Die Totenhand – Teil 56
Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Dritter Band
Kapitel 16 – Die Geduld des Lammes Gottes sei mit dir
Wenn jemand daran dächte, die Kleinheit des Menschen mit der Anmaßung seiner kühnen Gedanken zu vergleichen, so wäre er groß wie Gott und vielleicht noch über denselben erhaben.
Die Menschen denken und sagen laut, nachdem sie ihre mühseligen Berechnungen angestellt haben: Das muss so sein, und sie erschrecken nicht über ihre Verwegenheit, obgleich sie bei allem und für alles sehr oft ihre zuverlässigsten Gründe durch den höheren Willen jener himmlischen Macht, die wir unter dem Namen Gott kennen, umgeworfen sehen.
Nicht zufrieden mit der Vergangenheit und der Gegenwart wollen sie auch noch Herren der Zukunft sein, jener Zukunft, bei welcher die meisten nur als Staub erscheinen, der sich auf den Stufen des Tempels anhäuft und dessen Altäre besudelt.
Die Unsinnigen! Jene Zukunft, welche sie berechnen und mit Gewissheit vorhersagen, vernichtet sie ohne Barmherzigkeit unter der Gewalt des Lächerlichen. Die riesigen Gebäude, die sie in Gedanken aufführen, werden niedergeschmettert durch die Erhabenheit der Wahrheit Gottes, ebenso wie die festesten Denkmäler ihre kühnen Gipfel vor den vorüberschreitenden Jahrhunderten neigen.
Was sie heiligen und anbeten, indem sie sich den Beinamen der Erleuchteten geben, erscheint profan, wenn es mit dem wahren Kultus Gottes verglichen wird. Das ist es, was ihnen mit ihren eigenen Gefühlen widerfährt, sowie mit dem Feuer, das sie beseelt, diese Gefühle zu heiligen, und welches oft nichts als die fluchenswerte Flamme einer unbegrenzten Leidenschaft ist.
So hatte der Graf von Monte Christo die Rache heiligen wollen. Das war ein abscheulicher, alberner Wille, allen göttlichen und menschlichen Gesetzen widersprechend. Aber alle diese Umstände konnten durch den Zufall nicht geschwächt werden, wenn der Busen, in welchem der Wille entstanden war, durch das Fieber eines verlängerten Deliriums bewegt wurde. Welcher Mensch ist vollkommen genug, um sich nicht durch seine eigenen Gedanken fortreißen zu lassen, sobald er sich ebenso mächtig sieht wie der Graf von Monte Christo? Welcher Mensch vermöchte sich selbst zu widerstehen und seine eigenen Gedanken zu verdammen, wenn er durch seinen Reichtum auf den Gipfel weltlicher Größe gelangt ist? Der Graf von Monte Christo tat, was jeder andere Mensch an seiner Stelle getan haben würde. Er hörte daher nur durch seinen ungeheuren Reichtum und seine Leiden auf, ein gewöhnlicher Mensch zu sein! Seine Gesinnungen erhoben sich nicht über die regelmäßige Sphäre der andern Menschen, aber er war groß in der Unterwerfung, mit welcher er seine Reichtümer abtrat, groß auch in der Ergebung, mit der er sich der Gerechtigkeit Gottes unterwarf.
Er befand sich jetzt in Rom, und ohne Zweifel würde kein Mensch ihn wiedererkennen, wenn er einen Mann sähe, dessen Gesicht niedergeschlagen war und der das demütige Gewand eines Büßenden trug, welcher barfuß und mit gesenktem Haupt nach dem wohlbekannten Gasthof des Maestro Pastrini schritt.
Er erreichte denselben in dem Augenblick, in welchem vor der Tür des Gebäudes ein Wagen hielt, aus dem zwei junge Damen stiegen, von denen die eine, noch jünger als ihre Gefährtin, Trauerkleider trug und den Kopf gegen den Boden gesenkt hatte, wie die Lilie, die der Sturm knickte, ihren hohen Stiel beugt.
