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Aëlita – Teil 9

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Der Mars

Als Losj und Gussew ihrem Weltraumschiff entstiegen, erblickten sie einen grenzenlosen und sie blendenden Himmel, tiefblau wie das Meer im Gewitter. Die flammende, zottige Sonne stand hoch über dem Mars. Die Ströme des kristallenen blauen Lichts waren kühl und durchsichtig – vom scharf sich abhebenden Strich des Horizonts bis zum Zenit.

»Eine fröhliche Sonne haben die«, sagte Gussew und nieste, so blendete ihn das Licht aus der tiefdunkelblauen Höhe. Es stach etwas in der Brust, das Blut klopfte in den Schläfen, aber es atmete sich leicht, die Luft war dünn und trocken.

Der Apparat lag auf einer – wie eine Apfelsine – orangefarbenen flachen Ebene. Der Horizont war so nahe, dass man mit der Hand danach greifen zu können glaubte. Der Boden hatte überall große Risse. Wohin man blickte, standen auf der Ebene hohe Kaktusgewächse, wie siebenarmige Leuchter. Sie warfen scharfe lila Schatten. Es wehte ein leichter trockener Wind.

Losj und Gussew blickten lange Zeit um sich, dann gingen sie über die Ebene. Es war ungewöhnlich leicht zu gehen, obwohl die Füße bis zum Knöchel in dem bröckeligen Boden versanken. Als Losj um einen dicken Kaktus herumging, streckte er die Hand nach ihm aus. Das Gewächs, kaum dass er es berührte, erbebte wie bei einem Luftzug, und seine braunen, fleischigen Schösslinge bogen sich der Hand entgegen. Gussew versetzte ihm mit dem Stiefel einen Stoß gegen die Wurzel – ach, dieses Mistzeug! –, und der Kaktus fiel nieder. Seine Stacheln bohrten sich in den Sand.

Sie gingen etwa eine halbe Stunde. Vor ihren Augen breitete sich noch immer die orangefarbene Ebene aus mit ihren Kaktusgewächsen, den lila Schatten und den Rissen im Boden. Sie wandten sich gen Süden und hatten jetzt die Sonne von der Seite. Losj begann nun genauer hinzuschauen, als überlegte er etwas. Plötzlich blieb er stehen, hockte nieder und schlug sich auf das Knie. »Alexej Iwanowitsch, der Boden ist ja gepflügt!«

»Nanu?« Tatsächlich, jetzt waren deutlich breite, halb zerbröckelte Ackerfurchen zu erkennen und regelmäßige Kaktusreihen. Einige Schritte weiter stolperte Gussew über eine Steinplatte, in die ein großer Ring aus Bronze eingelassen war, an dem Ring war das Ende eines Strickes befestigt. Losj kratzte sich das Kinn, seine Augen funkelten: »Alexej Iwanowitsch, begreifen Sie denn nichts?«

»Ich sehe nur, dass wir auf einem Feld stehen.«

»Und wozu ist der Ring da?«
»Der Teufel soll sich bei ihnen auskennen, wozu sie den Ring eingeschraubt haben.«
»Ja, dazu, um Bojen daran zu befestigen. Sehen Sie die Muscheln? Wir befinden uns auf dem Boden eines ausgetrockneten Kanals.«

Gussew sagte: »Ja, in der Tat … Mit dem Wasser ist es hier schlecht bestellt.«

Sie bogen nach Westen ab und überquerten jetzt die Furchen. In der Ferne erhob sich über dem Acker und flog, krampfhaft mit den Flügeln schlagend, ein großer Vogel mit einem wie bei einer Wespe hängenden Leib. Gussew blieb stehen, seine Hand lag auf dem Revolver. Doch der Vogel schwang sich in die Höhe, auffunkelnd in dem tiefen Blau, und verschwand hinter dem nahen Horizont.

Die Kaktusgewächse wurden höher, dichter und von besserer Beschaffenheit. Sie mussten sich sehr vorsichtig den Weg durch das lebende stachelige Dickicht bahnen. Vor ihren Füßen liefen vielfüßige, den Felseneidechsen ähnliche Tiere vorbei, grellorangefarben mit gezacktem Rückenkamm. Mehrmals glitten irgendwelche stachlige Knäuel durch das dichte Gestrüpp und sprangen zur Seite. Hier gingen sie mit großer Vorsicht weiter.

Die Kaktuspflanzungen endeten an einem kreideweißen, steil aufsteigenden Ufer. Es war mit offenbar uralten behauenen Platten ausgelegt. Aus den Rissen und Spalten des Mauerwerks hingen Fasern von vertrocknetem Moos heraus. In einer dieser Platten war – ebenso wie auf dem Feld – ein Ring eingelassen. Die gratigen Eidechsen schliefen friedlich in der heißen Sonne.

