Detektiv Schaper – Das graue Gespenst – 8. Kapitel
M. v. Neuhof
Detektiv Schaper
Zweiter Teil
Das graue Gespenst
8. Kapitel
Der erste Verdacht
Der Zug brauste mit schwindelerregender Eile durch die schnell hereinbrechende Nacht.
Der Detektiv hatte wohl eine Viertelstunde fast regungslos dagesessen und sich die Sachlage überlegt. Immer wieder dachte er an die beiden Namen, die auch in seinem Leben bereits eine gewisse Rolle gespielt hatten und die nun hier ihm sich wieder aufdrängten. Doktor Timpsear und Thomas Shepperley! Jede Einzelheit jenes Dramas, das die Zeitungen damals unter dem Sensationsartikel Die Mumie der Königin Semenostris besprochen hatten, tauchte in seiner Erinnerung immer wieder auf. Nun, jedenfalls warf es kein besonders günstiges Licht auf Charles Deprouval, dass er diese beiden Männer offenbar schon seit längerer Zeit gekannt hatte.
Immer fester bissen sich Fritz Schapers Gedanken, diese an scharfsinniges Kombinieren so sehr gewöhnten Gedanken, in der Materie seines neuesten Falles Albert Wendel fest. Und hin und wieder schweifte auch sein Denken ab zu jener geheimnisvollen Geschichte, die Heinz Gerster ihm von dem geretteten Passagier der Brigg Karola erzählt hatte, von dessen unauffälligem Verschwinden aus dem holsteinischen Fischerdorf, das darauf hindeutete, dass der Mann kein ganz reines Gewissen haben konnte. Und dann besann er sich auch auf die Einzelheiten, die der Oberingenieur Pareawitt ihm von der Testamentserrichtung des Minenbesitzers berichtet hatte. Da war ja jener schurkische Buchhalter als Zeuge zugegen gewesen, der nachher versucht hatte, Vermögenswerte der Erbschaftsmasse beiseitezuschaffen und später entflohen war. Dies alles hatte sich in Südafrika zugetragen, und die »Karola«, die gescheiterte Brigg, war doch, wie der Schriftsteller bestimmt wusste, ebenfalls aus einem dortigen Hafen gekommen.
Der Detektiv fuhr ordentlich hoch von seinem Sitz, sodass Heinz Gerster ganz erschrocken von seiner Zeitung aufblickte.
»Gerster«, rief er erregt, »wissen Sie, was ich soeben gefunden zu haben glaube? Nichts anderes als den Faden, der den Fall Wendel mit Ihrer Liebesgeschichte verbindet!«
Der Schriftsteller schaute ihn daraufhin ungläubig an. Dann meinte er zögernd: »Eine Verbindung besteht ja schon insofern, da Charlotte Wendel bisher als Rita Meinas bei Frau Deprouval gelebt hat.«
»Es gibt noch eine zweite – vielleicht«, entgegnete Schaper eifrig. »Ich vermute, dass der Mann, der in Danzig vor mir Erkundigungen nach der Millionenerbin eingezogen hat, Charles Deprouval ist!«
Heinz Gerster legte schleunigst die Zeitung weg. »Nein – wirklich?! Das wäre ja mehr als ein merkwürdiges Zusammentreffen«, sagte er interessiert. »Wie sind Sie denn zu dieser Annahme gelangt? Fraglos haben Sie doch Ihre guten Gründe dazu.«
»Allerdings, die habe ich. Auf diese Vermutung hat mich die gestrandete Brigg gebracht. Hören Sie, wie ich mir die Sache zusammenreime. Unterstellen wir, dass Deprouval nach seiner erzwungenen Auswanderung aus Deutschland nach Afrika gegangen ist und dort bei dem Minenbesitzer Albert Wendel als Buchhalter eine Anstellung gefunden hat. Als Wendel seinen Letzten Willen diktiert, ist Deprouval als Zeuge dabei. So erfährt er von den Bestimmungen des Testaments jedes Wort, auch den Umstand, dass Verwandte des Erblassers in Danzig gesucht werden sollen. Zunächst will er nun von der Hinterlassenschaft des Minenmagnaten einen Teil an sich reißen. Das misslingt. Er muss fliehen und wird von der Polizei verfolgt. Aus diesem Grund kann er sich in einem größeren Hafen auf einen der Tourdampfer nicht einschiffen. Er