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Detektiv Schaper – Das graue Gespenst – 11. Kapitel

Detektiv-SchaperM. v. Neuhof
Detektiv Schaper
Zweiter Teil
Das graue Gespenst
11. Kapitel
Nie geahnte Überraschungen

Erst nachmittags gegen vier Uhr verließ der Detektiv das Kirchdorf und schlug den Weg nach Zergewo ein. Dieser führte zum Teil durch einen dichten Wald. Hier suchte er sich ein verstecktes Plätzchen und nahm dort mit seinem äußeren Menschen eine gründliche Umwandlung vor. Der eine Anzug, ebenso die Pelerine des Mantels wanderten eng zusammengerollt in die Handtasche. Den schwarzen Filzhut behielt er auf. Das war eine zu alltägliche Kopfbedeckung, um ihn verraten zu können. Die goldene Brille wurde gegen einen Nickelkneifer ausgetauscht, ebenso die graue Perücke und der Bart gegen solchen von blonder Farbe.

Der, der nun hinter den Büschen hervortrat und seinen Weg nach Zergewo fortsetzte, hatte mit dem alten Herrn vom Abend vorher nicht die geringste Ähnlichkeit mehr. Mithin war es ausgeschlossen, dass die Bewohner der Mönchsabtei selbst nur durch ein Spiel des Zufalls davon erfuhren, dass der Detektiv schon einen ganzen Tag in der Umgegend von Gauben geweilt hatte, ehe er sich bei ihnen vorstellte.

Als abends kurz nach acht Uhr der Berliner Personenzug in Zergewo einlief, stand Schaper auf dem Bahnsteig, gemütlich eine Zigarre rauchend. Aus einem Abteil dritter Klasse stiegen jetzt zwei Herren aus, die sich erst suchend umschauten, dann vor dem blonden Fremden mit dem Nickelkneifer stehen blieben und anscheinend etwas fragten.

Niemand bemerkte, dass Schaper einem der Leute einen Zettel zusteckte und leise dazu sagte: »Hier, Ihre Verhaltungsmaßregeln.«

Laut aber fügte er hinzu: »Ja, gewiss, einen Wagen können Sie hier leicht bekommen. Der Gastwirt Schubert besitzt einen Einspänner, der bringt Sie in zwei Stunden an Ihr Ziel.«

Gleich darauf kletterte Schaper in ein Abteil zweiter Klasse und machte es sich in einer Ecke bequem.

Die Fahrt bis Gauben dauerte nur eine knappe halbe Stunde. Auf dem dortigen Bahnhof verließ der Detektiv den Zug und begab sich auf einem kleinen Umweg zu der Mönchsabtei, nachdem er einen Arbeiter, dem er auf der Chaussee begegnete, in genauer Durchführung seiner Rolle als mit den örtlichen Verhältnissen Unbekannter nach dem einsamen Gehöft gefragt hatte.

Bei völliger Dunkelheit kam er vor dem Torweg an. Schon von Weitem hatte er den Lichtschein einer Laterne bemerkt, der sich vor der Eingangspforte der Gartenmauer auf und ab bewegte. Jetzt sah er sich einem Mann gegenüber, der ihm zunächst in das Gesicht leuchtete und dann mürrisch sagte: »Herr Schaper?«

»Ja, der bin ich.«

»Bitte, folgen Sie mir.« Der Diener – nur er konnte es sein, der den Detektiv erwartet hatte – ging mit der Laterne voraus, nachdem er den Torweg wieder sorgfältig verschlossen hatte.

Im Haus angekommen, geleitete er den Gast in ein Zimmer des Erdgeschosses, in dem eine Lampe auf dem Tisch brannte und ein frisch bezogenes Bett neben anderen bescheidenen Möbeln stand.

Schaper stellte seine Reisetasche beiseite, entledigte sich seines Mantels und wandte sich dann an Hartung, der abwartend an der Tür stehen geblieben war.

»Kann ich Ihren Herrn sprechen?«, fragte er, dem Mann vertraulich zunickend.

»Herr Müller liegt zu Bett«, erwiderte der Diener kurz. »Trotzdem möchte er Sie sehen. Ich werde vorausgehen.«

Sie schritten dann den Korridor entlang an ein paar Türen vorbei. An der Letzten des mit Steinfliesen belegten Ganges klopfte Hartung und öffnete auf ein leises Herein.

