Die Macht der Drei – Teil 51
Der lange, sechs Monate währende Poltag ging seinem Ende zu. Dicht über dem Horizont zog die Sonne ihren vierundzwanzigstündigen Kreis. Immer näher kam sie der Kimme, wo Eisfeld und Himmel zusammenstoßen. Klingender Frost kündete die kommende Polnacht an.
Erik Truwor trat aus dem Berg. Den schweren Eisstock in der Rechten stieg er über die Stufen und Eisbänder schnell empor, bis er die höchste Zinne erreichte. Da hatte in den vergangenen Tagen die Sonne den Eisberg mit wärmenden Strahlen umkost und seine Formen verändert, hatte aus dem grünlich und bläulich schimmernden Eismassiv ein Gebilde geformt, das an einen hochlehnigen Sessel erinnerte, an einen Königsstuhl aus den Zeiten der Goten oder Merowinger.
Hier blieb er stehen, und sein Auge haftete an der zum Sitz ausgeschmolzenen Gipfelzinne.
»Was ist das? … Ein Sitz! … Ein Thron … mein Thron!«
Mit einer Herrschergebärde ließ er sich nieder. Den schweren Eisstock wie ein Zepter an der rechten Seite. Die Arme auf den Seitenlehnen dieses bizarren Thrones. So saß er dort, rot von der Sonne umglüht, einer Statue vergleichbar. Saß und sann.
Sprunghaft wurden seine Gedanken, kreuzten sich, überstürzten sich.
In der Höhle des Eisberges neben den Funkenschreibern stand Atma. Der Inder ließ die Streifen durch die Finger laufen, zurück bis zu der letzten drohenden Depesche der Macht, die auch hier von den Apparaten mitgeschrieben war.
War die Kluft schon so weit geworden, dass Erik Truwor seine Gedanken und seine Geheimnisse für sich behielt?
Mit wachsender Sorge hatte Atma die Veränderung des Freundes verfolgt. Was würde kommen, was würde das Ende sein? Was stand im Buch des Schicksals über Erik Truwor geschrieben?
Atma sprang auf und verließ den Berg. Er stand auf dem flachen Eis und blickte sich um. Gegen den tiefroten Abendhimmel hoben sich die gigantischen Formen des Eisthrones ab. Wie eine dunkle Silhouette sah er die Gestalt Erik Truwors dort gegen den blutfarbigen Himmel in den Äther ragen. Ein Zepter an der Seite, den Blick in die Ferne gerichtet.
So gewaltig, so zwingend war das Bild, dass es Soma Atma in tiefen Bann schlug, seine Gedanken verzauberte, seine Erkenntnis trübte.
Sollte er sich täuschen? Erhob das Schicksal diesen Mann weit über alle Sterblichen? War ihm die Weltherrschaft, die absolute Gewalt über Tod und Leben aller Geschöpfe bestimmt?
In eisiger Einsamkeit verrann die Zeit, bis der Zauber wich, bis Atma nicht mehr den Schein, sondern das Wesen sah.
Erik Truwor saß dort oben und starrte regungslos in den glühenden Sonnenball. Leise und abgerissen fielen Worte von seinen Lippen: »Zu meinen Füßen liegt die Welt! Was bin ich? … Was bin ich? Bin ich der Herr? … Ja … ja! Ich bin ihr Herr. Ich habe die Macht, sie zu zwingen! … Zwingen … zum Guten zwingen. Ein guter, ein gerechter Herr will ich sein. Aber wenn sie mir zu trotzen wagen? … Trotzen … wer will mir trotzen? … Kein Sterblicher! … Auf Erden keiner … keiner! … Silvester … Atma? … Auch die nicht … Ha! … Der eine sicher nicht. Den hat das Schicksal genommen, als er sein Geschick erfüllt … Der andere! … Atma? … Atma! … Atma!! … Fiel Cäsar nicht durch Brutus’ Hand? … Atma! … Rief ich dich. Da kommst du ja …«
Halb aufgerichtet, mit vorgebeugtem Leib blickte er auf Atma, der langsam den Pfad emporklomm. Fester umkrampfte seine Hand den schweren Eisstock.
»Hüte dich, Atma!«
Er sank in den Sessel zurück. In seinen Augen lauerte es.
Nun stand Atma dicht bei ihm. Schaute ihn mit der ganzen Kraft seines zwingenden Auges an und sah, wie Erik Truwor kalt und fremd an ihm vorbeiblickte.
»Erik Truwor! Siehst du deinen Freund nicht?«
Erik Truwor wandte leicht das Haupt und streifte den Inder mit einem flüchtigen kalten Blick.
