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Der Marone – Ein niedergeschlagener Geist

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Kapitel 11

Ein niedergeschlagener Geist

Die Sonne war fast im Begriff, die Spitze des Jumbéfelsens mit ihren Strahlen zu vergolden, während im Tal noch Finsternis herrschte, als durch die Jalousieflügel von Willkommenberg hindurch schimmernde Lichter anzeigten, dass die Bewohner des Herrenhauses bereits aufgestanden und in Bewegung seien. Ein Licht schien aus dem Schlafzimmer des Custos zu kommen, ein anderes aus der Kammer der kleinen Quasheba und das Hellste von allen erleuchtete die Vorderfenster und kam von dem Kronleuchter in der großen Halle.

In Smythjes Zimmer allein schien weder Licht noch Bewegung zu sein, die Fenster waren dunkel und die Vorhänge herabgelassen. Zweifelsohne schlief der aristokratische Stutzer noch und wiegte sich in den Träumen seiner mannigfachen vermeintlichen Eroberungen, denen die gestrige, so gut ausgefallene Erklärung die Krone aufgesetzt hatte.

Obwohl noch so sehr früh am Morgen, so saßen der Custos als auch Käthchen doch schon in der großen Halle beim Frühstück. Indes schien nur Herr Vaughan zu essen und zu trinken, Käthchen aber nur damit beschäftigt zu sein, ihm seinen Kaffee einzuschenken und ihm in anderer Weise zu Hilfe zu kommen. Der Anzug des Custos war von seinem gewöhnlichen sehr verschieden, denn er war ein vollkommener Reiseanzug: ein Überrock aus starkem Zeug mit weiten Taschen, über die Knie hinaufgehende Stiefel und ein Paar Pistolen im Gürtel zur Sicherheit bei einer etwaigen Begegnung mit weggelaufenen Sklaven. Ein Filzhut lag auf einem Stuhl und ein Kamelottmantel hing über der Lehne desselben. Alles dies deutete auf eine Reise hin, die in wenigen Minuten angetreten werden sollte, und zwar, wie die an den Stiefeln angeschnallten großen Sporen deutlich zeigten, zu Pferd.

Dies wurde dadurch noch klarer, dass am Fuß der großen steinernen Treppe zwei gesattelte und gezäumte Pferde hielten, mit einem schwarzen Reitknecht, ebenfalls im Reisemantel, dabei. Hinten auf den Sätteln befestigt waren Mantelsäcke und vorn Reisetaschen, die das nötige Gepäck enthielten.

Der Zweck dieser Reise ist eigentlich schon längst bekannt. Herr Vaughan wollte endlich seine schon lange verschobene Absicht ausführen und eine Pflicht erfüllen, die er seiner Tochter schuldig zu sein glaubte, deren Nichterfüllung aber die Wohlfahrt und das Glück ihrer ganzen Zukunft aufs Ernste gefährden konnte. Deshalb wollte er jetzt zur Hauptstadt der Insel reisen, um dort von der gesetzgebenden Versammlung den besonderen Gnadenakt zu erlangen, den diese allein erteilen konnte und der seine Tochter von den entehrenden Rechtsunfähigkeiten befreien sollte, die das Schwarze Gesetzbuch auf alle von diesem unglücklichem schwarzen Menschenstamm gelegt hatte. Sechs Zeilen von der gesetzgebenden Versammlung und der Regierung sollten, wenn sie auch vielleicht nicht die Farbe oder den mit derselben verbundenen leichtfertigen Spott Übelwollender zu beseitigen vermochten, dennoch alle der Erbschaft entgegenstehenden Hindernisse hinwegräumen, sodass Käthchen Vaughan unbestritten die gesetzliche Erbin des ganzen Vermögens ihres Vaters würde.

Eine solche Akte zu erwirken, war der Zweck der Reise, die Loftus Vaughan jetzt gerade antreten wollte, und an deren glücklichen Erfolg er durchaus nicht zweifelte. Freilich, wäre er Buchhalter oder ein kleiner Handelsmann gewesen, so hätte er seines Erfolges wohl nicht so unbedingt gewiss sein mögen, allein Custos eines bedeutenden Bezirks, mit vielen Freunden in der Versammlung selbst, wusste er ganz wohl, dass er nur zu fordern hatte, was ihm sofort gewährt werden würde.