Als Edmund Dantès sie sah, verbarg er das Gesicht in die Hand, als wollte er nicht erkannt werden. Die ältere der beiden Damen aber, welche die demütige Gestalt unter der Tür des Gasthofes stehen sah, zog aus einer seidenen Börse ein kleines Silberstück und streckte ihre seine, mit einem weißen Glacéhandschuh bekleidete Hand aus, um das Geld in die Hand des falschen Bettlers zu drücken. Dann folgte sie ihrer Freundin, die bereits einige Stufen erstiegen hatte.
Edmund Dantès schien entzückt zu sein, indem er das Almosen betrachtete, das man ihm gegeben hatte. Dann schüttelte er traurig den Kopf, küsste das Silberstück und Tränen rannen über sein bleiches Gesicht.
»Ha«, murmelte er in sich hinein, »dies sei meine erste Handlung christlicher Demut. Ich küsse dieses Almosen, welches ohne Stolz, ohne Anmaßung gegeben wurde und selbst ohne dass ich darum gebeten hatte. O, möchtest du dort oben im Himmel eine besondere Gnade von Gott empfangen zum Lohn für das wahre Mitleid, welches das ergebungsvolle Gesicht eines armen Sünders in dir erweckte.«
Kaum beendete er diese Worte, als die geringschätzige und barsche Stimme Pastrinis ihn aus seinen Gedanken erweckte.
»Holla, Bruder Bettler, die Geduld des Lammes Gottes sei mit dir. Geben kann ich dir nichts.«
Edmund Dantès erhob die Augen und sah auf der obersten Stufe der Treppe den wohlbekannten Gastwirt stehen, dessen Gesicht jenen gebieterischen und zugleich freundlichen Ausdruck hatte, mit welchem er die Bettler, die sich auf der Treppe aufhalten zu wollen schienen, fortzuschicken pflegte.
»Ich wiederhole: Gott sei mit dir. Geben kann ich dir nichts.«
»Habe ich schon etwas von Ihnen verlangt?«, fragte Edmund Dantès, indem er ihn fest ansah, dann aber voll Widerwillen die Augen abwendete.
»Ich kann dir nichts geben als die Überbleibsel von der table d’hote. Aber dazu ist es noch zu früh, und außerdem übe ich meine Wohltaten schon an einer ziemlich großen Menge von Menschen!«
»Ich habe Sie noch nicht darum gebeten!«
»Ei, per Baccho! Das gebe ich wohl zu, aber dann belästige meine Gäste nicht: Deine Gegenwart ist ihnen im Wege. Überdies ist mein Haus eines der Ersten in Rom, und die Fremden kehren gewöhnlich hier ein, angezogen durch den europäischen Ruf, den ich mir erworben habe. Deshalb ist es nicht passend, dass die Herren sogleich das Elend erblicken, wenn sie hinaufgehen.«
Ohne zu antworten, stieg Edmund Dantès trotz der Widersprüche Pastrinis langsam die Treppe hinauf.
»Bruder, ich wiederhole die Versicherung, dass ich nicht das geringste Almosen geben kann. Geh, geh, und Gott sei mit dir!«
»Das Almosen, welches ich von Ihnen erbitte, besteht weder in etwas zu essen noch in Geld, sondern ganz einfach darin, mit Ihnen zu sprechen, Maestro Pastrini.«
»Ei, bei dem Blute Christi! Das kommt mir sehr sonderbar vor. Ich begreife wohl, dass ein Hungriger etwas zu essen verlangt und dass ein Mensch mich um Geld bittet, um sich kleiden zu können. Aber was ich nicht begreifen kann, ist, dass es einem Bettler, der sich beständig in einem dieser Fälle befindet, einfallen kann, mich um ein Gespräch zu bitten. Nun, lass hören, was verlangst du?«
Indem der gewissenhafte Maestro Pastrini dies sagte, betrachtete er mit der ganzen Verschlagenheit eines Italieners seines Standes, zugleich aber auch mit Anteilnahme, das demütige und ernste Gesicht des Bettlers. Da dieser aber das Gesicht unter den Falten seiner Kapuze verborgen hatte, war es nicht möglich, die Züge desselben zu erkennen.
