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Gold – Kapitel 8.2

Gold-Band-1Friedrich Gerstäcker
Gold
Ein kalifornisches Lebensbild aus dem Jahre 1849
Kapitel 8 Teil 2
Eine Vogelperspektive

Und wie das Menschenleben dort wogt und schafft.

Auf der Halbbay, die durch den sichelförmigen Uferboden San Franciscos gebildet wird, der sie mit den beiden Armen Clarks und Rincons Point umfasst, liegen Massen dieser kleinen Fahrzeuge, teils längsseits der dort ankernden Schiffe selber, von diesen ihre Ladung zu bekommen, teils durch Boote und Lichterkähne mit dem Land in Verbindung gesetzt, ihre Fracht für die Minen so schnell wie möglich einzunehmen. Und schnell geht es in der Tat, denn die Arbeiter bekommen ihr Tagewerk allerdings enorm bezahlt, aber sie leisten auch etwas dafür. Nicht der festländische Schlendrian, der dem lieben Gott die Tage stiehlt und mit schlechtem Feuerschwamm und schwer schließenden Schnupftabaksdosen die Stunden hinzubringen sucht, findet sich hier. Einer greift dem anderen rasch in die Hand, und die tief geladenen Boote zischen mit schäumenden Bugen, von zum Zerspringen gebogenen Rudern getrieben, durch die Flut.

Das lebt und atmet ordentlich von weißgespannten Segeln, die sich dem nördlichen Arm der Bay entgegenblähen. Schoner und kleine Briggs, die flach genug im Wasser gehen, die Sacramento Barre passieren zu können, und zahllose offene, flache und Kielboote, mit einem Schwarm von Minenlustigen besetzt. Links hinein liegt der Arm, der sich dem »goldenen Tor« der See entgegenstreckt, und dort, wo sie hereingekommen, sehen sie wieder fünf, sechs verschiedene Schiffe im Ansegeln begriffen – alle mit Goldwäschern, alle mit Konkurrenten beladen. Aber die wollen ebenfalls in den Minen graben, und um so mehr müssen sie eilen, die paar Tage Vorsprung, die ihnen geworden sind, zu benutzen. Gingen ihnen doch schon so viele Tausende voran, dass sie nicht einmal wissen, ob sie noch Platz dort oben finden.

Jetzt sind sie an jenem Arm, vom Wind und von hartem Rudern unterstützt, vorbeigekommen, und haben nun den Vorteil der Flut, die südlich zu dem Arm, an dem San Francisco und weiter unten San José liegt, und östlich in die Carquinez Bay, in welche der Sacramento und San Joaquin mündet, ihre Wasser wälzt.

Wie wunderbar die neue Welt hier rings um sie ausgebreitet liegt: rechts die kahlen, nur mit dürftigem Gras bewachsenen Berge, an denen zahlreiche Herden weiden, und links mehr baumbesetzte Ufer mit einzelnen gar so freundlichen und bewaldeten Buchten und Einschnitten, die dem Verkehr noch nicht geöffnet, noch nicht von der einströmenden Bevölkerung überflutet sind. Was sollen die Leute auch dort? Dort liegt kein Gold. Und doch wendet sich der Blick auch gern wieder einmal zu den grünen Waldesschatten da drüben, denn sie geben gewissermaßen die Versicherung, dass nicht ganz Kalifornien eine so öde, trostlose Wüste ist, wie eben nur die Küstenberge.

Aber Naturschönheiten sind hier nicht lange imstande, den Schauenden zu fesseln. Was ist das da oben rechts, auf der hohen bergartigen Uferkuppe, die den Horizont bis dort hinauf geschoben hat? Dort wird plötzlich eine Gestalt sichtbar, die wie eine Erscheinung in den Lüften hängt: ein einzelner Reiter, klein und zierlich in der Entfernung, wie aus Elfenbein geschnitten, und die Konturen, die zarten Beine des Pferdes, der schöne, emporgeworfene Kopf, der wallende Poncho um des Mannes Schultern, doch haarscharf gegen den dahinter liegenden blauen Himmel abgeprägt.

Es ist ein Kalifornier, vielleicht seit Monden zum ersten Mal wieder aus dem Landesinneren an die Küste gekommen, nach seinem hier wild weidenden Vieh zu sehen, der, als er das letzte Mal hier war, eine öde Wildnis verließ, und dafür nun das neu entdeckte Kalifornien wiederfindet. Erschreckt auch ist er seinem schnaubenden und stampfenden Pferde in die Zügel gefallen, und während dieses unmutig in sein Gebiss schäumt und mit den Vorderfüßen den Rasen wund kratzt, starrt sein Herr, kaum seinen Sinnen trauend, auf das neue, nie geahnte Leben nieder, das sich zu seinen Füßen dehnt und entwickelt.