geht also nach Port Elisabeth, einem unbedeutenden südafrikanischen Hafen, und zahlt dem Kapitän der Brigg Karola das Passagiergeld, der den kleinen Gewinn gern einsteckt. In der Ostsee gerät der Segler dann in einen Orkan, scheitert, und die Besatzung mit Ausnahme von Deprouval ertrinkt. Er, der in der Absicht, selbst die Erben Albert Wendels aufzusuchen, nach Europa gekommen ist, begegnet kurz vor der Landung seiner Frau. Er hofft, dass sie ihn nicht erkannt hat, lässt sich zur Brigg zurückrudern und wartet, bis seine Gattin den Strand verlässt. Dann sucht er das Weite. In den nächsten Tagen taucht er in Danzig auf. Er erfährt hier alles, was er wissen will. Zwei Tage darauf reist Charlotte Wendel plötzlich nach Berlin. Sie bittet Frau Deprouval, dass diese das Ziel ihrer Reise nicht verrät. Beweis – die Bemerkung in dem Brief der Dame. Mithin handelt es sich bei dieser Fahrt um eine Angelegenheit, die geheim bleiben soll. Und der, der das junge Mädchen in die Reichshauptstadt kommen ließ, dürfte ebenfalls Deprouval sein. – Sie schauen so ungläubig drein! Lieber Gerster, bedenken Sie das eine: Die Zeitverhältnisse stimmen so tadellos, die einzelnen Abschnitte meiner Kombinationen passen so genau zusammen, dass das nicht alles Zufall sein kann!«
Trotzdem schüttelte der Schriftsteller zweifelnd den Kopf. »Es sind doch schließlich nur Vermutungen«, meinte er. »Es kann so sein – kann aber auch nicht so sein.«
»Gut, ich erkenne Ihre Bedenken an, möchte Ihnen aber doch nur eins verhalten. Gerade, dass Charlotte Wendel jetzt, ausgerechnet nachdem der Fremde in Danzig auftauchte, nach Berlin gefahren ist, gibt mir die Überzeugung, dass meine Annahme stimmt. Ich stelle mir die Sache so vor. Deprouval ist sofort nach Beendigung seiner erfolgreichen Ermittlungen von Danzig nach München gefahren. Hier erfuhr er, dass zu seinem Pech die Millionenerbin, an die er sich zu irgendwelchen Zwecken heranmachen wollte, bei seiner Frau als Erzieherin in Stellung war. Mithin erschien es ihm zu gefährlich, seine weiteren Pläne in der Isarstadt sozusagen unter den Augen seiner Gattin zur Durchführung zu bringen. Er fuhr also schleunigst nach Berlin zurück und verstand es, das junge Mädchen dorthin zu locken, wahrscheinlich durch einen Brief, in dem er ihr gewisse Andeutungen über die ihrer wartenden Erbschaft machte. Eine Depesche hätte diesen Zweck nicht erreicht. Es muss ein längeres Schreiben gewesen sein.
Nun, Verehrtester, was sagen Sie hierzu?«
»Ich bewundere ehrlich Ihren Scharfsinn. Die Möglichkeit, dass Ihre Schlüsse stimmen, gebe ich zu. Mehr nicht.«
»Sind Sie aber hartnäckig!«, bemerkte der Detektiv lachend. »Trotzdem hoffe ich noch, aus dem Saulus einen Paulus zu machen, und zwar sehr bald. Ich werde gleich nach unserer Ankunft in Berlin eine Kabeldepesche an die Polizei in Kimberley aufgeben und um das genaue Signalement des Buchhalters, der die Erbschaftsräubereien versucht hat, bitten, ferner um Aufschluss darüber, was über den Verbleib des Mannes bekannt geworden ist. Der Mensch, der in Danzig nach Charlotte Wendel Umfrage hielt, besaß einige besondere Kennzeichen: sehr kleine, frauenhafte Hände und einen Eckzahn mit einer Goldkrone. Wollen sehen, was ich für Antwort ans Kimberley bekomme. Ich jedenfalls wette schon heute, dass jener Buchhalter und der Danziger Spion kein anderer als Deprouval ist.«
Als der Luxuszug in den Bahnhof Friedrichstraße einlief, beugte sich Schaper weit zum Fenster hinaus, um nach seinem Bürovorsteher Lemke Ausschau zu halten, den er sich kurz vor der Abreise von München durch ein Telegramm herbeordert hatte.