»Sprechen, Bruder Bettler«, fuhr Pastrini fort, »also sprechen willst du mit mir? Nun, was willst du denn, dass ich dir sagen soll? Bist du etwa ein unbescheidener Neugieriger, der von mir Nachrichten über meine Gäste verlangt, mit der verborgenen Absicht, dann einige Messen von ihnen zu erbitten? So muss es wohl sein.«
»Ich will Sie ganz einfach um Nachrichten von einigen Ihrer früheren Gäste ersuchen.«
»Frühere! In diesem Falle … ja … ich verstehe dich, du willst sagen …«
»Was wollen Sie sagen, dass ich sagen will?«
Bei dieser Frage, die Edmund Dantès an ihn richtete, erkannte Maestro Pastrini, der zurückgehalten hatte, um von seinem Unbekannten einige bestimmtere Nachrichten über seine Absicht herauszulocken, mit einfältigem Staunen, dass hinter dem demütigen, aber dennoch imposanten Wesen des Bettlers irgendeine große Wahrheit verborgen sein musste. Da aber Maestro Pastrini, wie wir bereits erwähnten, auf der obersten Stufe der Treppe stand, hatte er zu seiner Linken die Tür des kleinen Kabinetts, welches ihm als Büro diente, und wo er, wie wir im Laufe dieser Geschichte sahen, Peppino und Vampa zu empfangen pflegte. Er schloss die Tür auf, öffnete sie und gab dem Bettler ein geheimnisvolles Zeichen, dass er heraufkommen sollte.
Edmund Dantès zögerte nicht und trat hinter Maestro Pastrini in das Kabinett ein.
»Setze dich, Bruder Bettler«, sagte der Italiener mit einem gewissen Anklang des Hohns, der Edmund Dantès nicht entging. »Setze dich und sprich!«
Edmund blieb dem Maestro Pastrini gegenüber stehen, und dieser fuhr fort, ihn mit forschendem Blick zu betrachten.
»Maestro«, sagte er endlich, »ich habe dem letzten Augenblick eines mächtigen Menschen beigewohnt, und nachdem ich seine aufrichtige Beichte empfing, leistete ich ihm zur Ruhe seiner Seele ein feierliches Versprechen. Zu gleicher Zeit durch ihn mit der Belohnung einiger Personen beauftragt, die ihm während seiner glänzenden Laufbahn uneigennützig und eifrig Dienste leisteten, habe ich seit jenem Augenblick rastlos mich bemüht, zu entdecken, wer diese Personen sind, um mein Versprechen erfüllen zu können.«
»Gut«, sagte Pastrini, »aber wer ist denn dieser Mensch?«
»Sagen Sie mir zuerst, wer es ist, dem Sie gute und gewissenhafte Dienste geleistet haben, und auf diese Weise werden wir zu demselben Resultat gelangen.«
»Das ist richtig, obgleich ich so vielen Menschen Dienste leistete«, fügte der verschlagene Italiener mit dem Wesen der Gleichgiltigkeit hinzu. »Fürsten, Marquis, Grafen, einfachen Privatleuten, reichen Menschen und Menschen von mittelmäßigem Vermögen, und sogar Armen.«
Edmund Dantès schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Er gehört keiner von allen diesen Klassen an.«
»Das ist abgeschmackt, Bruder Bettler! Dann war es niemand!«
»Es war jemand.«
»So nenne ihn!«
»Das sagt mir nicht zu.«
»Ei, aber per Baccho! Machen wir ein Ende! Ich verstehe dich nicht, und wenn deine Rede darauf hinausläuft, ein Almosen von mir zu erbitten, so kann ich es dir nicht geben. Gott sei mit dir!«
»Ich meine Luigi Vampa!«, sagte Edmund Dantes.
