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Aëlita – Teil 10

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Das verlassene Haus

Vom Ufer des Kanals bis zu der nächstgelegenen Baumgruppe schritten Losj und Gussew über verbrannten, braunen Staubboden, sie übersprangen schmale, abbröckelnde Kanäle und umgingen ausgetrocknete kleine Teiche. Hier und da ragten aus den eingefallenen Kanalbetten die verrosteten Gerippe von Barken hoch. Da und dort leuchteten auf der traurigen, toten Ebene erhabene Metallscheiben auf, die einen Durchmesser von etwa einem Meter hatten. Die reflektierenden Flecke dieser Scheiben zogen sich von den spitzen Graten der Berge über die Hügel bis zu dem Gehölz und den Ruinen hin.

Zwischen zwei Hügeln befand sich ein Wäldchen niedrig wachsender brauner Bäume mit weit ausladenden flachen Wipfeln. Ihre Zweige waren stark und knotig, die Stämme zäh und knorrig, die Blätter erinnerten an feines Moos. Am Waldsaum hingen zwischen den Bäumen Reste von Stacheldraht.

Sie traten in das Wäldchen. Gussew bückte sich und stieß etwas mit dem Fuß fort. Durch den Staub rollte ein eingeschlagener Menschenschädel, an seinen Zähnen glänzte Metall. Hier war es stickig. Die moosigen Zweige gaben in der windstillen Hitze nur einen kärglichen Schatten. Nach einigen Schritten stießen sie wiederum auf eine erhabene Scheibe. Sie war an dem Rand eines metallischen runden Schachtes festgeschraubt. Am anderen Ende des Wäldchens erblickten sie Ruinen, dicke Ziegelmauern, wie durch eine Sprengung aufgerissen, Berge von Schutt, hochragende Enden von verbogenen Metallträgern.

»Die Häuser sind gesprengt worden, Mstislaw Sergejewitsch«, sagte Gussew. »Die haben hier offenbar einen schönen Tanz gehabt. Diese Sachen kennen wir.«

Auf einem Schutthaufen erschien eine große Spinne und lief abwärts auf dem Rand einer geborstenen Mauer. Gussew schoss. Die Spinne sprang hoch in die Luft und fiel dann nieder, sie blieb liegen, die Beine in die Luft gestreckt. Gleich darauf rannte, den braunen Staub aufwirbelnd, eine zweite Spinne hinter dem Haus hervor und auf die Bäume zu. Sie stieß auf das Stacheldrahtnetz, blieb darin hängen und zappelte verzweifelt mit ausgestreckten Beinen.

Aus dem Wäldchen gelangten Losj und Gussew auf den Hügel, den sie hinunterstiegen, und dann zu einem zweiten Wäldchen. Sie richteten ihre Schritte dorthin, wo von Weitem Ziegelbauten zu sehen waren, darunter ein Gebäude, höher als die anderen, aus Stein, mit flachen Dächern. Zwischen dem Hügel und der Siedlung lagen mehrere Scheiben.

Losj wies darauf hin und sagte: »Aller Wahrscheinlichkeit nach sind darunter die Schächte der Wasserleitungen, der Kanalisation und der elektrischen Leitungen. Das alles ist offenbar verlassen.«

Sie kletterten über ein Stacheldrahtnetz, durchquerten das Wäldchen und näherten sich einem weiten, mit Steinplatten gepflasterten Hof. Im Hintergrund des Hofes stand ein Haus von ungewöhnlicher und düsterer Bauart. Seine glatten Mauern verjüngten sich nach oben zu und schlossen mit einem massiven Gesims aus tiefdunklen blutroten Steinen ab. In den Mauern befanden sich – wie Spalten – schmale und lange tiefe Fensteröffnungen. Zwei geschuppte, sich ebenfalls nach oben zu verjüngende Säulen stützten ein bronzenes Basrelief über dem Eingang. Es stellte eine ruhende Gestalt mit geschlossenen Augen dar. Flache, über die ganze Breite des Gebäudes gehende Stufen führten zu einer niedrigen massiven Tür. Zwischen den dunklen Quadern der Mauern hingen die vertrockneten Fasern von Kletterpflanzen herab. Das Haus erinnerte an ein riesiges Grabmal.

Gussew versuchte mit der Schulter die metallene Tür aufzustoßen. Er drückte mit aller Macht dagegen, und sie gab knirschend nach. Sie durchschritten das dunkle Vestibül und betraten einen hohen Saal. Er erhielt sein Licht durch eine Kuppel aus Glas. Der Saal war fast leer. Einige umgeworfene Schemel, ein niedriger Tisch mit einer verstaubten schwarzen Decke darauf, auf dem steinernen Fußboden zerbrochene Gefäße, eine Maschine von merkwürdiger Form, die in der Nähe der Tür stand. Es konnte ein Geschütz sein, bestehend aus Scheiben, Kugeln und einem metallischen Netz. Alles war von einer Staubschicht bedeckt.