»Bitte, Herr Schaper.«

Dieser trat ein. In dem eisernen Feldbett richtete sich eine Gestalt mit zur Hälfte verbundenem Gesicht auf und streckte zur Begrüßung eine knochige Hand entgegen.

»Es freut mich, dass Sie gekommen sind«, krächzte der Privatgelehrte mit heiserer Stimme. »Bitte setzen Sie sich zu mir«, bat der Patient darauf. »Und entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie in dieser Weise empfange.«

»Tut mir leid, Herr Müller, dass es Ihnen so schlecht geht«, meinte Schaper, indem er Platz nahm.

Der Kranke, der sich inzwischen wieder in die Kissen zurückgelehnt hatte, nickte matt.

»An alledem ist nur das graue Gespenst schuld«, sagte er ärgerlich.

»Hat sich dieser Geist denn in letzter Zeit wieder einmal gezeigt?«, fragte der Detektiv ganz harmlos.

»Häufiger wie früher sogar. Gestern Abend erst«, krächzte der Privatgelehrte.

»Haben Sie ihn gesehen oder Ihr Diener?«, meinte Schaper gleichgültig.

»Ich? Ich konnte mich gestern nicht rühren, so plagte mich die Gicht. Nein, Hartung hatte das zweifelhafte Vergnügen.«

»Um welche Zeit lässt sich denn das famose Gespenst am häufigsten blicken?«, fragte der Detektiv.

»Zumeist so zwischen zehn und zwölf Uhr. Falls Sie schon heute Nacht aufpassen wollen, würde ich Ihnen raten, sich kurz vor zehn in den Garten zu begeben.«

»Gewiss! Am liebsten schaute ich mir die sogenannte Prior-Kapelle etwas näher an.«

Müller glättete nervös die Falten der Decke. »Davon würde ich abraten, Herr Schaper«, sagte er unruhig. »Wenn das Wesen, das hier als Gespenst auftritt, wirklich aus Fleisch und Blut besteht, so wird es sich vielleicht dadurch, dass Sie vorher das Terrain besichtigen, abschrecken lassen und nicht zum Vorschein kommen.«

Der Detektiv wusste nur zu gut, weshalb er von der Kapelle ferngehalten werden sollte. Er hatte diesen Wunsch einer Inaugenscheinnahme der Örtlichkeit ja auch nur zum Schein geäußert.

»Hm, Ihre Bedenken muss ich anerkennen«, sagte er jetzt. »Lassen wir es also.«

Müller nickte befriedigt.

Schaper erhob sich. Doch Müller hielt ihn noch zurück.

»Einen Augenblick. Ich habe noch eine Bitte. In welcher Weise Sie gegen das graue Gespenst vorgehen, falls es sich heute zeigen sollte, ist mir gleichgültig. Nur bitte keine Gewalttat, die mir als dem Mieter dieses Grund und Bodens und als Ihrem Auftraggeber Unannehmlichkeiten bringen könnte. Am besten, Sie beschränken sich heute darauf, die Erscheinung zu beobachten, lassen sie ruhig in der Kapelle verschwinden und folgen ihr schnell. Wir erfahren so wohl am sichersten, wo der Geist eigentlich bleibt.«

Schaper kostete es jetzt wirklich Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Kein Zweifel mehr. Ihm galten die Vorbereitungen, die die drei Männer in der Nacht vorher getroffen hatten, ihm allein. Das ging klar aus dieser heuchlerischen Bitte dieses angeblichen Privatgelehrten hervor. Er sollte in die Kapelle gelockt werden, und dann – dann …

Den Detektiv überrieselte es eiskalt. Wirklich eine gütige Vorsehung hatte ihm den Gedanken eingegeben, heimlich zunächst einmal die Mönchsabtei und ihre Bewohner zu beobachten.

Seine Stimme klang gleichmütig wie zuvor, als er nun erwiderte.