»Vampa!«, murmelte Pastrini, »ach ja, das ist wahr! Morgen ist der Tag seiner Hinrichtung. Es ist der Vorabend des Karnevals. Man hat mir gesagt, es sei auf dem Platz del Popolo kein einziges Fenster mehr zu vermieten.«
»Sie haben Luigi Vampa nicht gekannt und ihm keine Dienste geleistet, Maestro Pastrini?«, fragte Edmund Dantès mit ernstem Tone.
» Per la Madonna!«, stammelte Pastrini.
»Antworten Sie!«
»Du sagtest mir aber, Bruder, dass du den letzten Augenblicken eines Menschen beigewohnt hättest, und Vampa lebt noch.«
»Ich sprach die Wahrheit … ich bezog mich auf seine letzten weltlichen Augenblicke. Ich habe die Weihe noch nicht empfangen.«
»Aber du hoffst, sie zu erhalten? Du beginnst mit einer sehr demütigen Stellung!«
»So muss man den Anfang damit machen, den Weg zum Himmel zu erklimmen!«
»Dann also«, fuhr Pastrini fort, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, »gab Vampa dir den Auftrag zur Belohnung … ich meine zu einem Geschenk …«
»An einen Menschen, der ihm treu und uneigennützig Dienste geleistet hat.«
»Ha, gewiss«, dachte Maestro Pastrini bei sich, »hat er sich der Warnung erinnert, die ich ihm an eben diesem Orte von dem Haus Thomson und French zukommen ließ. Es ist offenbar keine Gefahr dabei, mich zu erklären.«
»Sind Sie dieser Mensch, Maestro Pastrini?«, fragte Edmund Dantès.
»Ich weiß es nicht.«
»Wieso das?«
»Ich will damit sagen, dass ich ihm wohl gedient haben konnte und dennoch nicht wüsste, es getan zu haben, das heißt, dass ich voll Teilnahme einem Menschen den Dienst leistete, ohne zu wissen, dass dieser Mensch Luigi Vampa war,denn der arme Teufel verkleidete sich oft auf eine solche Weise, dass er in den Theatern, in den Hotels und auf den öffentlichen Plätzen sich zeigte, ohne von irgendjemand erkannt zu werden. Er war gerade so, wie ein gewisser Graf von Monte Christo, ein verschlagener Schelm, ein verfluchter Zauberer, der durch eine gewisse Totenhand alles war, was er sein wollte, ausgenommen ein guter Christ, ungeachtet seines pomphaften Titels. Diese Sucht, Adelsbriefe an alle Art Leute zu verkaufen, ist etwas sehr Unmoralisches, Einfältiges, Gefährliches, und ich wage sogar zu sagen. Unanständiges, indem …«
Diese Art der Auseinandersetzung des Gastwirts gefiel Edmund Dantès keineswegs, denn die Art und Weise, wie von ihm gesprochen wurde, machte auf ihn einen sehr unangenehmen Eindruck. Indes gewann er durch die Schwatzhaftigkeit des Wirts doch die Zeit, seine Unruhe zu verbergen, und er unterbrach ihn, indem er sagte: »Was war denn dieser Graf von Monte Christo für eine Art von Mensch?«
»O, man hat hier viel von ihm gesprochen, und ich bin keiner von denen, die am wenigsten dazu beitragen, ihm die Larve abzuziehen! Ich habe ihn sehr genau gekannt, und ich schwöre dir, dass ich mich nicht mehr durch ihn täuschen lassen würde, wenn er zufälligerweise wieder seinen teuflischen Talisman in Tätigkeit setzte und sich aufs Neue unter verschiedenen Gestalten zeigte. Aber beschäftigen wir uns lieber mit dem, was Vampa betrifft.«
»Im Gegenteil, da Sie von einem Menschen sprechen, den er mir ebenfalls genannt hat, so wünsche ich, dass Sie mir über denselben noch etwas mehr sagen.«
»Bruder, ich kann dich befriedigen.«
»Sagen Sie mir besonders etwas von der Totenhand, deren Sie wie eine Art Reliquie erwähnten.«
»Reliquie? Nein, ich sage vielmehr, dass sie ein teuflischer Talisman war. Es konnte nur die Hand eines verurteilten Verbrechers sein.«
»Ja!«, rief Edmund Dantès unwillkürlich.