Lemke hatte seinen Herrn und Gebieter bald erspäht und belud sich dann nach der ersten Begrüßung mit dessen Reisetasche und -decke.
»Wie wäre es«, meinte Schaper, als sie die Treppe zum Ausgang hinunterschritten, »wenn wir uns noch einen Schoppen im Heidelberger genehmigten? Ich habe einen Mordsdurst.«
Die beiden anderen, die der Detektiv in seiner legeren Art einander vorgestellt hatte, waren einverstanden.
So bogen sie denn in die Friedrichstraße ein und gingen das kurze Stück bis zu dem bekannten Restaurant zu Fuß.
Und dann betraten sie den Heidelberger. Schaper entdeckte in dem kleinen Garten einen freien Tisch. Nachdem der Kellner die Gläser gebracht hatte, begann der Detektiv sofort als guter Geschäftsmann mit seinem Bürovorsteher von den Dingen zu sprechen, die ihm am meisten am Herzen lagen.
»Sie dürfen mir das nicht verargen, lieber Gerster«, entschuldigte er sich bei diesem. »Aber gerade in meinem Beruf muss ich jede Minute auf dem Laufenden sein.
Briefe eingegangen?«, wandte er sich dann an Lemke.«
»Bitte. Habe alles mitgebracht.«
»Sonst was Neues?«
»Zwei neue Aufträge. Einer davon sehr lohnend.«
Während Schaper nun die Briefe durchsah – es war ein ziemlicher Stoß – unterhielten sich die beiden anderen halblaut.
Plötzlich lachte der Detektiv hell auf, sodass seine Tischgenossen beinahe erschreckt zusammenfuhren.
»Diese Gespenstergeschichte dort hinten in Pommern wird immer interessanter«, sagte er dann, zwei der Briefe mit den Fingerspitzen hochhaltend. »Die Freundschaft zwischen dem Privatgelehrten Müller und dem dicken Kaufmann Wernicke scheint einen Riss bekommen zu haben.
Lieber Gerster, Sie sind ja in die Sache eingeweiht. Da wird es Sie also nicht allzu sehr langweilen, wenn ich Ihnen zwei famose Herzensergüsse aus Gauben vorlese.
Herr Müller schreibt:
Sehr geehrter usw. Zu meinem Bedauern erfuhr ich von Herrn Wernicke, dass Sie gestern hier in unserem Städtchen gewesen sind, ohne sich zu mir bemüht zu haben. Sollte Sie etwa meine Krankheit davon abgehalten haben? Das würde mir sehr leidtun. Ich hätte Sie sehr, sehr gern persönlich gesprochen. Nun muss ich das, was ich Ihnen mündlich mitteilen wollte, auf diesem Wege zukommen lassen. Ich will mich kurzfassen.
Obwohl ich meinen Verdacht nicht begründen kann, so werde ich doch das Gefühl seit einigen Tagen nicht los, dass Wernicke bei den Geistererscheinungen in meinem Garten nicht ganz unbeteiligt ist. Wie gesagt – es ist dies eine bloße Vermutung von mir, die zu beweisen mir vorläufig unmöglich ist. Aber ich halte mich doch für verpflichtet, Ihnen hiervon Mitteilung zu machen. Im Interesse einer schleunigen Aufklärung der geheimnisvollen Angelegenheit würde ich Ihnen raten, Ihre nächste Ankunft hier in Gauben nur mir ankündigen zu wollen, da ich sonst offen gestanden fürchte, dass das Gespenst es vorziehen wird, sich während Ihrer Anwesenheit nicht zu zeigen. Weiter bitte ich Sie aus demselben Grund, den Personenzug nach Stolp nur bis Zerzewa, der Station vor Gauben, zu benutzen und von dort aus mit einem leicht zu beschaffenden Fuhrwerk bis in die Nähe der Mönchsabtei zu fahren, wo ein Nachtquartier für Sie jederzeit bereit ist.
Um Ihnen zu zeigen, wie viel mir an der baldigen Erledigung dieser immerhin recht merkwürdigen Geschichte gelegen ist, gestatte ich mir, das Honorar, soweit ich es zahle, auf dreihundert Mark zu erhöhen unter der Bedingung, dass Sie meinen vorhin geäußerten Wünschen pünktlich nachkommen.
