Die Macht der Drei – Teil 48
Dr. Glossin saß in seiner New Yorker Wohnung und überschlug die Ergebnisse seiner politischen Tätigkeit. Seit acht Tagen war er in Amerika und hatte keine Stunde seiner Zeit verloren. Mit den Führern der Sozialisten und mit denen der Plutokraten hatte er verhandelt, Arbeiter und Milliardäre waren der Herrschaft des Diktators gleichmäßig müde. Leise Schwankungen des sonst so festen und zuverlässigen Bodens deuteten auf kommende gewaltsame Ausbrüche.
Noch jetzt wunderte sich Dr. Glossin über die Vertrauensseligkeit, mit der die Parteiführer der Sozialisten und Plutokraten ihm entgegengekommen waren. Wer gab denen denn den Beweis, dass er wirklich von Cyrus Stonard abgefallen sei? Was wussten die Tölpel von der unbekannten Macht? Von allem, was noch zu erwarten war?
Dr. Glossin kannte die Pläne der Roten und der Plutokraten und hatte ihre Chancen genau erwogen. Beiden Parteien würde die Revolution zweifellos glücken. Aber in beiden Fällen würde der Erfolg kein vollkommener sein, würde es im weiteren Verlauf unbedingt zum Bürgerkrieg kommen. Machten die Roten die Revolution, würden der Westen und ein Teil der Mittelstaaten sich dagegen erheben. Machten sie die Weißen, würde umgekehrt der Osten rebellieren.
In den Vereinigten Staaten gab es aber noch eine dritte Partei, deren Mitglieder sich einfach als »Patrioten« bezeichneten. Eine Partei, für die Dr. Glossin bis vor Kurzem nur ein Achselzucken übrig hatte. Die Patrioten waren so unzeitgemäß, die Politik nur des Vaterlandes und der alten amerikanischen Ideale halber zu treiben. Freiheit des Einzelnen und des ganzen Staatswesens. Abschaffung aller Korruption. Innehaltung von Treue und Glauben bei allen, auch bei politischen Abmachungen. Das Programm der Patriotenpartei bestand aus idealen Forderungen. Darum hatte sie Cyrus Stonard auch gewähren lassen, hatte sie ebenso wie Glossin für ungefährliche Schwärmer gehalten. Erst vor fünf Tagen war der Doktor mit William Baker, dem Führer der Partei, in Verhandlung getreten. Nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, dass die Roten und die Weißen am gleichen Tage losschlagen wollten. Er hatte die Partei zum Handeln aufgepeitscht. Er hatte sich mit Mr. Baker eine lange Nacht hindurch eingeschlossen, einen vollständigen Revolutionsplan mit ihm entworfen und in allen Einzelheiten ausgearbeitet. So raffiniert und wirkungsvoll, dass dem Parteiführer vor der teuflischen Schlauheit des Arztes graute.
Nur über die Behandlung und Beseitigung des Diktators waren sie nicht einig geworden. Glossin war für Lufttorpedos auf das Weiße Haus. Mr. Baker war gegen jedes Blutvergießen. Er verkannte die großen Verdienste des Präsident-Diktators um die Union nicht. Cyrus Stonard sollte weg, sollte der Macht beraubt werden, aber ohne Schaden an Leib und Leben zu nehmen.
Damals … jetzt vor fünf Tagen … hatte Mr. Baker eine kurze Zeit überlegt, hatte angedeutet, dass er einen Weg finden würde, hatte den Weg selbst verschwiegen. Von Tag zu Tag waren seine Andeutungen zuversichtlicher geworden. Aber die Tage waren auch verstrichen. Die Zeit drängte. Heute schrieb man den fünften August. Am siebenten wollten die Weißen und die Roten losschlagen. Es war Zeit. Höchste Zeit! Und dieser Ideologe, dieser Baker, spielte immer noch den Geheimnisvollen.
