Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Fantomas – Kapitel 15


Das Komplott der Wahnsinnigen

Als Dr. Biron sein berühmtes, privates Pflegeheim im Herzen von Passy gründete, hatte er seiner Broschüre nach beabsichtigt, einen Rückzugsort für jene Menschen zu bieten, die an Nervenzusammenbrüchen, Überarbeitung oder unter Erregungszuständen litten. Außerdem wollte er Geisteskranken medizinische Behandlungen zukommen lassen, um so den offiziellen Status für seine Institution sicherzustellen. In weiser Voraussicht sorgte er dafür, dass die Spatzen von allen Dächern pfiffen, dass er für den Betrieb des Sanatoriums ehemalige Feldärzte einzusetzen gedachte. Das Konzept war raffiniert und so erfolgreich, dass sie seiner Einrichtung regen Zulauf verschaffte.

Perret und Sembadel saßen beim Frühstück und nörgelten.

»Ich würde mich ja gar nicht über den Geiz der Geschäftsleitung beschweren, wenn nicht alles an uns hängen bleiben würde«, sagte Sembadel. »Zum Teufel, wir sind beide qualifiziert, und als wir zustimmten, Dr. Biron zu assistieren, da machten wir das doch nur, um unsere theoretische Ausbildung mit ein wenig klinischer Erfahrung zu erweitern.«

»Was hält dich davon ab?«, fragte Perret nach.

»Wie sollen wir die Zeit für etwas anderes finden, wenn wir neben unserer Arbeit mit den Patienten auch noch den ganzen Papierkram machen, bis hin zu den Briefen, in denen wir den Leuten schreiben müssen, wie es den Patienten geht. Das sollten Sekretäre übernehmen und nicht wir.«

»Ist nicht eine Arbeit so gut wie die andere«, gab Perret zurück. »Außerdem sind wir doch die Einzigen, die die Patienten wirklich gut kennen. Also gebietet es der gesunde Menschenverstand, dass wir an ihre Familien schreiben.«

»Sie könnten uns trotzdem eine Schreibkraft stellen«, grollte Sembadel.

Perret sah, dass sein Freund schlecht gelaunt war, und setzte deshalb die Diskussion nicht fort.

»Hör mal«, sagte er stattdessen, »du solltest dem Fall Nummer 25 ein eigenes Kapitel in deiner wissenschaftlichen Arbeit widmen. Sie war doch für sechs Monate in deiner Abteilung, oder nicht?«

»Nummer 25?«, fragte Sembadel. »Ja, ich erinnere mich: eine Frau namens Rambert, etwa 40 Jahre alt, halluzinierte, dass sie verfolgt würde, anämisch, mit wechselnden Krisen von Erregungszuständen und Melancholie, unterbrochen von Wutausbrüchen. Behandlung: Ruhe, gesunde Ernährung und Beruhigungsmittel.«

»Offensichtlich erinnerst du dich sehr gut an den Fall.«

»Sie hat mich interessiert. Sie hat ganz erstaunliche Augen. Was ist mit ihr?«

»Nun ja, als sie in meinen Pavillon verlegt wurde, war die Diagnose schlimm und die Prognose noch schlechter: Sie galt als unheilbar. Aber du solltest sie jetzt sehen. Ihr Verstand ist wieder hergestellt. Sie ist ein neuer Mensch.« Er ging zum Tisch und hob einige Notizen auf. »Ich habe vor ein oder zwei Tagen ihren Ehemann angeschrieben und ihm mitgeteilt, dass seine Frau genesen sei, aber ich nehme an, dass der Brief ihn nicht erreichte, da ich noch keine Antwort erhielt. Ich habe die feste Absicht, ihm noch einmal zu schreiben und um seine Erlaubnis zu bitten, sie in die Abteilung für Rekonvaleszente zu schicken. Das Schlimme an der ganzen Sache ist, dass Etienne Rambert sie möglicherweise ganz aus unserer Obhut nimmt, was einen zahlenden Patienten weniger bedeutet und unseren werten Direktor für einen Monat in schlechte Laune versetzen wird.«

Er wandte sich seiner Korrespondenz zu und für ein paar Minuten wurde die Stille des Raumes nur vom Kratzen der Feder auf Papier gestört. Dann kam ein Pfleger herein, der eine große Anzahl Briefe brachte. Perret nahm sie und begann sie zu sortieren.