Ihrer gefälligen Antwort entgegensehend
Hochachtungsvoll
Friedrich Müller
»So – das wäre Schreiben Nummer eins! Nun das Gegenstück dazu. Vorher aber. Prosit, meine Herren!«
Darauf las Fritz Schaper auch den zweiten Brief vor.
Sehr usw. Kurz nach Ihrer Abreise habe ich zufällig etwas erfahren, was Sie fraglos interessieren wird. Der Bahnhofsvorsteher Hillgard in Gauben ist mein Freund und Regimentskamerad. Hillgard erzählte mir nun Folgendes: Der Diener Hartung meines Mieters Müller hat sich in der letzten Woche regelmäßig vor Ankunft jedes Zuges auf dem Bahnhof eingefunden und ist Reisenden, die hier in Gauben ausstiegen, stets heimlich gefolgt, um festzustellen, wo sie blieben. Auch an dem Tag, als Sie hier eintrafen, hat er den Bahnsteig aus der Ferne überwacht. Und der Hotelkutscher der Drei Kronen hat ihm, kaum dass Sie Ihr Zimmer aufgesucht hatten, sagen müssen, wer Sie seien. Mit einem Wort. Es macht auf mich den Eindruck, als ob Friedrich Müller gern sofort wissen möchte, wenn Sie hier sind. Dass es sich bei diesem Spionieren nur um Ihre Person handeln kann, geht aus Folgendem hervor. Der Diener Hartung ist bisher nie auf dem Bahnhof gewesen, jedenfalls höchstens in dem halben Jahr, seit er mit seinem Herrn hier wohnt, drei bis vier Mal und dies dann nur zu dem Zweck, um eilige Briefe in den Bahnhofskasten zu werfen. Erst an dem Tag, an dem Sie Friedrich Müller mitteilten, dass Sie es versuchen wollten, dem Gespenst nachzuspüren, begannen Hartungs Patrouillengänge zum Bahnhof, die er täglich fünf Mal unternehmen musste und die erst aufhörten, als Sie hier gewesen waren. Weitere Bemerkungen an diese Tatsache will ich nicht knüpfen. Jedenfalls sehen Sie, dass wir hier in Gauben auch die Augen offenhalten können. Und das werde ich jetzt erst recht tun. Denn unter uns gesagt, als ich Müller erzählte, dass Sie bei mir waren und wiederkommen würden, da es Ihnen jetzt an der nötigen Zeit fehle, tauschte er mit seinem Diener einen Blick aus, den ich nicht bemerken sollte, der mir aber doch nicht entging. Und in diesem Blick lagen soviel Spott und höhnischer Triumph, dass ich plötzlich hinsichtlich des grauen Gespenstes zu einer ganz anderen Ansicht gelangt bin. Ihnen, bei Ihrer Erfahrung, wird es nicht schwerfallen, aus alledem Ihre Schlüsse zu ziehen und Ihr Vorgehen so einzurichten, dass Sie auch wirklich Erfolg haben.
Das Schönste ist – der Herr Privatgelehrte hält mich als Kleinstädter anscheinend für einen rechten Einfaltspinsel. Mag er. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Nebenbei bemerkt war Müller am Tage Ihrer Abreise bereits wieder völlig gesund. Ich traf ihn an seinem Schreibtisch sitzend und behaglich seine Pfeife rauchend, an.
Hochachtungsvoll ergebenst
Ernst Wernicke, Kolonialwarenhändler
Als Schaper den Brief auf den Tisch zurücklegte, konnte Heinz Gerster nicht länger an sich halten.
»Und über die beiden Schreiben lachen Sie so belustigt?«, meinte er ganz vorwurfsvoll. »Ich denke, die Sache wird durch diese Mitteilungen nur noch komplizierter. Manches in den Briefen regt doch geradezu zu dem Verdacht an, dass es sich hier bei diesen Geistererscheinungen um mehr als einen bloßen Schabernack handelt. Das Letztere nahmen Sie doch bisher an, nicht wahr?«
»Tue ich auch noch«, entgegnete der Detektiv gemütlich. »Freilich, um einen Schabernack, über dessen tiefere Absichten ich mir noch nicht im Klaren bin. Aber auch das werde ich herausbekommen!«
Bald darauf verließen die drei Herren das Restaurant und fuhren ein jeder zu seiner Wohnung, nachdem der Schriftsteller dem Detektiv noch versprochen hatte, sich morgen in dessen Büro einzufinden.