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Aëlita – Teil 3

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Der Reisegefährte

Losj stand mit der Schulter an den Pfosten des offenen Tores gelehnt. Seine Pfeife war ausgegangen. Hinter dem Tor zog sich bis zum Shdanow-Kai ein weiter öder Platz hin. Auf der anderen Seite des Flusses waren die undeutlichen Umrisse der Bäume auf der Petrowskij-Insel zu sehen. Dahinter verglomm langsam, als könne es nicht erlöschen, ein trauriges Abendrot. Sein Licht tönte die Ränder der langgestreckten Wolken, die gleich Inseln in den grünen Wassern des Himmels schwammen. Und auch über ihnen war der Himmel grün. Einige Sterne waren bereits zu sehen. Es war still auf der alten Erde.

Der Arbeiter Kusmin, der neulich in einem Eimerchen Mennige verrührt hatte, kam und blieb ebenfalls am Tor stehen. Er warf den glimmenden Zigarettenstummel in die Dunkelheit und sagte mit gedämpfter Stimme: »Es ist doch schwer, sich von der Erde zu trennen. Sogar von zu Hause wegzugehen, ist schwer. Auf dem Weg vom Dorf zur Eisenbahn da schaut man sich wohl zehnmal um. Die Hütte ist ja nur mit Stroh gedeckt, aber sie ist das Eigene, der Ort, wo man sich heimisch fühlt. Die Erde verlassen – oje.«

»Das Teewasser kocht«, sagte Chochlow, der andere Arbeiter. »Komm Tee trinken, Kusmin.«

Kusmin seufzte: »Ja, so ist das.« Er begab sich zur Schmiedeesse.

Chochlow – ein mürrischer Mann – und Kusmin setzten sich neben der Esse auf eine Kiste und tranken Tee. Behutsam brachen sie das Brot, rissen das Fleisch von den Gräten des Dörrfisches, kauten bedächtig.

Kusmin schüttelte seinen Bart und sagte halblaut: »Er tut mir leid. Solche Menschen gibt es heute so gut wie gar nicht mehr.«

»Wart’s ab, den brauchst du noch nicht abzuschreiben.«

»Ein Flieger hat mir erzählt: Er ist acht Werst hoch geflogen – im Sommer, musst du wissen –, und da ist ihm schon das Öl im Apparat gefroren. Aber noch höher fliegen? Dort ist nichts als Kälte und Dunkelheit.«
»Und ich sage dir, warte ab – den brauchst du noch nicht abzuschreiben«, wiederholte Chochlow düster.
»Niemand will mit ihm fliegen, keiner glaubt ihm. Der Anschlag hängt schon die zweite Woche vergebens da.«
»Und ich glaube ihm.«
»Du meinst, er kommt hin?«
»Das ist es ja, dass er hinkommt. Was meinst du, wie die in Europa dann zetern werden.«
»Wer wird zetern?«
»Wer zetern wird? Na, und wem wird dann der Mars gehören? Schluck das mal! Sowjetisch wird er sein.«
»Ja, das wäre großartig!«
Kusmin rückte auf seiner Kiste zur Seite. Losj trat herzu, setzte sich und nahm den Krug mit dem dampfenden Tee.

»Chochlow, wollen Sie nicht mit mir fliegen?«
»Nein, Mstislaw Sergejewitsch«, erwiderte Chochlow, »ich will nicht, ich fürchte mich.«
Losj lächelte, trank einen Schluck Tee und blickte von der Seite auf Kusmin. »Und Sie, lieber Freund?«
»Mstislaw Sergejewitsch, ich würde ja mit Freuden wie Ihnen fliegen, aber ich habe eine kranke Frau, und da sind auch die Kinder, wie soll ich sie verlassen?«
»Ja, offenbar werde ich allein fliegen müssen«, sagte Losj, stellte den leeren Krug hin und wischte sich die Lippen mit der Hand ab. »Es findet sich so leicht keiner, der die Erde verlassen möchte.« Er lächelte wieder, schüttelte den Kopf. »Gestern kam ein Fräulein auf die Annonce hin! ›Gut‹, sagte sie, ›ich will mit Ihnen fliegen, ich bin neunzehn Jahre alt, kann singen, tanzen, auf der Gitarre spielen, ich habe keine Lust mehr, auf der Erde zu leben – die Revolution habe ich satt. Brauche ich zur Ausreise ein Visum?‹ Aber als unsere Unterredung zu Ende war, setzte sich das Fräulein hin und fing an zu weinen. ›Sie haben mich betrogen, ich habe damit gerechnet, dass es viel näher sei.‹ Dann erschien ein junger Mann mit schweißigen Händen und Bassstimme. Er sagte: ›Sie halten mich für einen Idioten. Auf den Mars fliegen ist unmöglich. Wie kommen Sie dazu, derartige Anschläge auszuhängen?‹ Mit Mühe habe ich ihn beruhigen können.«
Losj stützte die Ellbogen auf die Knie und blickte in die Glut. Sein Gesicht erschien in diesem Augenblick abgespannt, die Stirn war gerunzelt. Es war zu sehen, dass er sich mit seinem ganzen Wesen von der ständigen Willensanstrengung ausruhte.

