Archive

Der Marone – Die Späherin im Hinterhalt

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Kapitel 20

Die Späherin im Hinterhalt

Habt ihr jemals einen stolzen, in den Lüften schwebenden Vogel, von einer Kugel getroffen, mit gebrochenem Flügel plötzlich hilflos zur Erde fallen sehen?

So fiel das Herz Judith Jessurons aus der höchsten Höhe der Zuversicht und des keckesten Selbstvertrauens, auf die es sich noch kurz zuvor mit kühnem Mut erhoben hatte.

Die Gewissheit, dass Käthchen Vaughan den Berg hinauf kam, raubte ihr sofort alle kurz zuvor gehegten Hoffnungen, denn zu welchem Zweck mochte die junge Kreolin nur da hinaufgehen, wenn nicht zu einer verabredeten Zusammenkunft? Und mit wem anderes konnte diese stattfinden, als mit dem so rätselhaft Verschwundenen?

Ihr verstohlenes Fortschleichen aus der Nähe des Wohnhauses, die dazu gewählte Zeit, während Smythje abwesend war, ihre ängstlich rückwärts gerichteten Blicke, da sie wie heimlich durch die Büsche ging, all dies schien ganz unbezweifelt Furcht, gesehen und gefolgt zu werden, zu verraten. Was aber hätte sie nur bei einem gewöhnlichen Ausflug mit gewöhnlichen Absichten zu fürchten? Herr Smythje war ja doch nicht ihr Vater oder ihr Ehemann? Warum gab sie sich denn nur so viel Mühe, ihre Absichten vor ihm zu verhehlen, wenn sie nicht ganz heimlicher Art und auf das hinzielten, was die eifersüchtige Jüdin längst vermutet hatte, eine heimliche Zusammenkunft mit Herbert?

Judith war hier von jetzt vollständig überzeugt, so vollständig, dass sie, sobald sie die junge Kreolin wirklich den abschüssigen Weg hinauf kommen sah, sie sich dicht an den Rand der Felsenwand bewegte und aufmerksam in der Erwartung hinunter sah, den anderen Teilnehmer an der verabredeten Zusammenkunft ebenfalls zu erblicken.

Freilich konnte sie niemand sehen, aber dies vermochte in keiner Weise die außerordentliche, ihr ganzes Wesen erschütternde Aufregung zu stillen. Wohl war er nicht zu sehen, aber das war von geringer Bedeutung, denn wie leicht konnte er nicht irgendwo in der Nähe im Wald verborgen sein!

Aber wo wollten sie nur eigentlich zusammenkommen? Wo mochte der Platz sein, wo sie sich zu treffen verabredet hatten?

Jetzt geriet die Späherin in große Angst, sie möchte sie aus dem Blickfeld verlieren und dann würden sie unfehlbar sich eines ganz ruhigen und ununterbrochenen Zusammenseins zu erfreuen haben. Beim Himmel! Das durfte auf keinen Fall geschehen! In ihrer fürchterlichen, nun bis zum höchsten Punkt gestiegenen Eifersucht war sie gänzlich rücksichtslos und kümmerte sich um gar keine Folgen. Deshalb war sie fest entschlossen, die Zusammenkunft unter allen Umständen, wenn irgendwie möglich zu unterbrechen.

Die einzige Art, den Platz, wo sie stattfinden sollte, zu entdecken, verblieb immer, Käthchen Vaughan im Blick zu behalten, denn sollte nicht Herbert bereits längst sich in der Nähe befinden? Ganz gewiss, der Liebhaber ist stets zuerst an dem Platz!

Deshalb beobachtete die Jüdin Käthchen unausgesetzt ganz genau. Leicht konnte sie beständig die schneeweiße Kopfbinde unterscheiden, die zuweilen unter den hohen Bäumen verschwand, dann aber auf den mehr offen Stellen des Weges wieder deutlich zu sehen war.

So verfolgte die Jüdin ihre Nebenbuhlerin mit aufmerksamen Blicken, bis sie an einer offenen Stelle angelangt war, wo der Weg von unten am eigentlichen Felsen hinaufführte. Hier erwartete sie sicher, dass Herbert irgendwo heraustreten und Käthchen begrüßen würde, allein zu ihrem größten Erstaunen erschien niemand.

Noch viel mehr aber wuchs ihr Erstaunen, als sie Käthchens Absicht gewahrte, den Jumbéfelsen selbst zu ersteigen, die jetzt deutlich aus der von ihr eingeschlagenen Richtung hervorging.

Nun trat es ihr jedoch auch auf einmal klar vor die Seele. Die Spitze des Felsens selbst, dieser bereits schon durch eine frühere Liebesszene geweihte Platz, sollte der Ort der Zusammenkunft sein? Nach dieser vorher durchaus gar nicht erwarteten Entdeckung verblieb die Jüdin keinen Augenblick länger auf der Felsplatte, denn das hätte zu einer vorzeitigen Begegnung mit Käthchen geführt, und ihr war alles daran gelegen, die Zusammenkunft mit Herbert zu belauschen und dann zu stören.

Gerade wo die Schlucht dicht an die Platte führte, befand sich auf der einen Seite eine offene Felsspalte. Ihr Grund war nur wenige Fuß niedriger als den Felsen und war dicht mit immergrünen Büschen besetzt, deren Spitzen in gleicher Höhe mit der Platte waren.

Judith hatte längst dieses bequeme Versteck gekannt, und wollte es jetzt benutzen, um ungesehen die Zusammenkunft der beiden Liebenden zu belauschen. In diese Felsspalte eilte sie deshalb, noch bevor Käthchens Blick sie erreichen konnte, verbarg sich hier hinter den Büschen und erwartete nun das Hinaufsteigen ihrer Nebenbuhlerin auf die Platte.

Bei dem wild tobenden Aufruhr aller ihrer Gefühle vermochte sie durchaus nicht mehr ruhig zu überlegen. Der Verdacht von Herberts Treulosigkeit, und es stand gar nicht zu leugnen, dass der junge Mann ihr Aufmerksamkeiten bewiesen hatte, die nach ihrer Ansicht keiner Missdeutung fähig waren, und deren Missdeutung er auch bewusst und willig zugelassen hatte, der Verdacht seiner offenbaren Hinterlist war ihr jetzt zur vollendeten Gewissheit geworden. Denn über die Zusammenkunft zwischen ihm und seiner Cousine konnte jetzt doch auch nicht mehr der geringste Zweifel obwalten, so mindestens glaubte die von ihrer Leidenschaft vollkommen verblendete Judith mit voller Gewissheit.

Käthchen war schon da und Herbert würde bald nachfolgen. Sonderbar erschien es freilich, dass er nicht bereits da war, doch war auch dies von keiner großen Bedeutung. Weit mochte er jedenfalls nicht mehr entfernt und deshalb gewiss zur rechten Zeit zur Stelle sein, um seine Geliebte einzuholen, bevor sie noch die eigentliche Spitze des Berges erreicht hatte. Das waren jetzt ungefähr Judiths Erwägungen.

Sie horchte daher aufmerksam und begierig auf Herberts Stimme und glaubte jeden Augenblick sie zu vernehmen. Sie warf spähende scharfe Blicke die Schlucht hinab in dem festen Glauben, sie würde ihn sofort in glühender Leidenschaft hinter seiner Cousine nachfolgen sehen, ärgerlich darüber, dass er nicht zuerst dagewesen war.