»Ha, du kanntest sie schon? Nun wohl, es war also die Hand eines Verurteilten. Es gab einen geheimnisvollen Pakt, der in dem Grab geschlossen war! Man hatte ein abscheuliches Geschenk gemacht, irgendein höllisches Versprechen gegeben, was weiß ich! Die Tatsache ist, dass der Graf sich bald in ein Weib verwandelte, bald in einen jungen kranken Menschen, bald in eine Fliege, einen Vogel, aber sein Talisman wurde ihm gestohlen und er verfiel dadurch für immer dem Verderben. Es gab hier einen Menschen, der ebenfalls ein Franzose war und auch bei mir wohnte. Dieser verfolgte seine Spur, um ihm irgendein Zauberwort zuzuraunen und ihn dadurch vollends zu verderben. Der Mensch hatte ihm schon den verfluchten Talisman gestohlen und bewahrte denselben in einem kleinen schwarzen Kästchen, das er beständig bei sich trug. Vampa und ein gewisser Rocca Priori, dessen Gefährte, haben diese Totenhand gesehen und ebenfalls auch ein gewisser Danglars.«
»Danglars!«, unterbrach ihn Edmund Dantès. »Und was ist aus diesem Menschen geworden?«
»Man hat mir gesagt, er sei als Steuermann in dem Mittelmeer gestorben.«
»O, mein Gott!«, murmelte der Graf, indem er den Kopf auf seine Brust sinken ließ.
»Ganz gewiss«, fuhr Pastrini fort, »ist dieser Graf von Monte Christo jetzt in der Hölle, sonst würde er es nun mit den Behörden zu tun haben, denn in Frankreich ist er des abscheulichen Verbrechens angeklagt, Gräber erbrochen und Leichen profaniert zu haben. Der Verfluchte! Er spielte selbst mit dem Tod!«
Es entstand eine lange Pause des Schweigens.
»Was ist es nun mit dem Luigi Vampa?«, nahm Pastrini wieder das Wort.
»Es ist nicht nötig, weiter davon zu sprechen«, entgegnete Edmund Dantès. »Sie sind nicht der Mann, auf den er angespielt hat.«
»Wie, ich bin es nicht?«
»Nein.«
»Aber – woher weißt du das?«
»Durch Sie selbst. Sie hätten mir sonst schon ein gewisses Zeichen gegeben …«
»Ich weiß keine Zeichen zu geben«, erwiderte Pastrini, indem er gleichwohl allerhand Gesichter schnitt und die rechte Hand schloss, um sich damit über die Augen zu fahren, als wollte er sie reiben.
Edmund Dantes verstand dieses Zeichen, aber er antwortete nicht darauf und begnügte sich, trübe zu lächeln.
»Per Baccho!«, rief Pastrini aus, »ich sagte es ja wohl, dass alle deine Reden darauf hinauslaufen würden, um ein Almosen zu bitten. Geh, denn deine Verschlagenheit langweilt mich. Ich kann dir kein Almosen geben. Gott sei mit dir!«
Nachdem er mit dem Anschein großer Frömmigkeit diese Worte wiederholt hatte, wollte Pastrini mit der Hand den Bettler zu dem Kabinett hinausschieben, dessen Tür noch geöffnet stand, als eine neue Person ihn bei dieser Handlung unterbrach.
