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Der Freibeuter – Herzensgeschichten

Der-Freibeuter-Dritter-TeilDer Freibeuter
Dritter Teil
Kapitel 2

Die Ageboern brachten die geretteten schwedischen Schiffsleute unter lärmender Begleitung des Strandvolkes auf das Herrengut, welches nicht weit vom Kloster Westerwig lag. Obgleich die dem Tod entronnenen Freibeuter sich nicht miteinander absprechen konnten, was sie in Feindesland für eine Rolle zu spielen hätten, so verständigten sie sich doch durch Blicke und Zeichen. Als sie vor den Gutsherrn gebracht wurden, trat Norcroß sogleich vor, um auf die Fragen desselben zu antworten. Der Gutsbesitzer hatte nicht sobald das Unglück dieser Leute vernommen, als er ihnen auch mit der größten Freundlichkeit entgegen kam und ihnen die herzlichste Teilnahme zeigte. Denen, die sich durch Schwimmen gerettet hatten, ließ er trockene Kleider reichen und bat alle es sich bequem zu machen und sein Haus als das ihre zu betrachten.

Der Gutsherr, der sich seinen Gästen Schrellücke nannte, fragte sodann mit höflichen Worten nach Namen, Stand, Gewerbe, Zweck und Richtung der Reise der Verunglückten. Norcroß gab sich für einen nordbritischen Kaufmann aus, der in Schweden Handel getrieben und nach Holland habe reisen wollen. Der Kapitänlieutenant Gad wusste nichts Gescheiteres zu sagen, als dass er der Steuermann des gescheiterten Schiffes wäre. Dadurch kam der wirkliche Steuermann in die Verlegenheit, sich unter die Matrosen zu stellen. Die Offiziere gaben sich teils für Kaufleute, teils für Passagiere aus und berichteten, dass der Kapitän des Schiffs umgekommen sei.

Der Edelmann schien nicht das geringste Misstrauen in ihre Aussage zu setzen und sagte: »Ihr seid zwar größtenteils Schweden, meine Herren, aber was geht uns der Streit unserer Könige an? Ihr seid Christen, seid Gottes Kinder, wie ich, und demnach meine Brüder. Euer Unglück aber legt mir die Pflicht auf, Euch zu helfen, so weit es in meinen Kräften steht. Nun so kommt her, Ihr Herren, ich will Euch mit meiner Familie bekannt machen.«

Mit diesen Worten führte er die Schiffbrüchigen in den Familiensaal, der in Dänemark das vorzüglichste Gemach des Haases ist und sich immer zu ebener Erde befindet. Hier wurden sie von der Frau und den erwachsenen Kindern freundlich willkommen geheißen. Alle diese Leute kamen ihren Wünschen mit Bereitwilligkeit entgegen. Es wurde ein einfaches, gutes Mahl zubereitet. Die Fremden saßen, mit den Mitgliedern des Hauses untermischt, um die lange Tafel, welche ein großer, silberner Becher von Mund zu Mund gehend umkreiste.

Gad war neben die älteste Tochter des Hauses zu sitzen gekommen. Obwohl sie gleich nicht schön war, so wurden ihm ihre sanftfreundlichen Augen, ihr schlanker Wuchs und die unbefangene Zusprache, mit der sie ihn zum Essen und Trinken trieb, so gefährlich, dass ein leises Zittern, von seinen Händen ausgehend, sich immer stärker über den ganzen langen Körper verbreitete.

Der gesprächige Wirt erzählte von seinen Schicksalen, und Norcroß berichtete zur Rekompens von seinen Reisen in Ostindien. So verging der Tag unter freundlichen Gesprächen. Die Matrosen waren in einem anderen Zimmer ebenfalls gut bewirtet worden und tranken ihren umgekommenen Kameraden ein brüderliches Valet.

Ebenso gut wie für Speise und Trank war für das Lager der Gäste gesorgt. Reine, schöne Betten, mit Eiderdaunen gefüllt, in weiten, luftigen Gemächern waren der Solidität der Hausbesitzer angemessen.

Unter lobenden Äußerungen über den trefflichen Wirt schlief die Mannschaft ein. Gad konnte nicht Rühmens und Preisens genug von der herrlichen Tochter machen und vor Mitternacht kein Auge zutun.