»Dieselbe Absicht habe auch ich gehabt, Herr Müller. Von Gewaltanwendung, die strafrechtliche Folgen nach sich ziehen könnte, kann natürlich keine Rede sein.«

»Denn also viel Glück zur Gespensterjagd, Herr Schaper – recht viel Glück!«

Schaper war mit dem Diener in den Garten gegangen, wo er neben demselben auf einer Bank verharrte. Jetzt, bei ruhigem Nachdenken, wurde ihm das Schurkische der Handlungsweise erst recht klar. Die ganze Situation spitzte sich zu einem Racheakt auf seine Person zu, das wurde ihm immer klarer.

Eine Bewegung Hartungs riss Fritz Schaper aus seinem Brüten auf.

Er blickte empor. Vor ihnen lag der mit gelbem Kies bestreute Weg, der zu der Tür der Prior-Kapelle führte. Mildes Mondlicht überstrahlte die Umgebung, schuf geheimnisvolle Schatten und reichte doch hin, um die Gestalt genau zu erkennen, die jetzt langsam, feierlich aus dem Dunkel der Lebensbaumallee hervor.

Graue, schleierartige Gewänder, die noch ein Stück hinterher schleppten, umhüllten die Erscheinung, die in gemessenem Schritt an dem Versteck der beiden vorüberkam.

Hartung spielte jetzt den vor Angst und Schrecken völlig Fassungslosen.

Inzwischen war das graue Gespenst bis dicht vor der Kapellentür gelangt.

Da litt es Fritz Schaper nicht länger auf seinem Platz. Er riss die Taschenlaterne hervor und sprang auf. Der Geist drehte sich in der Tür der Kapelle um, hob warnend die Hand und war verschwunden. Keine fünf Schritt hinter ihm raste der Detektiv in das kleine Gotteshaus.

Schaper sprang eben die drei Stufen zu der Tür empor. Das Licht der elektrischen Laterne fiel in den unwirtlichen Raum hinein, traf auf die fliehende Gestalt.

Da – plötzlich – der Graue stolperte, schlug lang mit dumpfem Krach zu Boden. Irgendein Brett des zertrümmerten Fußbodens hatte ihn zu Fall gebracht. Regungslos lag er im Eingang zur Sakristei.

Schon stand der Detektiv neben ihm.

Das Gespenst war mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen, war bewusstlos. Blut rann über sein Gesicht, das die kleine Lampe so grell beschien. Ein Fremder, ohne Zweifel. Den Mann hatte Schaper noch nie gesehen.

Mit einem Mal richtete sich der Detektiv blitzschnell auf. Über ihm knisterte und krachte es warnend in dem Gebälk des Daches. Ein Blick nach oben. Die schweren Balken schienen sich zu bewegen.

Da erst wurde er sich der furchtbaren Gefahr bewusst.

Der dicke Strick an der Rückwand der Sakristei, der Diener der draußen geblieben war! Daran dachte Fritz Schaper. Und mit zwei Sätzen stand er in dem mächtigen Eichenschrank, während hinter ihm schon der ganze Dachstuhl zusammenkrachte.

Die geheime Tür schloss sich hinter dem Detektiv, der hastig durch den unterirdischen Gang eilte und dann vor der von ihm nur einen Fingerbreit geöffneten zweiten Tür lauschend stehen blieb. Jetzt tappten eilende Schritte den nur mäßig erhellten Korridor entlang. Ein Schatten huschte vorbei und verschwand in dem Zimmer, wo der angebliche Kranke lag.

Schaper, die Schusswaffe in der Hand, glitt aus seinem Versteck hervor und schlich sich näher. So hörte er jedes Wort, das die beiden da drinnen wechselten. Er lauschte und stutzte sofort. Müller und der Diener sprachen englisch.

Jetzt vernahm er eine erstaunte Stimme, die des Privatgelehrten.