Der Neuangekommene war ein Mann von mittlerer Größe, schon ziemlich bejahrt und sein strenges Gesicht flößte Vertrauen ein, obgleich seine Augen mit Blut unterlaufen waren, wie dies häufig bei denen der Fall ist, die sich durch ein heftiges und wildes Gefühl beherrschen lassen.
»Was wollen Sie?«, fragte Pastrini.
»Ist das hier das Hotel London?«
»Per la Madonna! Sie haben Augen und sehen das nicht? Es gibt kein Zweites solches in Rom, wo die Gäste behandelt werden, wie sie es verdienen, und in dessen Zimmern schon sehr oft Fürsten, Marquis und Grafen geschlafen haben.«
»Recht gut. Wollten Sie wohl die Güte haben, mir die Personen zu nennen, welche heute Ihre Gäste sind?«
»Per Baccho!«, rief Pastrini erschreckt, »sind Sie vielleicht ein Polizeiagent?«
»Nein, ich bin bloß ein Reisender und suche jemand.«
»Nennen Sie ihn.«
»Das ist überflüssig. Vielleicht hat er den Namen nicht angegeben, unter welchem ich ihn suche, und in diesem Fall könnten Sie ihn verleugnen, ohne es zu wollen.«
»Der, welchen Sie suchen, hat also viele Namen?«
»Einige. Aber machen wir dem Geschwätz ein Ende. Ich kenne Sie, denn ich habe bereits das Vergnügen gehabt, bei Ihnen zu wohnen.«
»In der Tat scheinen Sie mir nicht unbekannt zu sein, indes weiß ich doch wahrlich nicht zu sagen, wer Sie sind, denn es haben bei mir so viele Menschen gewohnt …«
»Nun wohl, ich bin Bertuccio, der Intendant des Herrn Grafen von Monte Christo.«
»Des Grafen von Monte Christo!«, rief Pastrini, indem er Bertuccio starr ansah.
»Ich habe mich auf der Straße mit seiner Exzellenz verfehlt und kam nach Rom, da ich überzeugt bin, dieselbe hier zu finden. Seine Exzellenz haben diese Stadt jederzeit geliebt.«
»Herr Bertuccio, mein Haus, das Erste seines Ranges in Rom, ist nicht ein Zufluchtsort für Zauberer oder Schelme!«
»Das glaube ich gern. Wenigstens habe ich, als ich mit meinem Herrn hier war, die Ordnung bemerkt, welche Sie in Ihrem Haus aufrecht zu erhalten verstehen, Maestro Pastrini.«
»Ich will sagen, dass man gewiss in meinem Haus jetzt nicht mehr einen solchen Taugenichts finden würde, wie der Graf von Monte Christo ist!«
»Elender!«, rief Bertuccio, indem er einen Schritt zurücktrat, den Gastwirt mit flammenden Blicken maß und die Faust ballte.
Edmund Dantès blieb regungslos stehen.
»Ich wiederhole es Ihnen, Herr Bertuccio, suchen Sie, wo Sie wollen Ihren Hexenmeister, den Verfluchten, dessen Blick allein imstande wäre, dieses Haus in Brand zu stecken, um meine treue Christenseele anzuschwärzen.«
»Elender!«, sagte Bertuccio empört, »weißt du, von wem du sprichst?«
»Ich weiß es, per la Madonna, und Sie können es jedem anderen sagen, der Ihnen von Ihrem Grafen spricht, welcher gegenwärtig mit seiner griechischen Geliebten in der Hölle schmachtet!«
»O mein Gott!«, rief plötzlich zitternd der Bettler, als hätte man ihm einen glühenden Stahl in das Herz gebohrt. »Das unschuldigste Geschöpf, das tugendhafteste Weib! O mein Himmel! Alles, alles nur nicht diese Marter!«
»Was höre ich – diese Stimme!«, stammelte Bertuccio.