»Keiner für dich«, sagte er zu Sembadel. »Nicht einer dieser kleinen malvenfarbenen Umschläge, nach denen du jeden Tag Ausschau hältst und die über deine jeweilige Laune entscheiden. Ich muss mich auf stürmische Zeiten einstellen.«

»Ich werde heute nicht einmal die Zeit zum Grummeln haben«, knurrte Sembadel wieder. »Du hast vergessen, dass Swelding uns heute seinen offiziellen Besuch abstattet.«

»Der dänische Professor? Er kommt heute Morgen?«

»So scheint aus.«

»Wer ist der Bursche eigentlich?«

»Nur einer dieser ausländischen Gelehrten, die es zu Hause nicht geschafft haben berühmt zu werden und deshalb ins Ausland gehen, um dort anderen Menschen unter dem Deckmantel von Studien auf die Nerven zu gehen. Darum kommt er auch hierher. Schrieb so ein biestiges, kleines Pamphlet über die Ideontologie des Überimaginativen. Habe selbst nie davon gehört.«

Das Gespräch endete und die beiden Männer gingen in ihre Abteilungen, um sich um ihre Patienten zu kümmern und um die Pfleger zu warnen, dass wegen der offiziellen Inspektion alles blitzblank sein musste.

 

***

 

Währenddessen wurden im großen Gesellschaftszimmer überschwängliche Höflichkeiten zwischen Dr. Biron und Professor Swelding ausgetauscht.

Dr. Biron war ein Mann um die Vierzig, mit rosigen Zügen, einer stattlichen Statur und energischem Gehabe. Er gestikulierte ungehemmt und sprach in einem salbungsvollen, schmeichlerischen Tonfall.

»Ich bin erfreut über die große Ehre ihres Besuches, Sir«, sagte er. »Als ich das Institut vor fünf Jahren gründete, hätte ich nicht zu hoffen gewagt, dass ich sobald einen Ruf erlangt haben könnte, der mir die Ehre des Interesses eines Mannes einbringt, der in der wissenschaftlichen Welt so hoch angesehen ist, wie Sie es sind.«

Der Professor lauschte mit einem höflichen Lächeln, hatte aber mit der Antwort keine Eile. Professor Swelding war sicherlich eine bemerkenswerte Erscheinung. Er mochte um die sechzig sein, aber die Last der Jahre lag leicht auf seinen Schultern und war wie Schnee auf sein dichtes, lockiges Haar gefallen, das jetzt verblüffend weiß war. Es war auch sein Haar, das die Aufmerksamkeit zuerst auf sich zog, denn es war ungewöhnlich dicht und mit einem großen Schnauzbart und einem langen, üppigen Vollbart kombiniert. Er war wie ein Mann, der das Gelübde abgelegt hatte, sich nie das Haar zu schneiden. Es bedeckte seine Ohren und fiel ihm über die Stirn, sodass nur wenig von seinem  Gesicht zu sehen war, wobei zudem der Ausdruck seiner Augen hinter einer großen, blau getönten Brille verborgen war. Der Professor war in einen schweren Umhang gehüllt, trotz des hellen Sonnenscheins. Offenbar war er einer jener Männer aus dem kalten Norden, die echte Wärme nicht kannten und nicht verstehen konnten, was es bedeutet, zu warm gekleidet zu sein. Er sprach korrektes Französisch, aber mit einem leichten Akzent und einer langsamen Aussprache, die seine ausländische Herkunft verriet.

»Ich war wirklich neugierig, Sir, mit eigenen Augen die Maßnahmen zu beobachten, die ihr Institut zu einem Vorzeigeobjekt seiner Art machen«, antwortete er. »Ich habe mit großem Interesse ihre unzähligen Publikationen in der Gelehrtenwelt gelesen. Es ist von großem Vorteil für einen praktischen Arzt wie mich, von der Erfahrung eines so geschätzten Gelehrten wie ihnen zu profitieren.«

Ein paar weitere Höflichkeiten wurden ausgetauscht und daraufhin schlug Dr. Biron vor, die verschiedenen Abteilungen zu besuchen und führte seinen Gast auf das Institutsgelände.