Kusmin ging fort, um Tabak zu holen.

Chochlow räusperte sich und sagte: »Mstislaw Sergejewitsch, fürchten Sie sich denn selber nicht?«
Losj wandte ihm die von der Kohlenglut warm gewordenen Augen zu. »Nein, ich fürchte mich nicht. Ich bin überzeugt, dass es mir gelingt, glücklich zu landen. Und wenn die Landung misslingt, wird der Tod blitzschnell und schmerzlos sein. Schrecklich ist etwas anderes. Stellen Sie sich vor, dass meine Berechnungen sich als falsch herausstellen, dass ich nicht in den Anziehungsbereich des Mars gerate und vorbeirase. Die Vorräte an Treibstoff, Sauerstoff und Lebensmitteln reichen für eine lange Zeit. Und dann fliege ich in der Dunkelheit. Vor mir leuchtet ein Stern. In tausend Jahren wird mein erstarrter Leichnam in seine flammenden Ozeane hineinstürzen. Doch diese tausend Jahre und mein in der Dunkelheit fliegender Leichnam! Und die langen Tage, an denen ich noch leben werde – und ich werde lange leben in dieser Schachtel –, es werden lange Tage hoffnungsloser Verzweiflung sein: allein im ganzen Weltall! Schrecklich ist nicht der Tod, aber die Einsamkeit, hoffnungslose Einsamkeit im ewigen Dunkel. Das ist wirklich schrecklich. Ich möchte so ungern allein fliegen.«
Losj kniff vor der Glut die Augen zusammen. Seine Lippen pressten sich eigensinnig aufeinander.