»Was sagt er?«, fragte seinerseits Pastrini. »Wahrhaftig, dieser arme Teufel von Bettelmönch ist toll.«
Pastrini und Bertuccio hatten den Blick starr auf den Bettler gerichtet, dessen Gesicht aber noch immer durch seine Kapuze verborgen war.
»Nun, nun«, fuhr Pastrini fort, »ich gewinne nichts dabei, wenn ich hier stehen bleibe und diese sinnlosen Worte anhöre. Signor Bertuccio, suchen Sie Ihren Grafen in den Gefängnissen oder in der Hölle. Bei mir ist er nicht, und er müsste wahrhaftig sehr fein sein, sollte er zu mir kommen, ohne dass ich ihn erkannte oder maulschellierte.«
»Signor Pastrini, ich will Sie lehren, wie Sie von einem Menschen, wie der Herr Graf von Monte Christo ist, zu sprechen haben!«
Bei diesen Worten trat Bertuccio rasch gegen Pastrini vor, aber der Bettler warf sich zwischen beide und rief: »Friede! Im Namen des Himmels!«
Pastrini stieß ein lautes Gelächter aus, sprang die Treppe hinauf und verschwand im Inneren des Gebäudes.
Als Bertuccio dies sah, ging er zu der Straße hinab, indem er mit besorgtem Blick auf den Bettelmönch sah, der ihm etwa zwanzig Schritt voraus war. Bertuccio nahm sich vor, ihm zu folgen, um ihn anzureden, da besonders die Worte auf ihn einen Eindruck gemacht hatten, die er ausstieß, als die schöne Haydee geschmäht wurde. In der Tat näherte er sich ihm und folgte ihm Schritt für Schritt bis zu einem kleinen, ärmlichen Hause, das in einem entfernten Stadtteile lag.
Hier angelangt, öffnete der Bettler die Tür und stieg die Treppe hinauf zu einem kleinen Zimmer, dessen geschwärzte und feuchte Wände, dessen mit Spinneweben überzogene Decke Ekel einflößten. Der Bettler hatte die Tür offen gelassen, als wüsste er, dass jemand ihm folgte, und als er in die Mitte des Zimmers trat, wendete er sich um und enthüllte sein Gesicht.
Bertuccio, der ihm gefolgt war, sank vor ihm nieder auf die Knie und rief: »O mein Gebieter!«
»Steh auf, Bertuccio«, sagte Edmund Dantès mit ruhiger und fester Stimme. »Die demütige Weise, mit der du sonst zu dem Grafen von Monte Christo, deinem Herrn und deinem Freund, sprachst, ist jetzt nicht mehr an der Stelle, wo du mit einem Manne redest, der demütiger und ärmer ist als der unglückseligste Bettler.«
»Was sagen Sie, Herr Graf? Was ist das für ein Verhängnis! Ich träume – ja, mich drückt ein furchtbarer Alp!«
»Nein, Bertuccio, es ist die Wahrheit. Alles Übrige war nur ein Traum, ein oft fürchterlicher Alp, zuweilen aber auch durchwebt mit leider sehr flüchtigen Freuden!«
»Mein Gott!«
»Steh auf, Bertuccio«, fuhr Edmund Dantes fort, indem er ihn emporhob. »Mir ist wenigstens verliehen, dass ich dich wiederfinde, und von allen denen, die während meiner Größe mit mir gelebt haben, wirst du der Einzige sein, der ruhig und glücklich bleibt. Gott hat es so gewollt! Du warst es, der den Sohn Villeforts aus dem Grab zog, diese Natter, die durch Gott dazu bestimmt war, mich in das Herz zu stechen und meine ganze Existenz zu vergiften!«
»Ich verstehe Sie nicht! Alles, was ich sehe, alles, was ich höre, erscheint mir vollkommen unglaublich! – Was ist Ihnen denn begegnet?«
»Ich habe mich getäuscht, wie jeder andere Mensch, und noch mehr, denn ich war mächtiger als alle. Ja, ich habe mich getäuscht, und jetzt suche ich voll Ergebung die Reue! Möge Gott mir am Ende meines Märtyrertums verzeihen!«
»Aber Ihre unschuldige Gattin?«
»Haydee?, entgegnete Edmund Dantes. »Haydee? Suche Sie in den Felsen von …«
Er hielt inne.