Wenn Dr. Biron auch nicht über das theoretische Wissen zum Thema Wahnsinn verfügte, das die französischen Nervenärzte weltberühmt gemacht hatte, so war er doch mit Sicherheit ein hervorragender Organisator. Sein Sanatorium war eine Modelleinrichtung. Es lag in einem der reichsten, ruhigsten und luftigsten Stadtteile von Paris und befand sich auf einem weitläufigen Areal hinter hohen Mauern. Innerhalb der Mauern war eine Anzahl kleiner Pavillons gebaut worden, alle hübsch anzusehen und verbunden mit breiten Treppenfluchten innerhalb eines wundervollen Gartens mit Büschen und Bäumen, der wiederum in eine Reihe kleinerer Gärten unterteilt war, die durch weiße Lattenzäune getrennt waren.

»Wie Sie sehen, Professor, vertraue ich vollständig auf das Prinzip der Isolation. Ein einzelner Häuserblock würde zu einer schädlichen Anhäufung verschiedener Arten von Wahnsinn führen, deshalb habe ich diese kleinen Pavillons gebaut, wo meine Patienten entsprechend der Art ihrer seelischen Entfremdung aufgeteilt werden können. Das System hat große therapeutische Vorteile und ich bin mir sicher, dass darin auch die Erklärung für meine hohe Anzahl an Heilungen zu suchen ist.«

Professor Swelding nickte zustimmend.

»Wir verwenden das System der Trennung in Dänemark«, sagte er, »aber wir haben es nie so intensiv betrieben, dass wir gleich das ganze Institut unterteilt haben. Ich sehe, dass jeder ihrer Pavillons über einen eigenen Garten verfügt.«

»Ich halte das für unerlässlich«, erklärte Dr. Biron. Er führte seinen Besucher zu einem der kleinen Gärten, in dem ein Mann von etwa 50 Jahren mit zwei Pflegern herumspazierte.

»Dieser Mann leidet unter Megalomanie«, sagte er. »Er glaubt, dass er der Allmächtige sei.«

»Wie ist ihre Behandlung in diesem Fall«, fragte Professor Swelding nach. »Ich bin mir bewusst, dass die Fachliteratur Isolation empfiehlt, aber das allein ist wohl nicht ausreichend.«

»Ich kümmere mich um den Verstand, indem ich mich um den Körper kümmere«, antwortete Dr. Biron. »Ich baue die Gesundheit meiner Patienten durch die sorgfältige Einhaltung von Hygiene, einer Diät und absoluter Ruhe wieder auf und gebe dabei vor, ihre mentale Entfremdung nicht zu bemerken. Es gibt immer einen Funken gesunden Menschenverstandes in einem kranken Hirn. Dieser Mann glaubt, er sei der Allmächtige. Aber wenn er hungrig ist, muss er um etwas zu essen bitten und dann geben wir uns erstaunt, dass er den Wunsch zu essen hat, obwohl er doch der Allmächtige ist. So muss er mit einer Erklärung dafür aufwarten und nach und nach stellen wir auf diesem Wege seine Fähigkeit zu logischem Denken wieder her. Ein Mann hört auf verrückt zu sein, wenn er zu begreifen beginnt, dass er tatsächlich verrückt ist.«

Der Professor folgte dem Doktor, warf neugierige Blicke auf die verschiedenen Patienten, die in ihren Gärten spazieren gingen.

»Haben Sie hier viele erfolgreiche Heilungen?«

»Diese Frage ist schwer zu beantworten«, sagte Dr. Biron. »Die Statistiken sind so unterschiedlich bei den verschiedenen Arten des Wahnsinns.«

»Natürlich«, sagte Professor Swelding, »aber nehmen wir eine bestimmte Art von Demenz, sagen wir den Verfolgungswahn. Was für einen Prozentsatz von Heilungen können Sie vorweisen?«

»Zwanzig Prozent kompletter Genesung und vierzig Prozent mit deutlicher Besserung«, antwortete der Doktor sofort und sah das Erstaunen des Professors über den hohen Prozentsatz, worauf Dr. Biron ihn vertraulich beim Arm nahm und ihn weiterführte.

