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Der Marone – Die geheimnisvolle Abwesenheit

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Kapitel 10

Die geheimnisvolle Abwesenheit

Das kurze Gespräch zwischen Jessuron und seinem Aufseher hatte nur ganz leise stattgefunden, da es doch nicht gerade wünschenswert war, dass es von irgendjemand gehört wurde und am allerwenigsten von dem Neffen des den Hauptgegenstand des Gesprächs bildenden Mannes, den sie noch in der Hängematte, keine zehn Schritte entfernt, vermuteten, obwohl diese von der Treppe aus nicht gesehen werden konnte, da sie auf dem Teil der Veranda hing, welcher sich an der anderen Seite des Hauses erstreckte.

Als Ravener fortgegangen war, wollte der Koppelhalter seine frühere Absicht ausführen und Toilette machen. Dies nahm nicht viel Zeit in Anspruch, denn nach einem kurzen Aufenthalt in der Kammer erschien er wieder auf der Veranda in demselben Anzug, blauem Frack, kurzen Hosen und Stulpenstiefeln, die er beständig trug. Der Rock war auf der Brust geknöpft, der weißbraune Biberhut auf dem Kopf und die große Brille saß fest auf der Nase. Augenscheinlich beabsichtigte er auszugehen. Deshalb hielt er auch wieder den Regenschirm in der Hand, der ihm während des Schlafs entfallen war. So stand er oben an der Treppe, im Begriff, fortzugehen.

Wo wollte er nur hin? In welcher Absicht und weshalb so früh?

Folgendes Selbstgespräch wird seine Absichten klar machen.

»Es muss noch heute sein, ja, ich muss zusehen, sie zu verheiraten, und zwar noch bevor die Neuigkeiten kommen können. Die Nachricht von dem Tod des Custos möchte alle meine Pläne zerstören. Wer kann wissen, was der junge Mann tun wird, wenn er nur einen Wink von seinem großen Glück hat? Und Judith ist auch noch gar nicht ganz seiner gewiss! Sie hat letzte Nacht so etwas gesagt. Ja, es muss noch heute sein. Wenn ich zum Pfarrer dieser Gemeinde gehe, ist dies von keinem Nutzen. Er ist ein Freund des Custos und möchte etwas einzuwenden haben. Das hilft daher nichts, nein! Ich muss zu dem anderen gehen, der ist arm und wird schon erkennen, was Geld ist! Auch ist sein Segen gerade so rechtskräftig, als ob ihn der Bischof von Jamaika selbst gesprochen hätte. Der wird’s tun, und wenn er nicht will, dann weiß ich noch einen anderen, der will – für Geld natürlich, für Geld, natürlich, ja, alles für Geld!«

Nach diesem Selbstgespräch war er schon im Begriff, den einen Fuß auf die obere Treppenstufe zu setzen, um hinabzusteigen, als ihm plötzlich ein besonderer Gedanke einzufallen schien, denn er drehte sich auf einmal um, wandte sich von der Treppe ab und glitt mit leisen Schritten zu dem Teil der Veranda, wo sich die Hängematte befand.

»Der junge Herr schläft wohl noch! Herr! Ja, wahrhaftig! Nun ist er das oder wird es sein, wenn er wieder zu Bett gehen wird. Nun, wenn er noch schläft, darf ich ihn nicht stören. Reicher Herren Schlaf darf nicht unterbrochen werden. Ach!«

Dieser letzte Aufruf entschlüpfte seinen Lippen, als er dicht bei der Hängematte angekommen war.

»Sie ist leer. Schon früh aufgestanden! In seiner Kammer vermutlich!«

Hiermit ging Jessuron die Veranda entlang, bis er das Zimmer seines Buchführers erreicht hatte, wo er stehen blieb und in dasselbe hineinsah, da die Tür halb geöffnet war. So konnte er fast das ganze Zimmer übersehen. Es war niemand zu entdecken.

»Herr Vaughan! Sind Sie da?« Diese Frage wurde eigentlich nur gestellt, um seine eigene Wahrnehmung noch zu bestätigen, denn er sah bereits ganz wohl, dass niemand im Zimmer war.