Dr. Glossin sprang wütend auf. Es musste zum Ende kommen. So oder so. Es war um die achte Abendstunde, als er den Broadway erreichte und sich in einem der Wolkenkratzer in die Höhe fahren ließ. Er trat in einen einfachen Büroraum im 32. Stock. Einen spärlich und nüchtern ausgestatteten Geschäftsraum. Nur eine Person war darin. Ein hochgewachsener Fünfziger mit ergrautem Vollbart und Haupthaar. William Baker, der Führer der Patrioten.
»Sie kommen, Herr Doktor? … Um so besser, da brauche ich nicht nach Ihnen zu schicken.«
»Ich komme, Mr. Baker, weil die Zeit uns auf den Nägeln brennt. Ich bestehe darauf, dass mein alter Vorschlag durchgeführt wird.«
»Es wird nicht nötig sein.«
»Bitte … sprechen Sie deutlicher.«
Der Parteiführer schritt schweigend zu einer Tür zum Nebenraum und öffnete sie. Eine dritte Person trat ein. Trotz des Zivils erkannte Dr. Glossin Oberst Cole, den Kommandeur des Leibregiments. Er kannte den Obersten seit Jahren, und der Oberst kannte ihn ebenso.
Glossin war starr. Seine gewohnte Selbstbeherrschung versagte.
»Sie … Oberst Cole …?«
Baker nickte.
»Sind Sie zufrieden, Herr Doktor?«
Verwirrt drückte der Doktor die Hand, die der Oberst ihm bot. Das war also der Trumpf, den Baker solange zurückgehalten hatte. So musste der Plan gelingen.
»Heute Abend um elf Uhr auf die Sekunde wird die Aktion der Partei in allen Städten der Union beginnen. Um zehn Uhr löst das Regiment Cole die alten Wachen im Weißen Haus ab. Alles Weitere besprechen Sie auf der Fahrt. Jetzt fort!«
Ein kurzer Händedruck. Dr. Glossin fuhr mit dem Oberst bis auf das Dach des Wolkenkratzers. Das Flugschiff des Kommandeurs nahm sie auf. Die Dämmerung des Sommerabends lag über der See, als das Schiff den Kurs auf Washington nahm und die Bay von New York überflog. Staten Island, Sandy Hook, die Einfahrt zum New Yorker Hafen. Dr. Glossin und Oberst Cole standen am Fenster und blickten ostwärts über die See.
Da zog es in einer unendlichen Linie heran. Panzer und Panzerkreuzer, Torpedoboote und Torpedojäger, Flugtaucher und Unterseepanzer. Es rauschte durch die See, deren Wogen sich vor dem Bug der kompakten Masse aufbäumten und in stiebendem Schaum zerflockten. Es kam mit einer Geschwindigkeit von vielen Seemeilen in der Stunde durch die Fluten dahergerast. Die schweren Panzer standen halb schief, den Bug hoch über den Wogen, das Heck so tief in der See, dass das Wasser dahinter einen Berg bildete.
Es war ein seltsames und ein grauenvolles Schauspiel. Diese Schiffe fuhren nicht mit eigener Kraft. Sie fuhren überhaupt nicht, wie Schiffe zu fahren pflegen. In regelmäßigem Abstand und in Formationen. Ihre eisernen Körper hingen zusammen, wie etwa eine Gruppe von Pfahlmuscheln, die ein Fischer vom Grund losgerissen hat und durch das Wasser schleift. An den Seitenwänden des ersten schweren Panzers klebten, aus dem Wasser gehoben, drei Torpedoboote, wie die jungen Muscheln an den Schalen der alten. Der zweite Panzer haftete, um ein Drittel seiner Länge nach Backbord vorgeschoben, am ersten Schlachtschiff. So folgte sich die ganze gewaltige Schlachtflotte, zu einem einzigen, regellosen Block verquirlt, von einer unsichtbaren, unwiderstehlichen Gewalt durch die Fluten gerissen.
An allen Masten, von der laufenden Fahrt über den halben Atlantik zerfetzt und arg mitgenommen, aber noch erkennbar, der Union Jack, die in hundert Seeschlachten bewährte Flagge Englands. Erst auf der Höhe von Sandy Hook mäßigte sich das Tempo der wilden Fahrt. Langsamer, aber immer noch verkettet und verquirlt zog die gelähmte Flotte durch die Landenge in die Bay von New York ein.