Staubiges Licht fiel auf die gelblichen, in goldenen Funken glitzernden Wände. Rings um die Wände lief oben ein breiter Mosaikstreifen. Offenbar stellte er geschichtliche Ereignisse dar: den Kampf gelbhäutiger Wesen mit rothäutigen, eine bis an den Gürtel im wogenden Meer stehende menschliche Figur, dieselbe Figur, zwischen Sternen fliegend; Bilder von Schlachten, Überfälle wilder Bestien, von Hirten getriebene Herden merkwürdiger Tiere; Szenen aus dem Alltagsleben, von Jagden, Tänzen, Geburt und Bestattung. Der düstere Gürtel dieses Mosaikstreifens schloss sich über der Tür mit der Abbildung vom Bau eines gigantischen Zirkus.

»Merkwürdig, merkwürdig«, wiederholte Losj immer wieder, wenn er auf die an den Wänden stehenden Ruhebetten stieg, um die Mosaikbilder besser zu sehen. »Überall wiederholt sich die eigenartige Zeichnung eines Menschenkopfes. Verstehen Sie, das ist sehr merkwürdig …«

Gussew entdeckte unterdessen eine in der Wand kaum erkennbare Tür. Dahinter befand sich eine Innentreppe, die zu einem breiten, gewölbten, von staubigem Licht durchfluteten Gang führte.

An den Wänden und in den Nischen des Ganges standen Statuen aus Stein und Bronze, Torsos, Köpfe, Masken, Scherben von Vasen. Mit Bronze und Marmor verzierte Türen führten von hier aus in die inneren Gemächer.

Gussew begann nun, in die niedrigen, modrigen und nur schwach erleuchteten Nebenräume hineinzuschauen. In dem einen Zimmer erblickte er ein ausgetrocknetes Bassin, darin lag eine tote Spinne. In einem anderen war ein über die ganze Wand gehender, völlig zerschlagener Spiegel, auf dem Boden lag ein Haufen Lumpen, umgeworfene Möbel, in den Schränken hingen vermoderte Kleidungsstücke.
Im dritten Zimmer stand auf einer Erhöhung unter einem hohen Schacht, durch den das Licht einfiel, ein breites Bett. Darauf lag, zur Hälfte über den Rand hängend, das Skelett eines Marsianers. Überall waren die Spuren eines grimmigen Kampfes zu sehen. Mit dem Kopf in eine Ecke gepresst lag ein zweites Skelett.

Hier fand Gussew im Kehricht einige kleine Gegenstände aus einem schweren geschmiedeten Metall, offenbar Schmuckstücke und Dinge des alltäglichen Gebrauchs einer Frau: kleine Gefäße aus farbigen Steinen. Er nahm von der zerfallenden Kleidung des Skeletts zwei durch ein Kettchen verbundene große, dunkle, golden schimmernde Steine an sich, die von innen zu leuchten schienen.

»Das kann man brauchen«, sagte Gussew, »ich schenke es der Maschka.«

Losj betrachtete die Skulpturen im Gang. Neben den spitznasigen Köpfen der Marsbewohner, den Darstellungen von Meerungeheuern, bemalten Masken, gekitteten Vasen, die in Form und Zeichnung merkwürdig an etruskische Amphoren erinnerten, erregte seine Aufmerksamkeit eine große Büste. Sie stellte eine nackte Frau mit zerzaustem Haar und grimmigem asymmetrischem Gesicht dar. Ihre spitzen Brüste standen nach beiden Seiten ab. Den Kopf umrahmte ein goldener Reif aus Sternen, der über der Stirn parabolisch anstieg. In dem schmalen Bogen befanden sich zwei Kugeln: eine rubinrote und eine rötlich-ziegelfarbene. Die Züge des sinnlichen und gebieterischen Gesichts hatten etwas aufregend Bekanntes, etwas, was aus der unergründlichen Tiefe des Gedächtnisses aufstieg.

Neben der Büste war in der Wand eine kleine dunkle, von einem Gitter überdeckte Nische. Losj fasste mit den Fingern in die Stäbe des Gitters, aber es gab nicht nach. Da zündete er ein Streichholz an und erblickte auf einem vermoderten Kissen eine goldene Maske. Es war die Abbildung eines breitknochigen Menschenantlitzes mit ruhig geschlossenen Augen. Der halbmondförmige Mund lächelte. Die Nase hatte eine spitze Schnabelform. Auf der Stirn zwischen den Brauen befand sich eine kleine Schwellung in der Form eines vergrößerten Libellenauges. Das war derselbe Kopf, der auf dem Mosaikstreifen im ersten Saal abgebildet war.

Losj verbrannte die Hälfte des Inhalts seiner Streichholzschachtel, während er voll innerer Bewegung die wundersame Maske betrachtete. Nicht lange vor seinem Abflug von der Erde hatte er Fotografien ähnlicher Masken gesehen, die vor einiger Zeit in den Ruinen der gigantischen Städte an den Ufern des Niger entdeckt worden waren, in jenem Teil Afrikas, wo man die Spuren der Kultur einer untergegangenen geheimnisvollen Rasse vermutete.