Norcroß hatte zum ersten Mal in seinem Leben das Bild häuslicher und ehelicher Glückseligkeit gesehen, zum ersten Mal war der unstete Seefahrer an einen Herd getreten, auf welchem die reine Flamme ehelicher Liebe loderte. Sein durch Unglück und das Scheitern seiner Pläne aufgelockertes, für den Samen des Guten empfänglicher gewordenes Gemüt empfand einen starken, ihm aber fremden und unerklärlichen Eindruck vom Reflex des schönen Bildes in seiner Seele. Er fühlte eine Sehnsucht in sich erwacht, die von dem stürmischen Verlangen, wie es seine Brust es durchlodert hatte, so ganz verschieden war, dass sie vielmehr die demselben entgegengesetzte Richtung andeutete. Er fühlte sich weich bis zu Tränen, wenn er sich dieses Bild des häuslichen Glücks mit den kleinsten Schattierungen ausmalte, aber sein Verstand trat mit dem neuerwachten Gefühl in Widerstreit. »Der Mann kennt kein höheres Los, sein beschränktes Weib füllt seine Welt aus, er hat nie andere Wünsche gehegt. Er ist nie über die Scholle seines Gutes hinausgekommen. Er ist ein Bauer und hat keinen Sinn für die Herrlichkeit des Seelebens, er liebt seine Frau wie sein Haus und seinen Acker.«

Aber im tiefen Herzen widersprach das neungeborene Gefühl, und lallte es auch noch unverständlich, es suchte sich schon Nahrung zum Gedeihen.

Norcroß träumte in dieser Nacht von seiner Frau. Sie stand vor ihm, Tränen in den Augen, winkte ihm mit milder Gebärde zu sich heran und flüsterte ihm zu, dass sie ja doch ein Pfand seiner Liebe unter dem Herzen trage. Dieser Traum verstärkte den Eindruck des vorigen Tages. Den wilden Kaperkapitän erfüllte ein so wunderliches Weh, das er vergebens wegzuräsonieren suchte. Die zarte Blüte rein menschlichen Gefühls entfaltete sich in seiner Brust. Und als nun in den folgenden Tagen der Edelmann ihm immer mehr herzliches Vertrauen schenkte, und einmal in einer Stunde, wo sie allein bei einer Flasche Wein zusammensaßen, erzählte, dass er früher als Hauptmann in Holstein gefochten und dort ein herrliches Mädchen, ihm an Stand und Reichtum gleich, heiß geliebt habe, dass er aber durch ein früheres Eheversprechen, nach dem Wunsch seiner Eltern, an seine jetzige Frau gebunden gewesen sei, dass er die schwersten Kämpfe mit seinem Herzen bestanden, aber Wort und Pflicht doch den Sieg über eine starke Leidenschaft davongetragen und er diese Entscheidung, im Besitz einer höchst braven, liebenswürdigen, häuslichen Frau, die ihn glücklich gemacht hat, nie bereut habe.

Da rief Norcroß tiefgerührt: »Ja, Freund, ich habe auch eine liebe Frau zu Hause. Ich stand auf dem Punkt, sie zu verlassen, ohne dass sie mir die kleinste Veranlassung dazu gegeben hätte, und bloß weil ich eine andere mit Leidenschaft liebte. Aber die Unfälle, die mich zeither getroffen, Euer einfach schönes Familienleben und Eure eigene Geschichte haben mich meiner Frau wiedergewonnen.«

»So hat Gott Euren Eintritt in mein Haus gesegnet!«, rief der gütige Wirt und schüttelte seinem Gast biedermännisch die Hand.

Norcroß und seine Unglücksgefährten wollten schon am vierten Tag wieder abziehen, aber der Edelmann widersetzte sich.