Dr. Glossin trat einen Schritt vom Fenster zurück und presste den Arm des Obersten Cole.
So standen sie und starrten auf das Schauspiel da unten, während das Flugschiff seinen Weg nach Washington folgte. Sie sahen die gelähmte Flotte klein und kleiner werden, sahen sie als einen Punkt im unsicheren Licht der wachsenden Dämmerung verschwinden. Sie starrten noch immer auf den Fleck, wo sie verschwand, als längst nichts mehr zu sehen war.
Nach langem Schweigen sprach der Oberst: »Was war das? Habe ich geträumt?«
»Was Sie sahen, war grausame Wirklichkeit. Das Wirken der geheimnisvollen Macht, mit der Cyrus Stonard spielen wollte.«
Dr. Glossin sprach. Von Dingen, von denen Oberst Cole bis zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt hatte. Von der unbekannten Macht. Von ihrer Gewalt. Von ihren Drohungen und Verboten. Von der Unmöglichkeit, sich ihr zu widersetzen. Je weiter der Doktor kam, desto mehr sank der Oberst in sich zusammen. Er sprach während der Fahrt kein Wort mehr und zog sich in Washington schweigend in sein Dienstzimmer zurück.
Um zehn Uhr wurden im Weißen Haus die Wachen des Regiments Howard durch Offiziere und Mannschaften des Regiments Cole abgelöst. Oberst Cole nahm den Bericht seines Wachoffiziers teilnahmslos entgegen. So blieb er sitzen, bis Glossin, die Uhr in der Hand, zu ihm ins Zimmer trat.
»Herr Oberst, was zeigt Ihre Uhr?«
Langsam, fast schwerfällig zog der Oberst die eigene Uhr. »Zehn Minuten nach zehn.«
Die Uhr in der Hand des Obersten zitterte. Seine Hand vibrierte. Dr. Glossin blickte spöttisch auf den alten Offizier.
»Herr Oberst Cole!« Die Stimme Glossins drang schneidend durch die Stille. Der Oberst sprang auf.
»Ich bin bereit.«
Der Oberst trat auf den Korridor vor der Zimmerflucht des Diktators und führte eine Signalpfeife an den Mund. Noch bevor der letzte Ton verklungen war, strömten von allen Seiten her Mannschaften und Offiziere des Leibregiments Cole herbei und scharten sich um ihren Obersten.
Die beiden Adjutanten des Diktators traten auf den Flur, um den Lärm zu verbieten. Sie erschraken vor dem düsteren Ernst und der Verbissenheit in den Zügen der Soldaten und Offiziere.
»Was soll das, Herr Oberst?«
»Sie sind verhaftet. In Obhut von Major Stanley.«
Widerstandslos beugten sich die beiden Adjutanten der erdrückenden Übermacht. Während sie abgeführt wurden, öffnete Oberst Cole die Tür zum Zimmer des Diktators. Dr. Rockwell trat ihm entgegen.
»Ruhe, meine Herren! Der Präsident bedarf dringend der …«
Der Leibarzt sah die entschlossenen Mienen der Andrängenden und trat schweigend zur Seite. Der Weg war frei. Oberst Cole trat in das Zimmer und schritt langsam auf den großen Schreibtisch zu. Er hatte von der rechten Seite her den Blick auf den Tisch und den Diktator. Cyrus Stonard saß bei der Arbeit, ein Schriftstück in der Hand. Er blieb ruhig sitzen und senkte nur die Hand mit dem Dokument, während ein eigenartiges Lächeln seine hageren Aszetenzüge überflog.
Offiziere und Mannschaften strömten hinter ihrem Oberst in den Raum, bildeten an der Türwand einen Halbkreis. Es wurde so still, dass man das Ticken der kleinen Standuhr bis in den fernsten Winkel vernehmen konnte.
Cyrus Stonard wandte das Haupt halb nach rechts gegen die Eingetretenen.