Aber nicht lange mag der wilde Sohn der Berge solchem Treiben aus weiter Ferne zuzuschauen. Das muss er in der Nähe fassen und begreifen lernen, und sein Pferd herumwerfend, das denen, die von unten zu ihm hinaufschauen, wie in den Boden hinein verschwindet, lässt er dem fröhlich wiehernden Tier die Zügel und schießt mit ihm in halsbrechendem Ritt die weite Bay entlang.

Drüben am linken Ufer, das unter dem grünen Baumwuchs bei der anschwellenden Flut nur noch einen schmalen Streifen durchwaschener Felsen zeigt, spielt eine Schar munterer Seehunde, wälzt sich im warmen Sonnenschein und springt dann plätschernd in die klare, salzige Woge.

Hier und da versucht ein Boot ihnen nahe zu kommen, und die stets bereitgehaltenen Gewehre senden dann und wann den heißen Bleigruß hinüber – aber die Entfernung ist zu groß. Die munteren Tiere sehen neugierig die Kugeln auf das Wasser schlagen und versinken und spielen ruhig weiter, bis etwa ein keckerer Feind ihnen näher rückt. Blitzschnell sind sie dann im Wasser, schauen mit den bärtigen Gesichtern noch einmal wie neckend heraus und tauchen tief aus jeder Gefahr Bereich.

Jetzt verengt sich die Bay und zieht sich zur Straße von Carquinez zusammen, aber es ist gut für die Fahrzeuge, die sie erreicht haben. Die Flut hat ihren höchsten Stand, und während sich das Wasser staut, können sie den Wind noch benutzen, der sie in die dort wieder weiter werdende Bay hineinträgt. Mit der bald rückkehrenden Ebbe wälzt hier eine solche Strömung durch, dass sie die Segelschiffe nicht mehr stemmen können.

Drei Schoner segeln hier nebeneinander durch die Straße, das freiere Wasser wieder zu gewinnen, und siehe, wie ihre Decks vollgehäuft mit Waren sind: mit Mehlsäcken und Pökelfässern, mit Brettern und Planken, bis über die Bulwarks hinaus – und darauf wie hingestreut kauern die Passagiere.

Alle möglichen Bequemlichkeiten wurden ihnen im Haus des Agenten versprochen, als sie ihre Passage teuer genug bezahlten, und nicht einmal ein glatter Platz zum Liegen wird ihnen nun geboten. Kein Schutz gegen den Nachttau, keine Ecke, an der sie ihr kaltes Mahl verzehren könnten.

Aber was tut’s.

»Das ist Kalifornien! Morgen oder übermorgen Sand wir in den Bergen, und dort liegt das Gold!«

Dicht am Ufer hin rudert ein kleines Boot mit vier Riemen, und eine riesige Gestalt, einen Pallasch zwischen den Knien, eine Doppelflinte neben sich, sitzt am Steuer. Auch vorn im Bug des Bootes liegen vier geladene Flinten, und an den Seiten des inneren Bootes sind Ledergriffe angebracht, in denen

Messer und Pistolen zum augenblicklichen Gebrauch stecken.

Die Leute auf dem ihm nächsten Schoner sehen neugierig in das schwerbewaffnete kleine Fahrzeug hinab. Haben kecke Seeräuber das offene Meer verlassen, hier glücklichen, aus den Minen zurückkehrenden Goldsuchern aufzulauern? Es sind unsere biederen Landsleute, die Brandenburger, die, harmlos wie die Kinder, mit einem Zeughaus in die Minen steuern.

Hier erweitert sich die Bay wieder, aber dadurch verliert die breitere Oberfläche derselben keineswegs an Leben. Zwei kleine Städte liegen sich hier einander gegenüber, und der Atlantische Ozean als auch die Adria mussten die Namen dazu geben. New York und Venedig, und ein Spott auf beide. Dort zur Linken Venice – eine Karikatur der alten Dogenstadt, auf kahlem, nacktem gelbem Sand mit hellgrünen Grasflächen dazwischen, im Hintergrund ein kleines Weidendickicht, und bunt zerstreut ein lächerliches Gemisch kleiner viereckiger, weiß zusammengezimmerter Häuser – wahrhaftig eine Schachtel Nürnberger Tand, dort ausgeschüttet und unordentlich wie auf den gelben und grünen Feldern einer Anzahl Lottokarten aufgestellt. Nicht einmal die Kirche mit dem abgebrochenen Kirchturm fehlt dem Ort.