»Wohin wollt Ihr in dieser Jahreszeit?«, sagte er gutmeinend zu Norcroß. »Es müssen wenigstens noch vierzehn Tage ins Land gehen, ehe aus den dänischen Häfen die Schifffahrt wieder lebendig betrieben wird. Ihr könnt also ohne Gefahr nicht früher abfahren. Oder wollt Ihr Euch einem neuen Sturm aussetzen, oder wohl gar einem schwedischen Kaper in die Hände fallen, der Euch wieder nach Schweden zurückschleppt? Ich wette darauf, der Norcroß durchstreift die Westsee schon wieder und lässt nichts ungehudelt, was nicht schwedische Flagge führt.«

»Kennt Ihr den Norcroß auch?«, fragte der Kapitän lächelnd. »Ich dachte, der wäre nur in Schweden bekannt. Da habe ich viel von ihm reden hören.«

»Glaubt Ihr, dass es in Dänemark einen Menschen gibt, der nicht vor dem Namen dieses Mannes mit Abscheu ausspeit?«, sagte der Edelmann entrüstet. »Hat er nicht unsern Kronprinzen stehlen, unsern König ermorden, unsere Flotte verbrennen wollen? Heiliger Gott! Wo gäbe es einen verwegeneren Sünder als diesen Norcroß? Darf sich denn ein dänisches Schiff recht auf unserem Meer sehen lassen? Er hat es am Schlepptau und führt es seinem König zu. Dass ihn Gott verdammen möge, diesen Seeräuber! Er ist Euer Landsmann, Freund, aber glaubt, er ist der einzige Mensch, dem ich alles Böse wünsche.«

Der Kapitän schauderte. Er hatte nicht geglaubt, dass er so allgemein bekannt und gehasst wäre, dass sich so das Volk mit seinen gescheiterten Plänen trüge.

»Bleibt Ihr nur bei mir«, fuhr der Edelmann wieder gelassener fort. »wenn Ihr Geld von Eurem Schiff gerettet habt, was wollt Ihr es in einem teuren Hafen verzehren? Bei mir kostet es Euch nichts. Ich mache mir eine Freude daraus. Bleibt, solange es Euch gefällt. Hier hat Euch kein Freibeuter etwas an, und wenn das Frühjahr vollends herauf ist und die See sich beruhigt hat, so fahrt heim zu Eurer lieben Frau und erzählt ihr von mir und der meinen und von meinen Kindern.«

Die Freibeuter ließen sich zureden, denn ihnen allen leuchtete ein, dass es ihnen nicht leicht werden möchte, in diesem stürmischen Wetter nach Schweden hinüberzukommen oder sich unentdeckt lange in einem Hafen aufzuhalten. Sie beschlossen also, zu warten, bis sich das Wetter gebessert habe.

Keinem war dieser Verzug angenehmer, als dem Kapitänlieutenant Gad, welcher in die Tochter des Hauses verliebt und, wie es schien, auch von ihr nicht ungern gesehen wurde. Obgleich er sich in ihrer Nähe nicht die geringste Erklärung seiner Gefühle erlaubte, sondern nur immer zitterte und dann und wann ein gleichgültiges Wort mit Mühe hervorstammelte, so war er doch gern in ihrer Nähe. Nur wenn er ihr nicht Gesellschaft leisten konnte, lief er im Feld und am Meeresufer umher und erzählte dem Wind von seinen brennenden Liebesschmerzen.

Kapitän Norcroß fürchtete wirklich für seinen Verstand und hielt ihr Geheimnis nur um deswillen bewahrt, weil Gad dem Mädchen gegenüber überhaupt stumm war. Desto gesprächiger war Juel mit Gads Geliebter und den übrigen Kindern. Er saß halbe Tage lang unter ihnen und erzählte oder machte ihnen Schnurren vor. Bald war er bei allen beliebt und wurde von der Hausfrau und den Töchtern beschenkt. Der schelmische Junge legte es darauf an, den Kapitänlieutenant um das bisschen Kopf zu bringen, das er noch hatte. Deshalb schlich er hinter ihm her, wenn der verliebte Mann, seine Klagelieder zu singen, ins Feld lief, und erzählte ihm, wie von ungefähr, Ellen – so hieß die älteste Tochter – habe sich vorteilhaft über ihn geäußert, habe dies und jenes von ihm gesprochen, nach dem und jenem gefragt, habe gestanden, dass sie ihm recht gut sei.

Gad hüpfte und jubelte zuletzt vor Freuden. Manches Talerstück spazierte aus des Kapitänlieutenants Tasche in die des Schiffsjungen, der dann nicht verfehlte, heimzugehen und dem Mädchen wieder süße Dinge von des Steuermanns Liebe zu ihr vorzusagen. Der einsamen Bewohnerin der Küste war noch kein Mann, außer Vater und Brüder, so nahe gekommen, ihr Herz war reif und empfänglich für sanfte Gefühle. Die Redereien des Jungen gossen Öl in die Flamme, und so war es kein Wunder, das beide starke Gefühle füreinander hegten.