»Ich werde Ihnen eine Patientin zeigen, die tatsächlich in ein oder zwei Tagen nach Hause geschickt werden wird. Ich glaube, dass sie komplett geheilt ist oder zumindest kurz vor ihrer vollständigen Genesung steht.«

Eine Frau von etwa vierzig saß in einem der Gärten neben einer Pflegerin und nähte schweigend. Dr. Biron hielt inne, um die Aufmerksamkeit seines Besuchers auf sie zu lenken.

»Diese Dame gehört zu einer der feinsten unter unseren großen Kaufmannsfamilien. Sie ist Madame Alice Rambert, Ehefrau von Etienne Rambert, dem Kautschukkönig. Sie ist seit fast zehn Monaten in meiner Obhut. Als sie hierher kam, war sie im letzten Stadium der Debilität und der Anämie und litt unter der charakteristischsten aller Halluzinationen. Sie dachte, dass sie von Meuchelmördern umgeben sei. Ich habe ihre Physis wieder aufgebaut und nun auch ihren Verstand geheilt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Dame im wahrsten Sinne des Wortes alles andere als verrückt.«

»Sie hat also niemals Anzeichen gezeigt, dass sie zu ihrem krankhaften Zustand zurückkehren könnte«, fragte Professor Swelding neugierig nach.

»Nie.«

»Und würde es auch nicht, selbst wenn man sie aufregt?«

»Ich denke nicht.«

»Darf ich mit ihr sprechen?«

»Selbstverständlich.« Dr. Biron führte den Besucher zu dem Platz, an dem die Patientin saß. »Madame Rambert«, sagte er, »darf ich Ihnen Professor Swelding vorstellen? Er hat gehört, dass sie bei uns sind, und möchte ihnen seine Aufwartung machen.«

Madame Rambert legte ihr Nähzeug beiseite, erhob sich und sah den dänischen Professor an. »Ich bin erfreut, die Bekanntschaft dieses Gentleman zu machen«, sagte sie, »aber ich würde gerne wissen, wie er von meiner Anwesenheit erfuhr, mein lieber Doktor.«

»Ich bedaure, nicht in Anspruch nehmen zu können, Sie zu kennen, Madame«, sagte Professor Swelding, indem er für Dr. Biron antwortete, »aber ich weiß, dass ich mit der Insassin seines Instituts spreche, die mir wärmstens von Dr. Birons Können und Hingabe berichten wird.«

»Unbedingt«, antwortete Madame Rambert kühl, »denn er dehnt seine Güte so sehr aus, dass er wünscht, seinen Patienten wäre nie langweilig, weshalb er ihnen unangemeldet Gäste bringt.«

In der Aussage war der unausgesprochene Vorwurf zu hören, dass Dr. Biron zu gerne bereit war, seine Patienten wie seltene und ungewöhnliche Tiere auszustellen. Der Vorwurf traf ihn um so härter, da er doch überzeugt war, dass Madame Rambert geistig absolut gesund war. Er gab vor, nicht gehört zu haben, was sie sagte, und gab stattdessen ihrer Pflegerin Berthe Anweisungen, die respektvoll neben ihnen stand.

»Ich verstehe, Madame«, antwortete Professor Swelding sanft. »Sie verstehen meinen Besuch also als ein Eindringen in ihre Privatsphäre?«

Madame Rambert hatte ihre Näharbeit wieder aufgenommen, sprang aber plötzlich auf, so abrupt, dass der Professor zurückwich, und rief laut: »Wer rief mich? Wer rief mich? Wer …«

Der Professor versuchte zu sprechen, doch die Patientin unterbrach ihn.