Eine der Seitentüren im Gang stand offen. Losj betrat einen langen, sehr hohen Raum mit einer Empore und gitterartigen Balustrade. Sowohl unten als auch oben auf der Empore standen flache Schränke und lange Regale, auf denen in dichten Reihen kleine dicke Bücher aufgestellt waren. Ihre mit Golddruck verzierten gepressten Lederrücken zogen sich in einförmigen Streifen an der grauen Wand entlang. In den Schränken standen kleine Zylinder aus Metall, in einigen auch riesige, in Leder oder Holz gebundene Bücher. Von den Schränken, den Regalen – aus den dunklen Ecken der Bibliothek blickten mit steinernen Augen die verrunzelten kahlen Köpfe gelehrter Marsianer herab. In dem Raum befanden sich auch einige tiefe Sessel sowie ein paar Kästen auf dünnen Beinen mit an der Seite angebrachten runden Schirmchen.

Mit angehaltenem Atem betrachtete Losj diese den Hauch der Verwesung und des Moders ausströmende Schatzkammer, wo, eingeschlossen in Bücher, die Weisheit der Jahrtausende, die über den Mars hinweggegangen waren, schwieg. Behutsam trat er an eines der Regale und schlug ein Buch auf. Das Papier war grünlich, die Schrift geometrisch, von angenehmer brauner Farbe. Eines der Bücher, das Werkzeichnungen von Maschinen enthielt, steckte Losj in die Tasche, um es später in Muße durchzublättern. In den Metallzylindern waren kleine gelbliche Walzen, die beim Anklopfen mit dem Fingernagel einen Ton gaben, wie die Walzen eines Phonographen, nur war ihre Oberfläche glatt wie Glas. Eine solche Walze lag in einem der Kästen mit den Schirmchen, offenbar bereit, geladen zu werden. In dem Augenblick, als das Haus im Kampf genommen wurde, hatte man sie wohl liegen gelassen.

Alsdann öffnete Losj einen schwarzen Schrank, entnahm ihm aufs Geratewohl ein in Leder gebundenes, von Würmern zerfressenes, leichtes, aber dickes Buch und wischte behutsam den Staub davon ab. Seine gelblichen modrigen Blätter waren in unaufhörlichem Zickzack von oben nach unten gehend zu einem Streifen zusammengelegt. Diese ineinander übergehenden Seiten waren mit farbigen Dreiecken von der Größe eines Fingernagels bedeckt. Sie verliefen von links nach rechts und auch in umgekehrter Richtung in unregelmäßigen Linien, die bald abfielen, bald sich kreuzten. Sie veränderten sich in Farbe und Zeichnung. Nach dem Umblättern einiger Seiten tauchten farbige Kreise auf, die Form und Färbung änderten. Die Dreiecke begannen Figuren zu bilden. Die Übergänge und Verflechtungen von Farbe und Form dieser Dreiecke, die Kreise, Quadrate und komplizierten Figuren liefen von Seite zu Seite. Allmählich drangen Töne an Losjs Ohr, und er hörte eine kaum wahrnehmbare, feine, erstaunliche Musik.

Er schloss das Buch und stand lange, angelehnt an das Regal, erregt und betäubt von einem noch nie empfundenen Zauber: Das war ein singendes Buch.

»Mstislaw Sergejewitsch«, erscholl die hallende Stimme Gussews durch das ganze Haus. »Kommen Sie doch mal schnell hierher.«

Losj trat in den Gang hinaus.

An seinem anderen Ende stand Gussew in der Tür, erschrocken lächelnd. »Sehen Sie doch nur, was sich bei ihnen tut.«

Er führte Losj in ein schmales, halbdunkles Zimmer. An der hinteren Wand war ein großer, quadratischer matter Spiegel eingelassen, vor dem einige Schemel und Sessel standen.

»Sehen Sie, da hängt eine Kugel an der Schnur. Ich dachte, sie wäre aus Gold, und wollte sie abreißen – und nun sehen Sie, was dabei herausgekommen ist.«

Gussew fasste die Kugel und zog an der Schnur. Der Spiegel wurde hell und es erschienen darauf die gestuften Umrisse ungeheurer Häuser, Fenster, in denen die Abendröte sich glitzernd spiegelte, wehende lange Fahnen. Das dumpfe Gemurmel einer Volksmenge erfüllte das dunkle Zimmer. Über den Spiegel glitt von oben nach unten, die Stadt verdeckend, ein geflügelter Schatten. Plötzlich loderte es wie eine Flamme über den Spiegel, ein scharfes Geknatter ertönte unter dem Fußboden des Zimmers, und der Spiegel erlosch.

»Kurzschluss, die Leitungen sind durchgebrannt«, stellte Gussew fest. »Wir müssen gehen, Mstislaw Sergejewitsch, es ist bald Nacht.«