt, um verschiedene geschäftliche Besprechungen mit ihm zu halten, und sie waren übereingekommen, Burkhardt an Stelle des verstorbenen jungen Ebisberg nach Amerika zu schicken. Auf dem Heimweg von der Beerdigung war die Sache perfekt geworden, und am Tag darauf erzählte Helbig seiner Tochter von dieser Abweichung.

»Er soll fort?«, fragte Martha schnell. Sie war sehr bleich geworden.

»Jawohl. Es ist eine Auszeichnung für den jungen Mann, eine sehr große sogar. Aber ich bin einmal so: Wenn ich selber Kummer habe, muss ich anderen Freude machen. Es ist sozusagen eine liebenswürdige Schwäche meiner Natur.«

»Wann muss er fort?«

»Bald. Ebisberg, der Tote, hatte ja schon sein Schiffsbillett für die Rückfahrt genommen. Das kann er gleich benutzen, man soll doch nichts umkommen lassen.«

»Hast du es ihm schon gesagt?«

»Nein. Er soll jetzt gleich zu mir kommen, da soll er es erfahren. Er wird mir natürlich riesig dankbar sein und wird mit beiden Händen zugreifen.«

»Wenn du mit ihm gesprochen hast, sei so gut, ihn zu mir in den Garten zu schicken.«

»Zu dir, warum denn?«

»Ich habe auch mit ihm zu sprechen.«

»Na, meinetwegen. Burkhardt ist ja dein Jugendfreund und ein tüchtiger Mensch. Die Leuchtkraft seiner Lampe schlägt jede Konkurrenz. Wer weiß, was er noch einmal werden kann für mein Geschäft.«

Martha beugte den Kopf und ging zur Tür. »Du bittest ihn also, zu mir zu kommen?«, fragte sie, ohne sich noch einmal umzuwenden.

»Gewiss, gewiss. Und bleib mir nicht so lange weg. Ich fürchte mich so, wenn ich allein bin, an meinen Geldschrank mag ich schon gar nicht mehr gehen.«

Martha hörte nicht mehr, was er sagte. Sie ging mit schweren Schritten wie gelähmt hinaus. Nur das eine klang ihr im Ohr: Er geht fort!

Schwermütig und unfreundlich breitete sich der Garten mit seinen halb entlaubten Sträuchern um sie aus, traurig blickten die vom kalten Tau der Herbstnacht gebeugten Astern und Georginen sie von den Beeten her an. Der Nebel der Frühe hing noch zwischen den Bäumen. Die Sonne war nichts als ein heller Fleck im unbewegtem gleichmäßigen grau der Luft.

In einer dumpfen Betäubung schritt Martha langsam auf und ab, sah Burkhardt von Weitem kommen und in das Haus treten. Sie legte die Hand auf ihr Herz. In den drei Tagen, seit ihr Mann gestorben war, hatten sie einander nicht gesehen und gesprochen.

Ein krampfhaftes Beben ergriff ihren Körper, während sie wartete, bis Burkhardt wiederkam. Endlich, da war er! Suchend schritt er in den Garten hinein, erblickte Martha, die nicht fähig war, ihm entgegenzugehen. Er nahm den Hut vom Kopf, griff nach ihrer mühsam erhobenen Hand. Aber diese Berührung ließ Martha völlig zusammenbrechen.

»Du willst fort?« Gleich einem Schrei der Todesangst und Verzweiflung waren diese Worte. Zugleich stürzten Tränen aus ihren Augen, ein Schluchzen ließ ihren Körper widerstandslos erbeben.

»Weine nicht, Martha. weine nicht so!«

»Doch, lass mich weinen. Um ihn habe ich es nicht gekonnt, es hat mich fast erstickt. Um dich kann ich weinen!«

»Aber ich kann es nicht hören. Und warum denn, es ist ja kein Grund, über mich zu weinen.«

»Doch, doch, dass du von mir gehen willst … gerade jetzt, alles ist um mich her zusammengebrochen, es ist ja doch, als ob ich in einen Abgrund hinabgestürzt wäre … du, du warst es allein, woran ich mich halten und worauf ich noch hoffen konnte … nun willst du von mir gehen …«

»Ich gehe nicht, wenn du es nicht willst.«

»Max!«

»Es ist noch nichts entschieden. Höre mich an. Eben hat mir dein Vater vorgeschlagen, an Stelle von Ebisberg nach Amerika zu gehen. Er war sehr erstaunt, weil ich den Antrag, den er mit Recht für ehrenvoll hält, nicht gleich bedingungslos angenommen habe.«

»Du hast nicht …?«

»Nein, ich habe mir einen Tag Bedenkzeit erbeten. Ich wollte nichts tun, ohne dich gefragt zu haben.«

Eine plötzliche Veränderung war mit ihr bei seinen Worten vorgegangen. Ihr Weinen war verstummt, sogar der leise Schimmer von einem glücklichen Lächeln ging über ihr Gesicht.

»Oh, das ist schön!«, sagte sie leise.