»Was willst du?« Fremd und leer klang die Frage.
»Fragst du so den Freund?«
Erik Truwor zog die Brauen zusammen, bis sie sich berührten. »Freund …?«
Der Ton des Wortes traf das Herz des Inders. »Erik … besinne dich … Was willst du tun? … Denke an Pankong Tzo, an die Weissagung, an die Ringe! Es waren drei!«
»Was gilt mir noch Pankong Tzo? … Und die drei Ringe …«
»Haft du Silvester auch vergessen?«
»Silvester? … Silvester … Der hat fein Geschick erfüllt … Seine Zeit war um …« Erik Truwor stieß den schweren Stock in das Eis, dass die Brocken spritzten. »Jetzt geht es um größere Dinge!«
»Dann brauchst du deinen Freund Soma auch nicht mehr? … Oh, dass ich bei Silvester im eisigen Grabe läge, anstatt diese Stunde zu sehen … Um größere Dinge geht es, sagst du … Denke an die Worte Tsongkapas: ›Es mag leichter sein, große Dinge zu vollbringen als gute!‹ Was du sinnst, weiß ich. Unheilig sind deine Gedanken! Aber ich sage dir, nie wird ein Werk bestehen, das auf Gewalt gegründet ist. Hüte dich vor der Rache des Schicksals! … Bedenke, dass du nur ein Werkzeug des Schicksals bist.«
Erik Truwor hatte sich erhoben. Jeder Nerv der hageren, hochragenden Gestalt war gespannt. Noch schärfer, eckiger als sonst sprang die gebogene Nase über die schmalen Lippen hervor. Tiefe Falten durchzogen die hohe Stirn. Wie Eisblinken blitzte es lauernd und doch gewaltsam in den tiefen Augenhöhlen. Machtlos glitten Kraft und Willen Atmas an dieser Wandlung ab.
»Ich … ein Werkzeug des Schicksals? … Und wenn ich es verschmähte, ein Werkzeug des Schicksals zu bleiben … und wenn ich …« Seine Gestalt reckte sich, als ob er über sich selbst hinauswachsen wolle. »… wenn ich das Schicksal meistern wollte!«
Vor dem drohenden Blitz aus Erik Truwors Augen wich Atma einen Schritt zurück.
»Jetzt bin ich der Mächtigste auf Erden. Wer wagt es, mir zu trotzen … das Menschengeschlecht liegt zu meinen Füßen … Die Elemente müssen mir gehorchen … Ich will die Wogen des Meeres zähmen und dem Sturm gebieten, sich zu legen … nie zuvor wurde einem Menschen solche Macht gegeben … und ich soll sie nicht gebrauchen?«
Atma trat dicht auf Erik Truwor zu. Noch einmal suchte und fand er Worte, um den Freund zu halten.
»Erik, du bist krank. Der Tod Silvesters hat deine Seele erschüttert, die Arbeit deinen Körper geschwächt.«
Erik Truwor schüttelte den Arm des Inders unwillig ab.
»Krank? … Erschüttert? … Ha! Mein Körper ist kräftiger, mein Geist klarer und frischer denn je.«
Er ließ den schweren Eisstock wie ein Spielzeug durch die Finger laufen.
»Erik Truwor!« Die Stimme Atmas klang streng.
»Du frevelst! … Du frevelst am Schicksal. Hüte dich!«
»Ich mich hüten? … Vor wem? … Vor dir?«
Er hob den Eisstock, als wolle er Atma zu Boden schlagen. Dann stieß er ihn tief in das splitternde Eis hinter sich und reckte die Arme mit geballten Fäusten gegen den Himmel, als wolle er einem unsichtbaren Gegner in den Lüften drohen. Die Fäuste öffneten sich, und wie Krallen bewegten sich die Finger.
Ein heiserer Schrei, halb Drohung, halb Lachen, brach aus seinem Hals.
»Hüten soll ich mich? … Hüten? Vor wem? … Vor euch Unsichtbaren da oben? Haha … Kommt heraus, ihr geheimnisvollen Mächte, aus euren Verstecken. Kommt! … Ich will mit euch kämpfen! … Ha … haha … wo seid ihr? Kommt! … Habt ihr Furcht … Haha … Ich lasse mich von euch nicht äffen. Ha … ha … haha … Ich nicht!«
Ein Wetterleuchten, ein Blitzstrahl weit draußen am Horizont ließ Atma erschauern.