Dennoch war er jetzt beim Antritt seiner Reise durchaus nicht in munterer Stimmung. Schon der Gedanke, eine lange und anstrengende Reise machen zu müssen, war an und für sich genügend, ihn zu verstimmen, denn er liebte ein ruhiges Leben und die Anstrengungen einer Reise waren ihm sehr zuwider. Allein außer diesem war noch mehreres, was störend auf seinen frischen Mut als auch auf seine sonst gewöhnlich heitere Stimmung eingewirkt. Schon seit einigen Tagen hatte er sich nicht so ganz wohl befunden, er hatte den Appetit verloren und magerte sichtlich ab. Ein beständiger brennender Durst quälte ihn, den er trotz allen Trinkens nicht zu löschen vermochte.

Der Arzt der Pflanzung war durch die sich bei Loftus Vaughan einstellenden merkwürdigen Erscheinungen sehr beunruhigt, besonders, da seine Vorschriften durchaus keine Linderung verschafften. Die Krankheit war in nur kurzer Zeit tatsächlich so hartnäckig geworden und hatte so zugenommen, dass er seine Reise nach Spanischstadt aufgegeben oder auf eine gelegene Zeit verschoben haben würde, hätte er nicht gehofft, in der Hauptstadt einen erfahrenen und geschickten Arzt anzutreffen, der seine rätselhafte Krankheit zu erkennen und dann zu heilen vermöge. Auf diese Hoffnung gestützt, hatte er sich entschlossen, die Reise auf alle Fälle anzutreten.

Noch ein ganz anderer Druck lastete aber außerdem auf seinem Geist, der ihn vielleicht mehr als alles andere beunruhigte. Seit dem Tod Chakras oder eigentlich seitdem ihm der Geist Chakras erschienen war, hatte sich bei Loftus Vaughan eine Art übernatürlicher Furcht festgesetzt, und oftmals hatte er über die schreckliche Erscheinung nachdenken müssen, die ein solches Entsetzen bei ihm hervorgebracht hatte. Hätte er allein nur diese Erscheinung wahrgenommen, er hätte vielleicht die durch sie erzeugte Furcht überwinden mögen, denn er hätte sie dann gänzlich einer ihn trügenden Sinnestäuschung zuschreiben können, einem Blendwerk seiner eigenen zu jener Zeit durch den Anblick auf dem Jumbéfelsen stark erregten und erhitzten Einbildungskraft. Allein Trusty hatte ebenfalls den Geist gesehen und Trustys Einbildungskraft war sicher durchaus nicht sehr lebhaft.

Und wie war es überhaupt nur möglich, dass beide durch dieselbe Einbildung und zur selben Zeit getäuscht werden konnten?

Wie er die Sache auch ansehen und zu erklären versuchen mochte, immer verblieb etwas Rätselhaftes, etwas Geheimnisvolles, das des Custos Herz wider Willen mit Furcht erfüllte, wenn er an Chakra und die Erscheinung seines Geistes dachte. Der damals auf dem Jumbéfelsen empfangene Eindruck hatte auf ihn so stark eingewirkt, dass er diesen Felsen nie wieder besuchte und es vermied, allein auf dem dicht bewaldeten Berg zu sein, weil er beständig eine zweite Begegnung mit der schrecklichen Erscheinung befürchtete. Allein auch diese Furcht hätte ihn mit der Zeit wohl verlassen, wenn er auch den Myalmann selbst und die schrecklichen Umstände seines Todes nimmermehr ganz vergessen hätte, wäre ihm nicht an demselben Tag, an dem Smythje in den hohlen Baum fiel, ein ganz besonderer Umstand berichtet worden.

An jenem Nachmittag nämlich, da Quashie durch den Wald und über die Berge in größter Aufregung zurückkehrte, erklärte der schwarze Bube, dass er, als er an einer bekannten, das Teufelsloch genannten Gegend vorbeigekommen sei, dort den Geist des alten Chakra gesehen!

Als Quashie das Haus erreicht hatte, erzählte er diese schreckliche Begebenheit unter Zähneklappern und Heulen und mit grässlich verdrehten Augen. Von seinen Mitsklaven wurde der täppische und furchtsame Knabe allerdings ausgelacht und verspottet, allein auf seinen Herrn machte dessen Erzählung einen höchst unbehaglichen und peinlichen Eindruck und erneuerte in ihm jenes starre Entsetzen, das ihn lange Zeit erfüllt und von dem er sich immer nur teilweise freizumachen gewusst hatte.

Deshalb hatte dies auch nicht wenig dazu beigetragen, das Gefühl der Niedergeschlagenheit und Entmutigung, das ihn beim Antritt seiner Reise jetzt beherrschte, noch zu verstärken.