»Nein«, sagte er, »nein, niemand soll wissen, wo ich meinen Schatz verborgen habe! Niemand soll ihre Ruhe stören, kein menschlicher Fuß ihre Asche profanieren. Haydee? Bertuccio, Haydee ist im Himmel.«
Bertuccio bedeckte sich das Gesicht mit den Händen und schluchzte.
»Ach, Herr Graf«, sagte er, »ich, der ich Sie so mächtig, so groß, so edelherzig, so in Glück und Wonne schwebend, gesehen habe – jetzt Sie so demütig, so arm, so elend, das Herz von Galle erfüllt, zu sehen. Nein, und tausendmal nein, das ist nicht möglich!«
»Größe, Edelmut, Wonne – mein ganzer Traum von ehedem, ging über deine Lippen, Bertuccio! Größe und Edelmut findet man nur bei Gott! Wonne verschafft uns allein der Tod, denn bald sind wir bei Gott! Alles ist vorbei, Bertuccio. Von dem Grafen Monte Christo bleibt nichts übrig als eine Erinnerung, beschmutzt durch abgeschmackte Gedanken, und in der Zukunft wird von ihm nichts leben bleiben als ein Name, neben welchen Menschen die Worte schreiben: Stolz, Wahnsinn! Geh, Bertuccio, geh. Du kannst ruhig leben, denn wie du weißt, liegt in der Bank von Paris ein Kapital, welches dir gehört und welches dir Unabhängigkeit verleiht.«
»Ach, Herr Graf, ich kann nicht – das heißt – ich wage nicht, Ihnen einen Gedanken mitzuteilen, den ich gehabt habe. Aber vernehmen Sie ihn dennoch: Dieses Kapital, von dem Sie sprechen, könnte Ihnen nützlich sein …«
»Mein ganzer Reichtum besteht jetzt in der Geduld des Lammes Gottes! Einen andern verlange ich nicht – ich will dein Geld nicht.«
»Aber wollen Sie denn verhungern, Herr Graf?«
»Bertuccio!«
»Um Gottes willen, Herr Graf, gestatten Sie mir, Sie immer zu begleiten und Sie zu bedienen …«
»Ich verlange Alleinsein – Einsamkeit.«
»Die soll Ihnen werden! Ich werde Ihren Willen ehren, nur gestatten Sie mir, über Ihre Tage zu wachen.«
»Wenn Gott will, dass sie sich verlängern, so geschehe sein Wille!«
Bertuccio verließ von jetzt an seinen Herrn nicht mehr.
Edmund Dantès hatte beschlossen, in Rom zu bleiben, bis er die Tonsur zugleich mit den ersten geistlichen Graden erlangen würde. Dann hatte er die Absicht, nach Marseille zurückzukehren, um dort eine kleine Einsiedelei an dem Ort zu errichten, wo das Dorf der Katalonier gestanden hatte.
»Nun wohl, Bertuccio«, sagte er, »ich willige ein, dass du mich begleitest und über meine Tage wachst, bis ich nach Frankreich zurückkehre. Aber du wirst das verhängnisvolle Geheimnis bewahren, welches ich dir niemals offenbarte, dessen Erfolg du aber siehst«, fügte er hinzu, indem er gegen Bertuccio die Hände ausstreckte, welche dieser voll Ehrfurcht küssen wollte.
»Nein, mein armer Bertuccio«, sagte er, »gib mir einfach deine Hand, und wenn in Zukunft einer von uns höher ist, so bin ich es, doch nur wegen meiner größeren Leiden und meiner Ergebung.«