»Oh«, schrie sie, »Alice! Alice! Seine Stimme – seine Stimme! Geh weg! Du machst mir Angst! Wer sprach? Geh weg! Oh Hilfe! Hilfe!« Sie floh schreiend in den hinteren Teil des Gartens, wobei die Pflegerin und Dr. Biron ihr nachliefen. Doch mit der Schläue aller Wahnsinnigen gelang es ihr, ihnen zu entwischen und weiterhin zu schreien. »Oh ja, ich erkenne ihn! Geh weg, ich befehle es dir! Geh! Mord! Mord!«

Die Pflegerin versuchte, den Doktor zu beruhigen.

»Keine Sorge, Sir. Sie ist nicht gefährlich. Ich denke, dass der Besuch des Gentleman sie aufgeregt hat.«

Die arme, verwirrte Kreatur hatte Zuflucht hinter ein paar Büschen gesucht und stand dort mit panisch geweiteten Augen, die auf den Professor fixiert waren, mit einer Hand auf ihn zeigend, wobei sie am ganzen Körper zitterte.

»Fantômas«, schrie sie. »Fantômas! Sehen Sie – ich kenne ihn. Oh Hilfe!«

Die Szene war schrecklich verstörend und Dr. Biron machte dem ein Ende, indem er die Pflegerin anwies, Madame Rambert in ihre Räume und zu Bett zu bringen. Sie sollte danach sofort nach Monsieur Perret schicken lassen. Dann wandte er sich wieder Professor Swelding zu.

»Das Gehirn ist so ein schrecklich zerbrechliches Ding«, sagte der. »Sie könnten keinen eindeutigeren Fall haben, um das zu beweisen: Diese arme Frau, die Sie für geheilt hielten, hat plötzlich eine für ihre Form des Wahnsinns typische Krise, provoziert durch – ja was eigentlich? Weder Sie noch ich sehen besonders nach einem Meuchelmörder aus, oder nicht?« Und er folgte Dr. Biron, der ein wenig angeschlagen wirkte, um sich andere Angelegenheiten von Interesse zeigen zu lassen.

 

***

 

»Geht es Ihnen jetzt besser, Madame? Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

Madame Rambert ruhte auf einem Sofa in ihrem Zimmer und beobachtete ihre Pflegerin Berthe, die herumlief und die kleine Unordnung aufräumte, die durch ihre kürzliche Fürsorge entstanden war. Die Patientin machte eine kleine Geste der Verzweiflung.

»Arme Berthe«, sagte sie. »Wenn sie nur wüssten, wie unglücklich ich bin und wie leid es mir tut, der Panik auf diese Weise nachgegeben zu haben!«

»Ach, das war doch nichts«, sagte die Pflegerin. »Der Doktor wird dem bestimmt auch keine große Bedeutung beimessen.«

»Doch, das wird er«, sagte die Patientin mit einem traurigen Lächeln. »Ich denke, dass er dem sehr wohl Bedeutung beimisst und in jedem Fall meine Entlassung aus dem Sanatorium verzögern wird.«

»Kein bisschen, Madame. Wissen Sie denn nicht, dass man ihren Lieben geschrieben hat, dass Sie geheilt sind?«

Madame Rambert antwortete darauf für eine Weile nicht. Dann sagte sie: »Sagen Sie, Berthe, was verstehen sie unter dem Wort geheilt

Die Pflegerin wirkte ziemlich verblüfft. »Also, es heißt, dass es Ihnen besser geht, dass es Ihnen ziemlich gut geht.«

Ihre Patientin lächelte bitter. »Es ist wahr, dass ich mich besserer Gesundheit erfreue und dass mein Aufenthalt mir sehr gut getan hat. Aber das ist nicht, wovon ich gesprochen habe. Wie ist Ihre Meinung über meinen Geisteszustand?«

»Darüber sollten Sie sich keine Gedanken machen«, verlangte die Pflegerin. »Sie sind nicht mehr verrückt, als ich es bin.«

»Oh, ich weiß doch, dass das schlimmste Symptom von Wahnsinn ist zu erklären, dass man nicht wahnsinnig sei«, antwortete Madame Rambert traurig. »Also werde ich vorsichtig bei dem sein, was ich sage, Berthe. Aber, abgesehen von der letzten Panikattacke, für die ich Ihnen den Grund nicht nennen kann, haben Sie mich je etwas tun oder sagen sehen, etwas, das vollkommen irrational war, in all der Zeit, in der ich unter Ihrer Obhut war?«