Dort zur Rechten New York – als ob Venice sich abgespiegelt hätte.

Aber das ist alles nur der Beginn. Wie Samenkörner wurden die Häuser hier über den sandigen Boden ausgestreut, und da sie Wurzel gefasst haben, wächst übers Jahr die wirkliche Stadt auch rasch und sicher genug empor.

Ernst und schweigend, mit ihren vierkant gebrassten Rahen, ankern aber dort drei amerikanische Kriegsschiffe. Der scharfe, kecke Bau, die Akkuratesse in jedem Tau, in jeder Spiere, macht sie auf den ersten Blick kenntlich, und die Mannschaft auf diesen wird gut genug bewacht, ein Desertieren unmöglich zu machen.

Fest und eisern liegen sie da, die Zähne weisend, und über die Hängematten hinaus werfen die Matrosen manch sehnsüchtig verlangenden Blick nach jenen, dem Gold entgegen, und an ihnen vorbeischießenden Booten.

Niedere, flache Ufer hier überall, und nur im Hintergrund die grünen Berge. Dort nähern wir uns auch den gar nicht so weit voneinander entfernt liegenden Mündungen der beiden Hauptströme Kaliforniens, von denen der Sacramento vom Norden durch waldiges Talland, der San Joaquin vom Süden durch dichten Binsensumpf die Bay erreicht.

Den Sacramento schließen weiter oben Kiefer- und Gedern-, hier unten Eichenwälder ein, der San Joaquin aber, wie er die Berge verlässt, treibt sich im Zickzack, in unzähligen Krümmungen durch den weiten Sumpf. Schon in großer Ferne sieht man die kleine Zeltstadt Stockton vor sich liegen, aber wie eine Schlange windet sich der schmale Fluss mal rechts, mal links ab, mal einmal gerade darauf zu, und dann ist’s plötzlich, als ob er sich eines Besseren besonnen hätte und lieber wieder in die Berge zurückkehren wolle. Aus diesen scheint er hier in die Binsen gesprungen zu sein, und sich total verlaufen zu haben.

Und wie belebt der Strom ist! Dampfboote begegnen sich oft an Stellen, wo sie in dem schmalen Fahrwasser einander kaum ausweichen können, und Schoner und Kutter versuchen dazwischen hin, mal mit geblähten Segeln, wo ihnen die Biegung günstig ist, mal mit Stangen und Tauen, stromauf zu drängen, oder haben auch gar geankert, die wiederkehrende Flut abzuwarten. Nur die Boote rudern rüstig weiter, und die Leute legen sich schärfer in die Ruder, je mehr Fahrzeuge sie damit überholen können.

Und nun das neugebaute Stockton erst – aber die Familienähnlichkeit mit San Francisco lässt sich nicht verkennen, wenn es auch nur eine jüngere Schwester – eigentlich eine Tochter – ist. Zelte und Bretterbuden, wenn irgend möglich noch leichter aufgebaut als dort, bis unter das leinene Dach hinauf, aber mit Gütern für die Minen vollgestaut.

Und wie das hetzt und tagt und weiter drängt … ja, wer hat Zeit hier, wo er die Berge in einem Tagesmarsch erreichen kann.

Hier aber sehen wir schon die Landpassage beginnen, denn während San Francisco fast allein auf seine Wasserwege angewiesen ist, und ein schwerer Wagen dort zu den Seltenheiten gehört, scheint hier alles darauf berechnet, das, was die Boote bis hierher geführt haben, auf Achse oder Packsattel weiter zu befördern.

Die schweren Überlandwagen der westlichen Farmer, die ihren Weg über die Felsengebirge gesucht haben, sind bis hierher gedrungen, und hoch beladen, mit vier oder auch sechs Ochsen bespannt, kehren sie wieder in die Minen zurück. Zahlreiche Trupps von Maultieren lagern überall, und Mexikaner sprengen durch die Straßen oder arbeiten im Schweiß ihres Angesichts mit Fässern und Säcken, die Lasten ihren Packtieren aufzubürden.

Zug um Zug verlässt so die Stadt – hier eine Karawane von Goldwäschern, die sich gemeinschaftlich einen Wagen für ihr Gepäck und Handwerkszeug genommen haben und nun in Hemdsärmeln singend und lachend nebenher schlendern; dort ein Trupp Maultiertreiber, die bunten Serapen über den Schultern, die Madrina mit der klingenden Glocke um den Hals voran.