Losj und Gussew kletterten an der Böschung hoch. Von hier aus war eine hügelige Ebene zu sehen, ebenfalls orangefarben, nur etwas matter getönt. Hier und da standen Gruppen von niedrig wachsenden Bäumen, die Bergkiefern glichen. Vereinzelt erhoben sich weiße Steinhaufen, den Umrissen nach offenbar Ruinen. Im Nordwesten zog sich in der Ferne eine Bergkette hin mit scharfen, ungleich geformten Graten, die aussahen wie erstarrte Flammenzungen. Auf den Gipfeln der Berge glitzerte Schnee.

»Wir sollten zurückgehen, essen und ausruhen«, meinte Gussew, »wir kommen nur von Kräften, hier ist ja doch keine lebendige Seele zu finden.«

Sie blieben noch eine Weile stehen. Die Ebene war öde und traurig. Das Herz krampfte sich ihnen zusammen.
»Ja, wo sind wir hingeraten!«, sagte Gussew.

Sie stiegen die Böschung wieder hinunter und begaben sich zu dem Apparat. Sie irrten lange umher und suchten ihn im Kaktusdickicht.

Plötzlich rief Gussew im Flüsterton aus: »Da ist er!« Mit gewohnter Bewegung zog er den Revolver aus dem Futteral. »He!« schrie er, »wer ist dort am Apparat, der Teufel soll dich holen. Ich werde schießen!«
»Wen schreien Sie an?«
»Sehen Sie den Apparat aufleuchten?«
»Ja, jetzt sehe ich ihn.«
»Und dort, rechts davon sitzt er.«
Losj sah endlich, und stolpernd liefen sie zu dem Apparat. Das Wesen, das neben dem Luftschiff saß, entfernte sich zur Seite, hüpfte zwischen den Kaktusgewächsen umher, sprang hoch, breitete lange, mit Stoff bezogene Flügel aus und erhob sich unter Getöse in die Luft, wo es über den Menschen einen Halbkreis beschrieb und dann davonflog. Das war das, was sie vorhin für einen Vogel gehalten hatten. Gussew zielte mit dem Revolver, um das geflügelte Tier im Flug herunterzuholen.

Doch Losj schlug ihm die Waffe aus der Hand und schrie: »Bist du wahnsinnig? Das ist ein Marsianer!«
Den Kopf zurückgeworfen, mit offenem Mund, blickte Gussew dem wunderlichen Geschöpf nach, das seine Kreise am dunkelblauen Himmel beschrieb. Losj nahm sein Taschentuch heraus und begann dem sonderbaren Vogel zuzuwinken.
»Mstislaw Sergejewitsch, seien Sie vorsichtig, er könnte von dort irgendetwas auf uns herunterschmeißen.«
»Ich sage Ihnen, stecken Sie den Revolver weg.«
Der große Vogel flog jetzt tiefer. Deutlich war ein menschenähnliches Wesen zu erkennen, das im Sattel eines Flugapparates saß. Bis zum Gürtel hing der Körper des Sitzenden in der Luft. In der Höhe seiner Schultern bewegten sich zwei gebogene schwingende Flügel. Darunter, vorne, drehte sich eine Schattenscheibe, augenscheinlich eine Luftschraube. Hinter dem Sattel befand sich das Leitwerk mit seiner gabelförmig gespreizten Steuervorrichtung. Der ganze Apparat war beweglich und elastisch wie ein lebendes Wesen.
Da – jetzt ging er nieder und flog dicht über dem Acker, der eine Flügel war nach oben, der andere nach unten gerichtet. Nun zeigte sich auch der Kopf des Marsianers in einer eiförmigen Mütze mit einem langen Schirm. Über den Augen hatte er eine Brille. Das schmale Gesicht mit der spitzen Nase war verrunzelt und von ziegelroter Farbe. Er machte den großen Mund weit auf und piepste irgendetwas. Schneller und schneller schlug er mit den Flügeln, setzte dann auf und lief ein Stück über den Acker. Etwa dreißig Schritte von den Menschen entfernt sprang er aus dem Sattel.
Der Marsianer sah aus wie ein mittelgroßer Mensch. Er trug eine weite gelbe Jacke. Seine dürren Beine waren bis weit über die Knie fest gewickelt. Er zeigte zornig auf die umgeworfenen Kaktuspflanzen. Als aber Losj und Gussew auf ihn zukamen, sprang er flink in den Sattel, drohte von dort mit dem langen Finger und flog fast ohne Anlauf in die Höhe. Er kam jedoch gleich wieder herunter und fuhr fort, mit dünner, piepsender Stimme zu schreien und auf die gebrochenen Pflanzen zu zeigen.
»Wunderlicher Kauz! Er ist gekränkt«, sagte Gussew und schrie dem Marsianer zu: »Na, hör schon auf zu schreien, Sohn eines Katers. Roll her zu uns, wir tun dir nichts.«
»Alexej Iwanowitsch, hören Sie auf zu schimpfen, er versteht kein Russisch. Setzen Sie sich, sonst kommt er nicht näher zu uns heran.«
Losj und Gussew setzten sich auf den heißen Boden. Losj zeigte durch Gebärden, dass er essen und trinken möchte. Gussew steckte sich eine Zigarette an und spuckte aus. Der Marsianer blickte eine ganze Weile zu ihnen hin und hörte auf zu schreien, drohte ihnen aber noch immer mit dem bleistiftlangen Finger. Alsdann band er einen Sack vom Sattel ab, warf ihn den Menschen zu und stieg in Kreisen auf eine ziemliche Höhe. Dann flog er schnell nach Norden und verschwand.
In dem Sack befanden sich zwei Metallbüchsen und ein flaches Gefäß mit einer Flüssigkeit. Gussew öffnete die Büchsen. In der einen war ein stark duftendes Gelee, in der anderen lagen gallertartige Stückchen, ähnlich wie Rahat Lokum1. Gussew roch daran.
»Pfui Kuckuck, was die bloß essen!« Er holte das Körbchen mit dem Proviant aus dem Apparat, suchte trockene Kaktusstücke zusammen und zündete sie an. Ein leichter Rauch stieg auf, der Kaktus glimmte nur, gab aber viel Hitze. Sie wärmten eine Blechbüchse mit Pökelfleisch und legten die Essvorräte auf ein sauberes Tuch. Erst jetzt verspürten sie einen unerträglichen Hunger und aßen gierig.
Die Sonne stand über ihren Köpfen, der Wind hatte sich gelegt, es war heiß. Über die orangefarbenen Bodenhöcker kam ein achtfüßiges Tierchen zu ihnen herangekrochen. Gussew warf ihm ein Stückchen Zwieback zu. Es hob den dreieckigen gehörnten Kopf und schien zu Stein erstarrt.
Losj bat um eine Zigarette, legte sich nieder und stützte den Kopf mit der Hand. Er rauchte und lächelte.