»Wo sind Sie denn, Herr Herbert?«, fuhr er in anderer Weise fort, bog zugleich seinen Kopf in das Zimmer hinein und sah sich um. »Bei meiner Seele! Es ist leer wie die Hängematte. Der muss schon ausgegangen sein. Ja, gewiss! Sein Hut ist nicht hier, sein Mantel ist nicht hier, und seine Flinte sehe ich auch nicht. Wie ist er an mir vorüber gegangen, ohne dass ich ihn gehört habe! Ich schlafe ja so leise, dass ich eine Katze höre! Ist er überhaupt die Treppe hinuntergegangen? Bei meiner Seele, nein! Da ist eine Spur, als ob jemand über das Geländer in den Garten hinuntergesprungen wäre. Wahrhaftig, es ist seine Spur! Die hat nur er machen können! Was zum Teufel hat der junge Mann diesen Morgen vor? Ich will hoffen, nichts Schlimmes liegt zugrunde!«

Als er den jungen Engländer in seiner Hängematte als auch in seinem Zimmer vermisste, machte dies indes dem Koppelhalter anfänglich gar keine besondere Sorge. Sein Schützling war ohne Zweifel ausgegangen, um bei der frischen Morgenluft ein wenig im Wald umherzuschweifen und hatte deshalb seine Flinte mitgenommen, um einen ihm etwa begegnenden Vogel schießen zu können. Das hatte er schon oftmals getan, wenn auch nicht zu so ganz früher Stunde. Diese allein war aber kein Grund, um seinem Gönner besonders aufzufallen, und ebenso wenig sein Sprung über das Geländer der Veranda. Wie leicht mochte der Engländer den Hausbesitzer in seinem Lehnstuhl nahe an der Treppe schlafend gesehen haben, hatte ihn nicht stören wollen und deshalb vorgezogen, in anderer Weise fortzugehen. Hierin lag tatsächlich nichts so sehr Auffallendes oder gar Besorgnis Erregendes.

Auch hätte dies ihn keineswegs beunruhigt, wären nicht bald nachher noch verschiedene andere Umstände zu seiner Kenntnis gekommen, die seinen Verdacht erregen mussten, dass irgendetwas doch wohl nicht so ganz in Ordnung sei.

Der erste Umstand dieser Art war, dass Herbert seine Flinte mitgenommen, aber seinen Schrotbeutel und seine Pulverflasche zurückgelassen hatte. Wenn der junge Mann in der Absicht ausgegangen war, etwas Wild zu schießen, so war es doch sonderbar, dass er die Schießbedürfnisse zurückgelassen hatte. Aber vielleicht hatte er irgendein Stück Wild nahe am Haus gesehen, war begierig aufs Schießen gewesen, und war nun im Vertrauen auf die beiden Schüsse in seinen Läufen in größter Hast hinweg geeilt. In diesem Fall konnte er nicht so sehr entfernt sein und musste in kurzer Zeit zurückkehren. Allein eine ganze Stunde war bald verstrichen und dennoch war kein Buchhalter zu hören oder zu sehen, wie wohl Boten ausgesandt waren, um ihn aufzusuchen, die ihn aber eine Viertelmeile um den Hof herum nicht aufgefunden hatten.

Nun begann Jessuron, dessen früher Besuch bei dem Prediger infolge dieser Begebenheit aufgeschoben worden war, die Sache etwas ernsthafter zu nehmen.

»Es wäre doch sonderbar«, sagte er zu seiner Tochter, die nun ebenfalls aufgestanden war, aber sich keineswegs in rosiger Laune zu befinden schien. »Es wäre doch sonderbar, wenn er auf längere Zeit ausgehen sollt, ohne ein Wort davon zu uns zu sagen?«

Judith antwortete nicht, obwohl ihr Stillschweigen einen gewissen Verdruss nicht zu verbergen vermochte. Hatte sie vielleicht noch mehr Gründe als der Rabbi zu der Annahme, dass nicht alles vollkommen in Ordnung sei?