Hier keucht ein einzelner Goldwäscher, der nicht Geld genug hatte, selbst für seine wenigen Sachen die Fracht zu zahlen, unter seinem Packen, überdies noch mit Schaufel, Hacke und Gewehr beladen, einsam und allein seine Bahn. Dort sprengen ein paar Reiter, Handelsleute oder Spieler auf schäumenden Ponys die staubige Straße entlang.

Aber nur Männer sieht man, wohin der Blick auch schweift – nur wilde bärtige Männer, raue, in Wald und Wildnis zugehauene Burschen, kein Kind, kein weiblich Wesen, und wo sich ja – gewiss ein seltener Fall – ein buntes langes Kleid zeigt, da kann man sicher darauf rechnen, dass die Trägerin den Verworfensten ihres Geschlechts daheim entlaufen ist.

Das war auch damals noch kein Land für Frauen und Kinder, für die erst eine Heimat gegründet werden musste. Hier galt es nicht allein dem Boden eine Existenz abzuringen, nein auch das eigene Leben zugleich zu schützen und zu wahren, und in die Berge passte keine Frau.

Und in die Berge drängte, trieb das Volk. Wagen reiht sich an Wagen, Trupp schließt an Trupp, und fast erstaunt schauen die eiligen Wanderer hier und da am Weg, wie sich ein Mann die Mühe nimmt, Bäume zu fällen und Bretter anzufahren, aber der Mann hat seinen guten Grund.

Die Amerikaner sind ein praktisches Volk, und wo sie spekulieren, geschieht das ohne alle Fantasie. Ein Amerikaner wird sich nie eine reizende Gegend als Wohnort aussuchen, wenn er nicht seinen ganz besonderen Zweck dazu hat. Er liebt den rauschenden Wald, wenn er seine Stämme zu Brettern und Pfosten benutzen kann. Er freut sich der murmelnden Quelle, wenn sie stark genug läuft, eine Mühle zu treiben – sonst nicht.

Möglich auch wohl, dass die Einzelnen, die hier am Weg sich niederlassen wollten, ihr Glück schon oben in den Minen versucht, aber nicht gefunden hatten. Es ging damals das echte amerikanische Sprichwort dort um, dass jeder erst »den Elefanten sehen musste«. Jedenfalls erkannten diese Leute, welchen Wert für spätere Zeiten frühe Besitznahme passender Stellen ihnen gewähren musste, und das benutzten sie und beuteten es aus.

Es war nicht gesagt, dass der, der sich hier ein Haus baute, irgend gesonnen sei, auch darin zu wohnen. Bewahre! Sobald ihm ein annehmbarer Preis geboten wurde, verließ er es mit dem größten Vergnügen, woanders anzufangen, denn Kalifornien war groß. Aber das Squatter oder pre emption right wollten sie sich sichern, und wie vortrefflich sie dabei spekulierten, bewies die Zukunft.

Nun dunkelte es. Hinter den Küstenbergen sank die Sonne ins Meer, und fast unmittelbar folgte die Nacht der Scheidenden. Wie still und leer die Straße plötzlich wurde.

Die Wagen waren seitab gefahren, etwa noch vorbei Passierenden nicht im Wege zu sein. Das Vieh wurde ausgespannt, mit Glocken versehen, auch wohl gehobbelt1 und in das Gras zum nächsten Bach getrieben, an dem die Leute schon ein Feuer angezündet und Holz zum Nachtgebrauch herbeigeschleppt hatten. Die amerikanischen Maultiertreiber hatten ihre Tiere abgeladen, die Waren in der Mitte aufgetürmt, von den dicken hohen Packsätteln eine Barrikade im Kreis darum gebaut, und backten auf dünner Blechplatte ihr matzenartiges Weizenbrot. Hier und dort funkelte ein rotes, züngelndes Feuer durch die Büsche. Dunkle Schatten bewegten sich darum her und streckten sich endlich neben den glühenden Kohlen auf den Boden nieder.

Die Leute brauchten kein Wirtshaus, weil sie vorher wussten, dass sie unterwegs keines finden würden. Jeder hatte sich mitgebracht, was er auf dem Weg bedurfte: zu essen und eine Decke, hier und da wohl auch ein Zelt. In den Minen wird es ihnen ja doch auch nicht besser geboten.

Die Feuer waren niedergebrannt, und vom Himmel herab funkelten die Sterne auf das schlummernde Land mit all seinen Hoffnungen und Träumen.

Show 1 footnote

  1. Die Pferde hobbeln heißt nach einem deutsch-amerikanischen Ausdruck, ihnen die beiden Vorderbeine so zusammenzubinden, dass sie nur kurze Schritte damit machen und ihren Weideplatz also in der Nacht nicht weit verlassen können.