Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Die Gespenster – Erster Teil – Zehnte Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil
Zehnte Erzählung

Von einigen Hundert Gespenstern, die in einer westpreußischen Kirche ihr höchst wunderbares und dennoch natürliches Wesen trieben

In einem westpreußischen Städtchen lebte vor einigen Jahren eine alte Frau, die anfangs aus Frömmigkeit und nachher vermutlich aus Gewohnheit, nicht allein an jedem Sonntag, sondern auch die Frühmesse jedes Tages besuchte. Da diese im Winter zu einer Tageszeit ihren Anfang nahmen, um welche es noch finster zu sein pflegt, so ging sie dann gewöhnlich mit einer Laterne zur Kirche.

Eines Morgens im Winter wachte sie auf, hörte das gewöhnliche Messglöckchen läuten, zog sich an und ging, mit ihrem Laternchen versehen, ihren gewöhnlichen Gang zur St. Marienkirche. Schon von außen sah sie dieselbe wie gewöhnlich erleuchtet, indessen fand sie doch beim Eintritt in dies Gotteshaus noch alle Bänke und Stühle leer. Auch kam ihr das Licht in der Kirche nur wie eine Dämmerung vor, und sie konnte gar nicht gewahr werden, von wo es eigentlich herkäme, denn auf den Arm- und Kronleuchtern umher steckten nur nicht angezündete Kerzen.

Sie sah nach der Tafel, auf der sonst die Nummern der Lieder angeschrieben waren, die gesungen werden sollten, fand aber auf derselben mancherlei Züge und Charaktere, die ihr unbekannt waren, und mit glänzendem Firnis geschrieben zu sein schienen.

Plötzlich hörte sie in den Kreuzgängen umher ein dumpfes Geräusch. Sie sah auf und erblickte durch die große Halle, die in den hintersten Kreuzgang und zu einem verschlossenen Kirchhof führte, eine Menge weißer Gestalten.

Sie wollte eben aufspringen, um davon zu laufen, als sie sich schnell von diesen rätselhaften Personen umgeben sah. Sie waren teils männlichen, teils weiblichen Geschlechts, Greise, alte Mütterchen, Jünglinge und junge Mädchen, alle totenblass, alle mit eingefallenen Gesichtern. Einige waren bloß in weiße Laken gehüllt, andere leichenartig ausgeschmückt. Die meisten aber trugen eine Kleidung, wie sie in dem Städtchen vor fünfzig oder hundert Jahren Mode gewesen sein mochte. Alle diese Menschengestalten setzten sich auf die freien Bänke und Stühle der Kirche, zogen Gesangbücher aus den Taschen, sahen nach den Liedertafeln und schienen das dort angezeigte Lied in ihren Büchern aufzuschlagen.

Auch auf die Bank, auf der unsere fromme Frau saß, hatten sich einige von den Ankommenden gesetzt, und diese erkannte sie für gewisse zum Teil längst verstorbene Personen, die vor Zeiten ihren Kirchsitz hier gehabt hatten.

Das arme verängstigte Mütterchen versuchte indessen noch einmal, fortzugehen, wurde aber doch von den drohenden Blicken der Gestalten veranlasst, da zu bleiben.

Auf einmal fingen die Lippen der versammelten Gemeine an, sich zu bewegen. Aber die Töne, die sie hervorbrachten, waren nicht ein Gesang, vielmehr ein dumpfes Rauschen, oft mit einem schwachen Heulen, oft mit einem Röcheln, das dem Röcheln eines Sterbenden nicht unähnlich war, untermischt.

Endlich trat eine Gestalt, die sehr viel Ähnlichkeit mit einem der verstorbenen Prediger dieser Kirche hatte, auf die Kanzel. Alles wurde still. Die Gestalt auf der Kanzel bewegte die Augen, die Lippen, die Arme, aber sie gab keinen Ton von sich.

Nach einer halben Viertelstunde verschwand diese, und die anderen Gestalten erhoben sich plötzlich von ihren Stühlen und schwebten, wie vom Wind getragen, in die dumpfen Gewölbe des Kreuzganges zurück.