Von der Bemerkung betroffen, gab die Pflegerin trotz aller Zweifel zu: »Nein, ich habe nie … also außer …«

»Außer«, beendete Madame Rambert für sie, »dass ich mich mehrfach Ihnen gegenüber beschwert habe, das Opfer einer schrecklichen Heimsuchung zu sein und dass es ein tragisches Geheimnis in meinem Leben gibt. Kurz gesagt, ich wurde hier ruhiggestellt, weil sich jemand meines Schweigens gewiss sein wollte. Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass ich Ihnen die Wahrheit sagen könnte?«

Die Pflegerin war momentan von der ruhigen Selbstsicherheit ihrer Patientin erschüttert, aber dann gewann sie ihr professionelles Gehabe zurück.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Madame Rambert. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass Doktor Biron Ihre Heilung anerkennt. Sie werden diesen Ort verlassen und Ihr normales Leben wieder aufnehmen.«

»Ach, Berthe«, sagte Madame Rambert und rang die Hände, »wenn Sie nur wüssten. Sollte ich dieses Sanatorium verlassen oder wenn mich der Doktor zu meiner Familie zurückschickt, werde ich sicher in einem anderen Sanatorium landen, bevor die Woche vorüber ist! Nein, das ist nicht nur eine fixe Idee in meinem Kopf«, fuhr sie fort, als die Pflegerin protestierte. »Hören Sie, während der ganzen zehn Monate, die ich hier gewesen bin, habe ich nicht einmal protestiert und vorgegeben, nicht wahnsinnig zu sein. Ich war sogar froh, an diesem Ort zu sein. Weil ich mich hier sicher fühlte. Jetzt bin ich mir dessen nicht mehr gewiss. Ich muss gehen, aber nicht nur, um zu meinem Ehemann zurückzukehren! Ich muss frei sein, frei, um zu jenen zu gehen, die mir helfen können, der schrecklichen Falle zu entkommen, in der ich die letzten Jahre meines Lebens verbracht habe!«

Madame Ramberts ehrlicher Tonfall überzeugte die Pflegerin trotz ihrer professionellen Instinkte.

»Ja?«, sagte sie fragend.

»Ich denke, Sie wissen, dass ich reich bin, Berthe«, fuhr Madame Rambert fort. »Ich war zu Ihnen immer großzügig, und höhere Beiträge als für jeden anderen Patienten werden hier für mich bezahlt. Wollen Sie sich nicht ihrer Zukunft sicher sein und das auf leichtem Wege? Ich habe gehört, dass Sie davon sprachen zu heiraten. Soll ich Ihnen einen Hinweis geben? Sie könnten zwar hier ihre Anstellung verlieren, aber wenn Sie mir helfen, würde ich Ihnen das hundertfach vergelten. Sie müssen mir nur helfen, von diesem Ort zu entkommen! Und je schneller, desto besser! Ich habe keine Minute zu verlieren!«

Berthe wollte von der Patientin zurückweichen, aber Madame Rambert hielt sie fest, beinahe mit Gewalt.

»Nennen Sie mir Ihren Preis«, sagte sie. »Wie viel wollen Sie? Eintausend Pfund? Zweitausend Pfund?«

Als die Pflegerin allein von der Andeutung solch märchenhafter Summen sprachlos gemacht wurde, zog Madame Rambert einen Diamantring von ihrem Finger und hielt ihn der jungen Frau hin. »Nehmen Sie dies als Beweis meiner Aufrichtigkeit«, sagte sie. »Wenn mich jemand danach fragt, werde ich sagen, dass ich ihn verloren habe. Von jetzt an, Berthe, fangen Sie an, meine Flucht vorzubereiten! In der Nacht, in der ich freikomme, werden Sie eine reiche Frau sein! Das schwöre ich.«

Berthe erhob sich, schwankte, kaum wissend, ob sie wach war oder träumte.

»Eine reiche Frau«, murmelte sie. »Eine reiche Frau!« Über das Gesicht des Mädchens kroch plötzlich der schreckliche Ausdruck von Gier und Verlangen.