»Erik Truwor, lass dich warnen. Sahst du das Zeichen, das geschehen ist?«
»Ha … ha! Du Blinder, du Abergläubischer. Das harmlose Wetterleuchten soll wohl ein Zeichen von deinem Schicksal sein. Ha … ha … Ihr Toren … hinter jedem Naturvorgang, den euer kümmerliches Hirn nicht begreift, seht ihr etwas Geheimnisvolles … Übernatürliches … und wenn es euch passt, einen Wink des Schicksals, dem ihr euch beugt … dem ihr euch fügt … Ich will mich nicht fügen … ich nehme den Kampf mit euch auf … ich forme mein Schicksal nach meinem Wissen! … Wehe, wer mich stört! … Wehe euch da oben … ich fürchte euch nicht … hütet euch vor mir … Hütet euch. Ich komme über euch mit meiner Macht, die größer als die Welt sie je gesehen hat!«
Schauerlich, wie ein Kriegsruf hallten die letzten Worte Erik Truwors in die stille Polardämmerung. Und plötzlich eilte er springend und stürzend den steilen Hang des Eisberges hinunter und verschwand in der Höhle, die den Rapid Flyer barg. Mit wankenden Knien folgte Atma seiner Spur. Sah, als er auf dem flachen Eis ankam, gerade, wie Erik Truwor das Flugschiff aus seinem Versteck ins Freie brachte.
»Wohin, Erik? Wohin?« Atma rief es mit verlöschender Stimme.
»In den Kampf!« Erik Truwors Stimme klang wie einst der jauchzende Kriegsruf der alten Waräger. »In den Kampf! Mit denen da oben! Heißa! … Jetzt wehrt euch … Erik Truwor kommt … der Große kommt.«
Atma sah, wie Erik Truwor den großen Strahler in den Rapid Flyer hob und alle Vorkehrungen traf, die Kabine zu verschließen. Betend faltete er die Hände. Er erhob sich von den Knien und ging mit ausgestreckten Händen auf Erik Truwor zu. Alle Kräfte seines Geistes waren aufs Höchste gespannt. Alles, was sie herzugeben vermochten, konzentrierte er mit stärkster Energie auf den Willen, Erik Truwors verwirrten Geist zu zwingen. Die hypnotische Gewalt begann zu wirken.
»Noch einmal hilf mir, du großer Gott. Gib meinem Herzen größere Kraft. Kraft, das kranke Herz zu zwingen und zu heilen. Dann nimm meine Seele dafür hin.«
Erik Truwor hielt in seinen Bewegungen allmählich inne. Seine gestraffte Gestalt sank langsam in sich zusammen. Dann plötzlich schien er sich der fremden Kraft, die über ihn gekommen war, bewusst zu werden. Er wandte den Kopf Atma zu. Ihre Blicke vergruben sich ineinander. Bewegungslos standen sich die beiden Männer gegenüber. Ein Zweikampf … furchtbar … stumm … Bebendes Hoffen zog durch Atmas Seele. Der Kampf war angenommen … Durchhalten! Sein Gebet war erhört! … Da … ein Wölkchen schob sich vor den roten Sonnenball und raubte sein Licht. Einen kurzen Augenblick nur … Da war es geschehen. In dem plötzlichen Halbdunkel verlor Atmas Blick die Schärfe … für einen Moment nur entglitt ihm die eben gewonnene Gewalt.
»Ha … ha … haha …« Da war es wieder, das kurze, abgerissene Lachen des Wahnsinns.
Mit einem Sprung hatte sich Erik Truwor gedreht und den bannenden Blicken Atmas entzogen. Mit schaurigem Hohngelächter sprang er in die Kabine und warf die Tür hinter sich zu.
Zerbrochen, besiegt, geschlagen stand Atma. Der Rapid Flyer verließ den Boden und schoss in die Höhe.
»Erik … Erik Truwor!« … Der Ruf Atmas verhallte ungehört in der eisigen Luft. Schon wurde das Flugschiff klein und immer kleiner. Jetzt nur noch ein Punkt … Jetzt nicht mehr sichtbar.
Demütig senkte Atma sein Haupt vor dem Willen des Schicksals. Er ging in den Berg zurück. Da fand er den Fernseher, fand den kleinen Strahler und suchte am dämmernden Himmel, bis das Bild des Flugschiffes gefasst war und auf der Mattscheibe erschien. Da … Einen Kampf sahen seine Augen … Einen Kampf, wie ihn noch nie ein Sterblicher gesehen hatte … Einen Kampf gelenkter und gebändigter Naturgewalt gegen die fessellosen Naturkräfte des Firmaments.
Ein Schrei rang sich aus Atmas Brust … Entsetzen sprach aus seinen Zügen … Seine Zunge stammelte Gebet … Hilferuf … Er barg das Gesicht in den Händen, um das grausige Bild nicht weiter zu sehen.