Im Tor des Schuppens erschien Kusmin und rief ihn mit halblauter Stimme: »Mstislaw Sergejewitsch, da kommt jemand.«
»Wer?« Losj erhob sich schnell. »Irgendein Rotarmist fragt nach Ihnen.«
Gleich hinter Kusmin betrat der Mann in der Feldbluse ohne Gürtel, der den Anschlag in der Straße des Morgenrots gelesen hatte, den Schuppen. Er nickte Losj kurz zu, schaute sich nach dem Gerüst um und trat an den Tisch.
»Sie brauchen einen Reisegefährten?«
Losj rückte ihm einen Stuhl hin und setzte sich gegenüber. »Ja, ich suche einen Reisegefährten. Ich will auf den Mars fliegen.«
»Das weiß ich, es steht in der Annonce. Ich habe mir diesen Stern neulich zeigen lassen. Es ist natürlich weit. Ich möchte wissen, wie die Bedingungen sind: Gehalt, Verpflegung?«
»Haben Sie Familie?«
»Ich bin verheiratet, Kinder habe ich nicht.«
Er klopfte sachlich mit den Fingernägeln auf den Tisch und schaute voller Neugierde umher. Losj machte ihn in aller Kürze mit den Bedingungen des Fluges bekannt, auch mit dem möglichen Risiko. Er bot ihm an, seine Frau zu versorgen und das Gehalt im Voraus zu zahlen, in Geld und Lebensmitteln. Der Rotarmist nickte dabei zustimmend, hörte aber nur zerstreut zu.
»Wie ist das?«, fragte er, »leben dort Menschen oder Ungeheuer, ist Ihnen das bekannt?«
Losj kratzte sich heftig am Hinterkopf und lachte. »Nach meiner Meinung müssen dort Menschen sein, in der Art wie wir. Wenn wir hinkommen, werden wir es sehen. Die Sache steht nämlich so: Bereits seit mehreren Jahren werden auf den großen Rundfunkstationen in Europa und Amerika unverständliche Signale aufgefangen. Zuerst hat man gedacht, das seien die Auswirkungen von Stürmen in den Magnetfeldern der Erde. Aber die geheimnisvollen Töne haben eine allzu große Ähnlichkeit mit Morsezeichen. Irgendjemand will beharrlich mit uns sprechen. Woher? Auf den Planeten ist einstweilen, außer auf dem Mars, keinerlei Leben festgestellt worden. Die Signale können nur vom Mars kommen. Schauen Sie sich die Karte an. Er ist, wie mit einem Netz, von Kanälen überzogen.« Er zeigte auf die Marskarte, die an der Bretterwand hing. »Augenscheinlich gibt es dort die Möglichkeit, Rundfunkstationen von ungeheurer Leistungsfähigkeit zu errichten. Der Mars will mit der Erde sprechen. Vorläufig können wir auf diese Signale noch nicht antworten. Aber wir fliegen hin auf diesen Ruf. Es ist schwerlich anzunehmen, dass die Radiosender auf dem Mars von Ungeheuern gebaut sein sollten, von Wesen, die uns nicht ähnlich sind. Mars und Erde sind zwei winzige Kugeln, die sich nebeneinander drehen. Für beide gelten dieselben Gesetze. Durch das Weltall treibt ein Leben tragender Staub. Ein und dieselben Sporen lagern sich auf der Erde und auf dem Mars ab, auf den Myriaden sich abkühlen – der Sterne. Überall entsteht Leben, und über das Leben herrschen überall menschenähnliche Wesen. Es gibt kein Tier, das vollkommener wäre als der Mensch.«
»Ich reise mit Ihnen«, sagte der Rotarmist entschlossen. »Wann soll ich mit den Sachen kommen?«
»Morgen. Ich muss Sie mit dem Apparat vertraut machen. Wie heißen Sie?«
»Gussew, Alexej Iwanowitsch.«
»Ihr Beruf?«
Gussew warf Losj einen zerstreuten Blick zu und senkte die Augen auf seine Hand, deren Finger hin und wieder auf den Tisch klopften.
»Ich kann lesen und schreiben«, sagte er, »und verstehe ganz gut mit dem Automobil umzugehen. Bin auch als Beobachter mit dem Aeroplan geflogen. Seit meinem achtzehnten Jahr ist der Krieg mein Beruf – das ist alles, was ich kann. Ich war mehrfach verwundet. Jetzt gehöre ich zur Reserve.« Plötzlich rieb er sich heftig den Scheitel, lachte kurz auf. »Ja, diese sieben Jahre hatten es in sich! Von Rechts wegen hätte ich jetzt ein Regiment kommandieren müssen, aber ich habe so einen unverträglichen Charakter! Sind die Kriegshandlungen eingestellt, kann ich nicht stillsitzen. Es zieht mich hinaus. In mir ist alles vergiftet. Ich lasse mir dann einen dienstlichen Auftrag geben oder laufe einfach so davon.« Er rieb sich den Kopf und lächelte. »Vier Republiken habe ich gegründet – ich kann mich jetzt nicht mal mehr an diese Städte erinnern. Einmal hab ich an dreihundert Burschen zusammengebracht, und wir machten uns auf, Indien zu erobern. Wir wollten uns dorthin durchschlagen. Doch wir verirrten uns in den Bergen, gerieten in einen Schneesturm, unter Lawinen, mussten die Pferde abschlachten. Nur wenige von uns sind zurückgekehrt. Zwei Monate war ich bei Machno, ich wollte mich mal richtig austoben, na ja, aber ich konnte mich nicht mit den Banditen anfreunden … Da bin ich in die Rote Armee gegangen. Die Polen haben wir aus Kiew verjagt – da war ich schon bei Budjonnyj1, in der Reiterei: ›Her mit Warschau!‹ Zum letzten Mal wurde ich verwundet, als wir Perekop nahmen. Danach habe ich bald ein Jahr in allen möglichen Lazaretten herumgelegen. Als ich entlassen war, wusste ich nicht wohin. Da kam mir dieses Mädchen in den Weg – ich heiratete. Ich habe eine gute Frau. Sie tut mir leid, aber ich kann nicht zu Hause bleiben. Zurück ins Dorf kann ich nicht, Vater und Mutter sind gestorben, die Brüder gefallen, der Acker verkommen. In der Stadt habe ich nichts zu tun. Im Augenblick gibt es keinen Krieg, ist auch nicht in Aussicht. Ich bitte Sie, Mstislaw Sergejewitsch, nehmen Sie mich mit. Sie werden mich auf dem Mars brauchen können.«
»Nun, ich freue mich sehr«, sagte Losj und gab ihm die Hand. »Bis morgen!«

Show 1 footnote

  1. Bandenführer in der Ukraine während des Bürgerkrieges 1918/19