»Was wünschen die Sieger von Graytown, von Philipsville und Frisko?«
Es waren Schlachtennamen aus dem letzten Japanischen Krieg. Ehrennamen für Oberst Cole und sein Regiment. In diesem Augenblick aus dem Mund des Diktators kommend, wirkten sie lähmend auf die Eingetretenen.
Oberst Cole wich einen Schritt zurück … und noch einen und noch mehrere. Wich zurück vor diesem rätselhaften Ausdruck in Cyrus Stonards Augen. Das war nicht der drehende, faszinierende Blick des Gewaltherrschers, sondern der überlegene, abgeklärte eines Mannes, der alles erkannt und alles als eitel befunden hat.
Oberst Cole wich zurück, bis er Widerstand fühlte. Arme umschlangen ihn. Die flüsternde Stimme, der warme Atem Glossins drangen an sein Ohr. Mit sicher werdenden Schritten trat er wieder auf den Diktator zu.
»Herr Präsident, das Land verlangt Ihren Rücktritt!«
»Das Land?«
»Das Land, Herr Präsident!«
Cyrus Stonard hörte die feste Stimme des Obersten, blickte ihm in die Augen und sah die Wahrheit. Langsam kamen die Worte von seinen Lippen: »Der Wille des Landes ist für mich das höchste Gesetz … Was habe ich zu tun?«
»Das Land zu verlassen!«
»Wann?«
»Sofort!«
Cyrus Stonard erhob sich mit kurzem Ruck, als gehorche er einem Befehl.
»In wessen Namen handeln Sie?«
»Im Namen aller ihr Vaterland und die Freiheit liebenden amerikanischen Bürger.«
Cyrus Stonard wusste genug. Das war aus dem Programm der Patrioten, die er für harmlos gehalten hatte. Nicht die Roten oder die Weißen, die Patrioten machten seiner Herrschaft ein Ende. Er schaute auf die Versammlung und erblickte, durch die Figur des Obersten halb gedeckt, Dr. Glossin.
»Gehört Herr Dr. Glossin auch zu diesen Bürgern?«
Oberst Cole wich zur Seite, als ob die Nähe Glossins ihm peinlich sei. Der Arzt stand frei vor dem Diktator. Er musste dessen Blick aushalten, denn die Mauer der Offiziere und Soldaten versperrte ihm den Rückzug. So stand er und wand sich unter den Blicken des Diktators, wurde wechselnd blass und rot, wäre in diesem Moment gern meilenweit weg gewesen.
Cyrus Stonard sah ihn erbärmlich und klein werden, drehte ihm den Rücken und wandte sich Oberst Cole zu.
»Kameraden! Ich verlasse das Land in der Überzeugung, dass es sein Wille ist. In der Hoffnung, dass mein Weggehen zu seinem Heil dient. Was ich erstrebte … das Schicksal hat es anders gewollt. Eine Macht, größer, als ich je geahnt, hat es in Menschenhand gelegt. Ich habe dagegen gekämpft … Als ich den Kampf aufnahm, wusste ich, dass sein Ausgang mein Schicksal bedeutet … Ich bin unterlegen … Wohin soll ich gehen?«
»Wohin Sie wollen, Herr Präsident. Ein Flugschiff steht zu Ihrer Verfügung.«
»… Nach Europa … Nach Nordland. Gehen wir.«
Oberst Cole trat an die Seite des Präsidenten. Auf seinen Wink öffnete sich eine Gasse zur Tür. Still und stumm standen die Offiziere und Mannschaften des Leibregiments und sahen den Mann scheiden, der sie durch zwanzig Jahre zu Ruhm und Ehre geführt hatte.
Oberst Cole wollte vorangehen. Der Diktator ergriff seinen Arm und stützte sich darauf.
»Ich bin müde, alter Freund!«
Der Oberst presste die Lippen aufeinander. Aus seinen starr blickenden Augen brachen zwei Tränen, die langsam über sein Gesicht herniederrollten.
Eine Viertelstunde später erhob sich ein Regierungsflugzeug vom Dach des Weißen Hauses. Es steuerte in die Nacht. Kurs nach Osten.
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