»Wie meinst du das, Tom? Inwiefern mehr Glück, als wir voraussehen konnten?«

»Weil wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe gefangen haben. Also der Deprouval spielte das Gespenst vorzüglich. Als er in der Kapellentür steht, rennt der verd… Detektiv hinterher. Ich schaue mir die Geschichte von außen an, weil ich merkte, dass da irgendwas nicht ganz programmmäßig verlaufen war. Der Schaper stand nämlich, als ich unseren schönen Glockenzug in Bewegung setzen wollte und dabei an der Tür vorbeihuschte, über eine am Boden liegende Gestalt gebeugt. Begreifst du, Harry? Unser langer Freund war gestrauchelt und muss irgendwo hart aufgeschlagen sein, noch bevor er den rettenden Schrank erreicht hatte, durch den er spurlos verschwinden sollte. Ich nun schleunigst um die Kapelle herum und das Tau genommen und – ein starker Ruck, da krachte die Falle auch schon zusammen.«

Der andere stieß sein scheußliches, so höllisch triumphierendes Kichern aus.

»Großartig, Tom, großartig! Jetzt steht die ganze Bude fraglos schon in Flammen. Meine drei chemischen Feueranzünder wirken sicher, unbedingt sicher. Da können die Herren von der superschlauen deutschen Polizei dann versuchen, aus den Brandtrümmern und den verkohlten Leichen sich ein Bild der Vorfälle zusammenzureimen. Wird ihnen schwerfallen, fürchte ich!«

Wieder lachte er sein höhnisches, widerliches Lachen.

»Doch, Tom, nun zurück in den Garten. Wenn sie in Gauben den Feuerschein sehen, sind sie mit der Spritze bald hier. Ich bleibe im Bett. Was du zu sagen hast, weißt du ja.«

Der Detektiv huschte schleunigst davon. Die Haustür war nur angelehnt. Eilig lief er auf die Lebensbaumallee zu, wo er einen leisen, eigentümlichen Pfiff ausstieß. Sofort gesellten sich zwei Männer zu ihm, die bisher hier auf der Lauer gelegen hatten.

Der rötliche Feuerschein der brennenden Kapelle erhellte jetzt die Umgegend weithin, sodass Schaper und seine Leute sich vorsichtig im Schatten hielten. Mit wenigen Worten hatte er ihnen die nötigen Mitteilungen gemacht.

»Die Schurken sollen schon in Eisen liegen, bevor noch die Feuerwehr hier ist«, flüsterte er, und dann schlichen sie davon.

 

Tom stand in der Haustür. Plötzlich fuhr er herum. Er hatte hinter sich ein Geräusch wie von leisen Schritten gehört. Zu spät. Kein Schrei drang mehr aus seiner Kehle. Ein Mann hatte ihm blitzschnell die Hand fest auf den Mund gedrückt, ein Zweiter riss ihn nieder.

Dann lag er, gebunden und mit einem Knebel zwischen den Zähnen, hinten an der Gartenmauer. In seiner Nähe schritt langsam ein Wächter auf und ab.

Der Privatgelehrte oben in seinem Bett lauschte. Kein Zweifel. Die Feuerwehr kam. Er hörte schon das Rasseln der Räder, den Klang einer schrillen Glocke, deren Klöppel hin und wieder bewegt wurde.

Da – was war das? – Die Tür öffnete sich. Zwei Gestalten stürzten auf sein Bett zu. Er vermochte sich nicht zu rühren. Fesseln legten sich um seine Hände.

»Hiller, reißen Sie dem Mann die Bandagen vom Gesicht«, befahl Schaper jetzt.

Der Gefangene leistete keinen Widerstand.

»Leuchten Sie!«

Hiller nahm die Lampe zur Hand und hielt sie so, dass der Lichtschein voll das bartlose Gesicht des Gefesselten traf.

Fritz Schaper beugte sich vor. Diese schmalen Lippen, dieses energische Kinn und die halb zugekniffenen Augen kannte er. Aber – wer war der Mann, wer? Dann – er prallte förmlich zurück.

»Die Toten stehen auf!«, rief er fassungslos. »Hiller«, wandte er sich an seinen Untergebenen, »wahrhaftig, wenn ich nicht wüsste, dass jener Amerikaner, jener Doktor Timpsear, in Berlin begraben liegt, ich würde darauf wetten, dass ich hier denselben Schurken vor mir habe. Mann«, schrie er den Gefangenen an, »antworten Sie nur! Wer sind Sie, wer in aller Welt?«

Doch der angebliche Privatgelehrte stierte nur immer geradeaus zu der Zimmerdecke empor. Keine Miene verzog er, kein Wort kam über seine Lippen.