Auch das Mütterchen schwankte nun, von Angst und Entsetzen kraftlos, zur Kirche hinaus. Es war noch tiefe Nacht, und die Glocke schlug eins! Schaudervoll tönte dieser mitternächtliche Glockenschlag in den Ohren der Erschrockenen, denn nun erst merkte sie, dass sie sich in Absicht der Zeit geirrt habe und, anstatt des Morgens um sechs Uhr, vielmehr in der Gespensterstunde, wo niemals Gottesdienst gehalten wurde, zur Kirche gegangen war.

Die fromme Frau tat unterwegs in der Angst ihres Herzens noch manchen Stoßseufzer wider Teufel und Gespenster, legte sich dann, ganz entkräftet, zu Bett und schlief vor großer Entkräftung, ohne bange Fantasien und Träume, bis zum hellen Tag.

Nun erst, da sie erwachte und das rätselhafte Ereignis der Nacht recht überdachte, nun erst erkannte sie ganz das Schreckliche ihres bestandenen Abenteuers. Sie fastete den ganzen Tag, sang und betete den ganzen Tag, sagte aber keinem Menschen ein Wort von allem, was sie gesehen und gehört hatte.

In der folgenden Nacht erwachte sie wieder, hörte wieder das Messglöckchen läuten, sah zum Fenster hinaus, ob es wohl schon um die Zeit der Frühmette sein mochte und ging, ob es ihr gleich noch nicht so schien, durch einen unwiderstehlichen Trieb, von dem sie selbst keine Gründe anzugeben wusste, wiederum zur Kirche.

Es begegnete ihr daselbst abermals, was ihr die vorige Nacht begegnet war. Sie kam indes auch wieder glücklich nach Hause zurück, legte sich wieder zu Bett und erwachte am nächsten Morgen, jedoch in einer weit größeren Entkräftung.

Sie musste vor Schwäche im Bett bleiben und fühlte eine ununterbrochene Angst, doch machte sie auch nun ihr grauenhaftes Abenteuer noch niemanden bekannt.

Auch in der dritten Nacht begegnete ihr – kleine Veränderungen ausgenommen – alles, was ihr in den vorigen beiden Nächten begegnet war. Und am folgenden Morgen war ihre Entkräftung so stark, dass man ihren Tod befürchten musste.

Arzt und Beichtvater wurden herbeigerufen, und die Kranke erzählte beiden ihre schreckliche Geschichte.

Der Pater erklärte alles durch die Macht des Teufels, der mit Gottes Zulassung auch fromme Seelen zu ängstigen und zu quälen imstande sei, und schlug das Abendmahl, als das einzige Mittel wider diese Anfälle des alten Bösewichts, vor.

Dem Arzt, der, wie gewöhnlich, ein denkender Mann war, genügte diese Erklärungsart nicht. Ob er gleich auf der Stelle keine vernünftigere mit Zuverlässigkeit geltend zu machen imstande war, so gab er doch darum die Hoffnung nicht auf, dies vielleicht bald zu können.

Da er von dem Küster der Marienkirche auf sein Nachfragen die Versicherung erhielt, dass dieses Gotteshaus um Mitternacht nie aufgeschlossen und auch an den drei letzten Tagen des Morgens früh von ihm wohl verschlossen vorgefunden worden sei, so beschloss er, in der nächstfolgenden Nacht mit dem Pater bei der Kranken zu wachen.

Sie wachten; die kranke Frau schlief bis zum Morgen. Doch hatten beide um Mitternacht an ihr bemerkt, dass sie in einen heftigen Schweiß geriet und sich unruhig im Bett umher bewegte.

Kaum schlug sie am Morgen die Augen auf, so fing sie an, laut zu weinen. Ganz ungehalten schalt sie die Anwesenden, dass sie – gegen ihr Versprechen – sie doch wieder in die Kirche hätte gehen lassen.

So lag nun das Wunder, woran der Teufel wahrlich ganz unschuldig war, klar und aufgedeckt vor aller Augen. Schwere Träume, von dickem Blut, schwachen Nerven und lebhafter Einbildungskraft erzeugt, – Träume, aber nicht eine ganze Kirche voller Gespenster, hatten die arme Kranke gequält.

Der Frau wurde durch Aderlass, Blutreinigung und stärkende Arzneien noch auf ein halbes Jahr das Leben erhalten, dann aber starb sie plötzlich in der Nacht; vielleicht an der Angst eines ähnlichen Traumes.