»Alexej Iwanowitsch, wissen Sie, wie lange wir nicht gegessen haben?«

»Zuletzt gestern Abend, Mstislaw Sergejewitsch. Vor dem Abflug habe ich mich an Kartoffeln satt gegessen.«

»Mein lieber Freund, wir beide haben dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Tage lang nicht gegessen.«

»Wieviel?«
»Gestern in Petrograd hatten wir den 18. August, und heute ist in Petrograd der 11. September – solche Wunder geschehen also.«
»Sie können mir den Kopf abreißen, aber das versteh ich nicht, Mstislaw Sergejewitsch.«
»Ich selber verstehe ja auch nicht so ganz, wie das zugeht. Wir sind um sieben Uhr gestartet. Jetzt ist es, wie Sie sehen, zwei Uhr mittags. Vor neunzehn Stunden haben wir die Erde verlassen, nach dieser Uhr. Nach der Uhr jedoch, die ich in meiner Werkstatt zurückgelassen habe, ist ungefähr ein Monat vergangen. Haben Sie bemerkt: Wenn Sie in einem fahrenden Eisenbahnzug schlafen und der Zug bleibt stehen, erwachen Sie entweder von einem unangenehmen Gefühl, oder es bedrückt Sie etwas im Traum. Das kommt daher, weil, wenn der Wagen stehen bleibt, in Ihrem ganzen Körper eine Verringerung der Kreislaufgeschwindigkeit eintritt. Sie liegen in einem fahrenden Wagen, und Ihr Herz und Ihre Uhr, beide schlagen schneller, als ob Sie in einem stehenden Eisenbahnwagen lägen. Der Unterschied ist unmerklich, weil die Geschwindigkeiten sehr gering sind. Anders ist es aber bei unserem Flug. Die Hälfte des Weges haben wir beinahe mit der Geschwindigkeit des Lichts durchflogen. Hier ist der Unterschied zu merken. Der Herzschlag, die Geschwindigkeit des Ganges unserer Uhr, die Vibration der Moleküle in den Körperzellen veränderten sich nicht in Bezug aufeinander, solange wir im luftleeren Raum flogen. Sie bildeten ein Ganzes mit dem Apparat, alles bewegte sich im gleichen Rhythmus wie er. Wenn aber die Geschwindigkeit des Apparates fünfhunderttausend Mal größer ist als die normale Geschwindigkeit eines sich auf der Erde bewegenden Körpers, dann musste mein Herzschlag – ein Schlag in der Sekunde nach der im Apparat befindlichen Uhr sich fünfhunderttausend Mal beschleunigen, das will heißen, dass mein Herz während des Fluges fünfhunderttausend Schläge in der Sekunde tat, gerechnet nach der Uhr, die in Petrograd zurückgeblieben ist. Nach dem Schlagen meines Herzens, nach der Zeigerbewegung des Chronometers in meiner Tasche, nach dem Empfinden meines ganzen Körpers, haben wir neunzehn Stunden unterwegs zugebracht. Und das waren in Wirklichkeit neunzehn Stunden. Jedoch nach dem Herzschlag eines Petrograder Bewohners, nach der Bewegung des Zeigers der Uhr der Peter-Pauls-Kathedrale sind vom Tage unseres Abfluges an über drei Wochen vergangen. In der Zukunft wird es möglich sein, große Weltraumschiffe zu bauen, sie mit Lebensmittelvorräten, Sauerstoff und Ultralyddit für ein halbes Jahr zu versehen und dann irgendwelchen Querköpfen folgenden Vorschlag zu machen: Ihnen gefällt