So waren unter allerlei Zerstreuungen zwei volle Wochen verstrichen, und Küche und Keller des Gutsherrn hatten es verspürt. Da brachen die Freibeuter auf, ihrem gütigen Wirt herzlich dankend für alle genossenen Wohltaten. Es tat dem Kapitän leid, dass er dem redlichen, braven Mann verschweigen musste, wen er eigentlich beherbergt hatte. Wäre es nicht mit allzu großer Gefahr verknüpft gewesen, er hätte sich genannt, um dem Edelmann einen besseren Begriff von dem berüchtigten Freibeuter Norcroß beizubringen. Er schied mit einer wehmütigen Empfindung, aber der reinsten Hochachtung im Herzen gegen den uneigennützigen Wirt, und versprach, demselben Nachrichten von sich zu geben, sobald sich eine Gelegenheit dazu finde.

Gad war stumm wie ein Fisch, und Ellen ließ sich gar nicht sehen. Der Sonderling hatte es noch nicht gewagt, ihr ein Wort von seiner Neigung zu sagen. Er hätte sich wohl eher ein Leid angetan, als sein Herz vor dem geliebten Mädchen auszuschütten. Norcroß aber hielt es nicht für gut, seinen Fürsprecher und Freiwerber zu machen, und so schied denn der Ängstliche mit blutendem Herzen. Für Norcroß, Gad und zwei der Offiziere hatte ihnen der Edelmann Pferde und seinen ältesten Sohn nebst zwei Knechten zur Begleitung mitgegeben. Die andern gingen zu Fuß. So kamen sie nach Tisted. Dort verließ sie ihr Begleiter, und Norcroß versammelte seine Leute um sich, um ihnen zu sagen, dass jeder auf eigene Faust nach Schweden zu entkommen versuchen müsse, und zwar soviel wie möglich getrennt, weil das Beisammensein verdächtig sei.

Von seiner Kasse teilte er unter sie, soviel er entbehren zu können meinte, und bestimmte Stockholm zu ihrem Treffpunkt. Mit schmerzlichem Gefühl nahm der Kapitän von ihnen Abschied. Sie zerstreuten sich, und er ritt mit Gad und zwei jüngeren Offizieren nach Aalborg. So sehr auch Juel bat, der Kapitän möchte ihn mit sich nehmen, so schlug ihm Norcroß doch die Bitte ab und vertraute den Jungen vielmehr der väterlichen Vorsorge Meister Pehrsons. Dort gaben sie die Pferde zurück und gingen zu Fuß nach Aarhuus. Hier mussten sie übernachten. Sie traten in eine schlechte Herberge und wollten mit der Frühe des Tages aufbrechen, um sich nach Kallundborg übersetzen zu lassen. Als sie sich erhoben hatten, war der Kapitänlieutenant verschwunden. Er war schon Tags vorher wie tiefsinnig gewesen. Vergebens fragte man nach ihm. Die Tür war nicht verschlossen gewesen und er wahrscheinlich in der Nacht schon entwichen.

»Wohl ihm!«, sagte Norcroß. »Er wird Jütland nicht mehr verlassen können. Er wird zu unserem guten Wirt zurückkehren, reumütig die große Sünde bekennen, dass er des Freibeuters Norcroß Offizier gewesen ist und durch Ellens sanfte Augen Verzeihung erhalten. Dann wird er, wie weiland der Erzvater Jakob, sieben Jahre um Ellen als Knecht dienen, sie heiraten und sich wohler hinter dem Pflug als hinter dem Steuer befinden. Das Rauschen der Kornähren wird ihm besser bekommen als das Rauschen der Segel, sodass wir ihm wohl noch einmal als wohlgenährten jütländischen Edelmann seinen Überfluss abnehmen können … Und am Ende hat er recht!«, setzte er für sich hinzu. »Ich wollte, ich hätte auch so zu tun vermocht! Ich wollte, ich vermöchte es noch! Aber zwei Seelen wohnen in meiner Brust, in ewigem Widerstreit miteinander begriffen.«