Sicher war irgendetwas Unangenehmes, mindestens ein Missverständnis am vorhergehenden Tag zwischen ihr und Herbert vorgefallen. Ihre Reden hatten so etwas auch bereits angedeutet, aber noch deutlicher verkündete dieses ihr ganzes Betragen während der Nacht, wie jetzt am Morgen eine gewisse Traurigkeit zugleich mit einem nur mühsam unterdrückten Unwillen.

Deshalb trug es auch nicht zur Vermehrung gleichmütigen Frohsinns bei, als das Hausmädchen, das die Hängematte, worin Herbert schlief, losknüpfte und anzeigte, dass sie darin zwei Gegenstände fand, die man schwerlich an solch einem Platz vermuten durfte, nämlich eine Kokosnuss und eine Tabakpfeife.

Noch dazu konnte die Pfeife nicht einmal Herbert Vaughan gehört haben, denn er rauchte nie aus einer Pfeife, und die Kokosnuss war augenscheinlich von dem nahestehenden Baum gepflückt worden. Der Stamm des Baumes zeigte Schrammen, als wenn jemand ihn erklettert hätte, und oben konnte man die frische Spur sehen, wo die Kokosnuss am Stängel abgepflückt war. Was hatte Herbert nur oben auf dem Palmbaum getan und was damit beabsichtigt, Kokosnüsse in sein Bett zu werfen?

Seine unverantwortliche Abwesenheit wurde durch diese sonderbaren Umstände unbestritten noch viel rätselhafter. Einer der Viehhirten, die ausgesandt gewesen waren, um ihn zu suchen, kehrte jetzt zurück und kündigte eine neue Tatsache von noch größerer Bedeutsamkeit an. Auf dem sumpfigen, weichen Boden außerhalb der Gartenmauer hatte der Hirte die Fußspur des Buchhalters entdeckt, der zu den Bergen gegangen war, und ganz nahe dabei auf demselben Fußsteig die Fußspur noch eines anderen Mannes, der hier sogar zweimal gegangen sein musste, hingehend und zurückkehrend. Der Viehhirte, obwohl von schwarzer Farbe, war ein geübter Pfadsucher und seine Aussage deshalb vollkommen glaubwürdig.

Auch glaubte man ihr unbedingt, obwohl sie auf Jessuron wie auf Judith einen höchst unangenehmen und peinlichen Eindruck machte, umso peinlicher, als Stunde auf Stunde verstrich und der Buchhalter nicht zurückkehrte.

Der Vater rauchte und ärgerte sich, ja er schimpfte und fluchte. Der junge Engländer war sein Schuldner, nicht nur für reichlich gespendete Gastfreundschaft, sondern auch für vorgeschossenes Geld. Würde er nun nicht geradezu undankbar sein? Ein Wortbrüchiger und ein Veruntreuer fremden Geldes?

Ach, diese kleine Geldverpflichtung hatte wenig mit dem Ärger Jessurons zu tun, und noch viel weniger mit allen den heftigen, aufwallenden Empfindungen, die wie die tobenden Wogen des stürmischen Meers jetzt die erregte Brust seiner schönen Tochter durchbrausten, und die sich bei der geringsten Veranlassung zu blinder, rücksichtsloser Wut umwandelten.

 

***

 

Der blaue Fritz kehrte zurück. Er hatte seinen Auftrag in geschickter Weise ausgeführt. Der Custos hatte eine Reise unternommen und sie gerade bei Tagesanbruch angetreten.

»Gut!«, sagte Jessuron. »Aber wo ist sein Neffe?«

Der blaue Fritz hatte Cynthia auch gesehen und ihr das zugeflüstert, was der Aufseher ihm gesagt hatte. Sie wollte ins Glückliche Tal kommen, sobald sie nur einen Vorwand für ihre Abwesenheit von Willkommenberg finden könne.

»Gut«, antwortete der Koppelhalter, »aber wo ist der junge Herr Vaughan? Wo hat er sich hinbegeben?«

»Ja, wo nur hin?«, fragte Judith für sich, als die Mittagssonne düstere Wolken auf ihrer ausdrucksvollen Stirn beschien.