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Die Gespenster – Erster Teil – Neunte Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil
Neunte Erzählung

Von einem verfolgenden Gespenst, durch dessen Tücke eine Furchtsamere wahrscheinlich den Hals gebrochen haben würde

Der im Jahr 1789 verstorbene Kircheninspektor und erster Prediger zu Sandau im Magdeburgischen, Herr Schöneberg, war als denkender Mann dem Aberglauben aller Art feind und wollte, dass auch seine Kinder ohne die gewöhnlichen Vorurteile und Erziehungsfehler aufwachsen, und unter anderen auch sich vor keinem sogenannten Gespenst fürchten sollten. Daher gewöhnte er sie schon in der frühen Kindheit, des Abends eine Zeit lang im Finstern zu bleiben, in der Regel ohne Licht zu Bett zu gehen und aus einsamen, entfernten und graulichen Gegenden des Hauses, im Finstern bald dieses, bald jenes zu holen.

Eines Abends, da absichtlich viel von der wahren Beschaffenheit schwarzer Nachtgespenster und von der Torheit der Furcht vor derselben, in der Kinder Gegenwart erzählt worden war, forderte der Vater seine älteste Tochter – später die Madame Lehnhardt zu Burg, damals ein zwölfjähriges Kind – auf, ohne Licht die nämliche Garnwinde, welche sie nachmittags auf den obersten Boden des Wohnhauses, wo sie niemanden im Weg stand, hatte tragen müssen, wieder herabzuholen. Sie ging unbefangen und ohne Widerrede. Da sie, früh zur Ordnung gewöhnt, noch genau wusste, wo sie die Winde bei Tag hingestellt hatte, so fand sie dieselbe auch auf den ersten Griff im Finstern wieder und trat den Rückweg an. Bisher war ihr der Gedanke an irgendeine Art von Gespenst, welches sie erschrecken könnte, kaum eingefallen. Wenigstens versuchte sie denselben als kindisch und unstatthaft aus ihrer Seele zu verdrängen. Allein, kaum hatte sie von der Treppe des Dachbodens die erste Stufe zurück getan, so hörte sie ganz vernehmlich, dass sie von irgendeinem Etwas verfolgt werde. Es war ihr schon einige Schritte früher so vorgekommen. Damals bemühte sie sich noch, das Gehörte für nichts Wirkliches zu halten und auf die Rechnung ihrer betrügerischen Einbildungskraft zu schreiben. Auf der Treppe aber wollte es ihr nicht mehr damit gelingen.

Sie sah sich einen Augenblick um und erblickte in der Finsternis freilich nichts, aber das verfolgende Unding hörte darum nicht auf, sie rasselnd zu erschrecken und ihr auf den Fuß zu folgen. Ein Kettengerassel war es nicht, aber doch etwas Ähnliches. Das Kind rief ziemlich herzhaft »Wer ist denn da?«, bekam aber keine Antwort. Ihm blieb nichts übrig, als seinen Weg hinab nach den Gegenden des Lichts fortzusetzen. Anfangs geschah dies ziemlich langsam, um dem Polterer nicht die Blöße zu geben, als ob man sich vor ihm fürchte. Allein, da die Zudringlichkeit und Hörbarkeit des noch immer verfolgenden spukhaften Polterers dem Schein nach zunahm, so wurden dem armen Kinde doch endlich die Hacken lang. Mamsell Schöneberg hatte erst die obere Treppe hinter sich. Sie eilte nun, immer noch verfolgt, auch die untere Treppe vom ersten Stockwerk in das Parterre hinab.

»Licht! Licht!«, rief sie. Je näher sie demselben und ihren Eltern kam, um so mehr wuchs ihre Herzhaftigkeit wieder. In der Tat machte ihr die Art, wie sie sich als Kind bei einem so rätselhaften Ereignis nahm, Ehre. Wahrscheinlich wären hundert andere moralische und physische Kinder in ihrer Lage vor Angst, Schrecken und Eilfertigkeit, die Treppe hinabgestürzt und hätten sich Arm und Bein gebrochen.

Endlich erreichte die Verfolgte, mit der Garnwinde in der Hand und etwas weniges außer Atem, das Wohnzimmer. Der Mut einsprechende Entgegenruf »Nun, was gibt’s, was gibt’s, liebes Kind?« brachte sie zum Stehen. Sie sah sich hier im Hellen ziemlich wild um, aber ihr Verfolger, der eben erst noch hinter ihr gerasselt hatte, war verschwunden.

Sie erzählte ihr Abenteuer. Man eilte zur Untersuchung und entdeckte unmittelbar vor der Stubentür schon das rasselnd verfolgende Gespenst – eine getrocknete Bohnenranke mit einigen Schalen voller klappernder Bohnen. Sie hatte unter mehreren anderen auf dem oberen Boden gelegen, um zu trocknen, und war unglücklicherweise dem guten Kind am Rocksaum hängen geblieben. Mamsell Schöneberg, die, in Gegenwart mehrerer, durch einen Versuch auf der nämlichen Treppe und mit der nämlichen Ranke, die Natur des Gespenstes näher untersuchte, ward auf das Vollkommenste überzeugt, dass einzig dieser unbedeutende Zufall, die Veranlassung ihres Schreckens gewesen war und jenes spukhafte Geräusch verursacht hatte.