es nicht, in unserer Zeit zu leben? Wollen Sie in hundert Jahren auf der Erde sein? Dazu brauchen Sie sich nur für ein halbes Jahr mit Geduld zu wappnen und die Zeit in dieser Schachtel abzusitzen. Aber was für ein Leben werden Sie dann haben! Sie überspringen ein Jahrhundert! Und man schickt sie mit Lichtgeschwindigkeit für ein halbes Jahr in den Sternenraum. Sie werden sich etwas langweilen, die Bärte werden ihnen lang wachsen, und dann werden sie zurückkehren. Inzwischen ist auf der Erde das Goldene Zeitalter angebrochen. Und das alles wird wirklich einmal so sein.«
Gussew ächzte, schnalzte mit der Zunge und wunderte sich immer wieder. »Mstislaw Sergejewitsch, was meinen Sie zu diesem Getränk? Werden wir uns nicht vergiften?« Er zog mit den Zähnen den Pfropfen aus der marsianischen Flasche, probierte die Flüssigkeit mit der Zunge und spie aus. Man konnte sie trinken! Er nahm einen Schluck und räusperte sich.
»So was wie unser Madeira.«
Losj versuchte nun auch. Die Flüssigkeit war dick, süßlich mit einem starken Blumengeruch. Beim Probieren leerten sie die halbe Flasche. Ihre Adern durchströmte Wärme und eine besondere leichte Kraft, aber der Kopf blieb klar.
Losj erhob sich vom Boden, streckte und reckte sich. Ihm war leicht und wohl zumute, und auch etwas merkwürdig fühlte er sich unter diesem anderen Himmel, es war alles
so unwahrscheinlich und wundersam. Als ob ihn der Wellenschlag des Sternenozeans ans Ufer geworfen hätte, und er wäre neugeboren zu einem neuen, unerforschten Leben.
Gussew trug den Korb mit den Essvorräten in den Apparat, schraubte die Luke fest zu und rückte die Mütze tief in den Nacken.
»Schön ist es, Mstislaw Sergejewitsch, mir tut es nicht leid, dass wir hergefahren sind.«
Sie beschlossen, wieder zum Kanalufer zu gehen und bis zum Abend über die hügelige Ebene zu wandern. Vergnügt plaudernd, schritten sie zwischen den Kaktusgewächsen hindurch, manchmal sprangen sie auch über sie hinweg, in leichten, langen Sprüngen. Bald sahen sie die weißen Steine der Uferböschung durch das Dickicht schimmern.
Auf einmal blieb Losj stehen. Kalt lief ihm ein Gefühl des Ekels über den Rücken. Drei Schritte vor ihm, dicht am Boden, sahen ihn hinter den dicken Blättern hervor zwei Augen an, groß wie die eines Pferdes, von rötlichen Lidern halb verdeckt. Sie blickten unverwandt, mit grimmiger Bosheit.
»Was haben Sie?«, fragte Gussew und erblickte nun ebenfalls die Augen. Ohne zu überlegen, schoss er sofort auf sie – Staub flog auf. Die Augen waren verschwunden.
»Da ist noch eine – dieses Ungeziefer!« Gussew drehte sich um und schoss noch einmal auf einen eilig auf langen Spinnenbeinen davonlaufenden gestreiften, fetten braunen Körper. Es war eine Riesenspinne, wie sie auf der Erde nur auf dem Boden sehr tiefer Meere vorkommen. Sie entkam ins Gestrüpp.

Show 1 footnote

  1. Türkische Leckerei aus Zucker, Mehl und Stärke, vermischt mit Nüssen und Mandeln