»Dass ich bei dir bleibe, nicht wahr?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, weil ich nun sehe, dass du mich noch lieb hast.«

»Martha! Daran hast du gezweifelt?«

»Ach, ich bin ja so hilflos. Sieh … du musst es verstehen, der Tote … dass er zwischen uns ist. Ich komme mir so beschmutzt, so beschmutzt und erniedrigt vor, weil solch ein Mensch mich in den Armen gehalten hat. Ein Mörder! Und ich seine Frau! Bin ich denn noch ich selbst? Kann ich den Menschen frei ins Auge sehen? Ach Max, ich habe geglaubt, auch du kannst jetzt nicht mehr an mich denken wie sonst. Kannst mich nicht mehr so lieb haben wie sonst. Und als ich hörte, du solltest von mir gehen, ich habe gemeint, nun ist es aus für immer!«

»Martha, Martha, wie haben solche Gedanken dir kommen können? Wenn es etwas geben konnte, wodurch meine Liebe zu dir noch größer wurde, so war es doch nur das grenzenlose Mitleid wegen deines furchtbaren Schicksals.«

Er zog sie an sich, küsste sie mit einem Kuss, der ihr sagte, was Worte nicht ausdrücken konnten. So standen sie einen Augenblick unter der umschleierten Sonne still, vom braunen Gesträuch gegen die Blicke der Menschen geschützt.

»Nun ist alles wieder gut«, sagte Martha leise. »Jetzt weiß ich, dass du mir doch noch gehörst. Verzeih mir, wenn ich schwach und kindisch war. Diese letzten Tage waren zu furchtbar für mich.«

»Sie hätten auch einen Mann umwerfen können. Ich weiß das, denn ich habe das alles mit dir gefühlt. Wenn ich nur hätte bei dir sein, dich trösten können! Aber nun will ich auch bei dir bleiben, ich sag es noch heute deinem Vater, dass ich nicht nach drüben gehe.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm und suchte mit ihren Augen die seinen. Auf ihr schmal gewordenes, bleiches Gesicht kam ein Schimmer von rot.

»Nein, Max, tue das nicht. Sieh, jetzt bin ich wieder ganz vernünftig und ruhig. Es war nur, weil ich dachte … wenn ich weiß, dass du mich noch lieb hast, kann ich ganz tapfer und geduldig sein.«

»Aber ich, Martha …«

»Nein, höre mich an. Wir dürfen Vater nicht kränken. Du kennst ihn, er ist gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Und wir, nicht wahr, wir müssen doch versuchen, ihn für uns zu gewinnen? Er hält große Stücke von dir, und wenn du ihm jetzt noch aus der Verlegenheit hilfst, wenn du hinüber gehst nach Amerika, dann können wir hoffen, dass er später einmal …«

Sie brach ab. Ihre Blicke, die mit einem geheimen Feuer leuchteten, ergänzten, was ihr Mund verschwieg. Nun lachte sie leise. »Nicht wahr, ich bin ganz töricht? Ein echtes Weib! Vor fünf Minuten in Tränen, weil du von mir gehen willst, und nun treibe ich selber, dass du gehen sollst. Aber ich will ja nichts, als dass ich weiß, du gehörst mir. Das weiß ich nun wieder. Und jetzt muss es mir ja gleich sein, ob wir auch für kurze Zeit, nein, gleich ist es nicht, aber ich weiß, ich kann es nun tragen, wenn für ein Jahr ein paar hundert Meilen zwischen uns liegen. Länger, nicht wahr, länger wird es doch wohl nicht sein?«

»Ich glaube kaum. Ich bin deinem Vater hier zu nötig in der Fabrik. Aber du sollst mir kein Opfer bringen, ich gehe nicht, wenn du mir sagst, ich soll bleiben.«

»Umsonst ist kein Glück. Man muss es immer bezahlen. Für unser zukünftiges Glück müssen wir dieses Opfer bringen. Ich hoffe jetzt wieder, dass es einmal kommt, ganz hell und schön, und um dieser Hoffnung willen kann ich die Trennung ertragen.«

Er hatte sie bei den Händen gefasst, hielt sie fest, und sie fühlte das leidenschaftliche Beben seines Körpers.

Ein leichter Morgenwind ging in diesem Augenblick durch das Nebelgrau. Zu ganz kurzem Gruß schaute die Sonne hervor, glitt mit heller Hand über Marthas Gesicht.

Sie sah nach oben. »Unser Glücks«, sagte sie leise.

»Was meinst du?«

»Sieh hin, unser Glück ist wie die Sonne heute. Noch fern und verhüllt vom grauen Nebel. Aber es hat uns eben gegrüßt . Hat uns gesagt: Ich bin da. Nun wollen wir geduldig sein und Hoffnung haben und Vertrauen. Das ist ja das Beste für uns arme Menschenkinder, dass wir wissen: Es gibt über den Wolken einen Gott, es gibt hinter den Wolken eine Sonne.«

Ende