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Aëlita – Teil 2

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

In der Werkstatt des Ingenieurs Losj

Skyles betrat den Hof, auf dem Haufen rostigen Eisens und leere Zementfässer herumlagen. Auf Kehrichthaufen, zwischen allerhand Drahtgewirr und zerbrochenen Maschinenteilen wuchs spärliches Gras. Im Hintergrund spiegelte sich das Abendrot in den staubigen Fenstern eines hohen Schuppens, dessen kleine Tür geöffnet war. Auf ihrer Schwelle saß ein Arbeiter und verrührte Mennige in einem Eimerchen. Auf Skyles Frage, ob er den Ingenieur Losj sprechen könnte, wies der Arbeiter mit einer Kopfbewegung ins Innere des Schuppens. Skyles ging hinein.

Der Schuppen war kaum beleuchtet. Über dem Tisch, auf dem eine Menge Zeichnungen und Bücher lagen, hing unter einem, kegelförmigen Blechschirm eine elektrische Birne. In der Tiefe des Schuppens erhob sich ein bis zur Decke reichendes Gerüst. Daneben loderte in einer Schmiedeesse Feuer, das von einem Arbeiter angefacht wurde. Hinter den hochragenden Stangen des Gerüsts blinkte ein metallischer, mit vielen Vernietungen bedeckter sphärischer Körper. Durch die geöffneten Torflügel konnte man die purpurnen Streifen des Abendrots sehen und vom Meer her aufsteigende Wolkenballen.

Der Arbeiter, der das Schmiedefeuer anblies, sagte halblaut: »Mstislaw Sergejewitsch, es kommt jemand zu Ihnen.«

Hinter dem Gerüst trat ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann hervor. Sein dichtes Haar war weiß, das glattrasierte Gesicht jung, mit einem schönen großen Mund und durchdringenden hellen Augen, die einen unverwandten Blick hatten und dem Gesicht vorauszufliegen schienen. Er trug ein schmutziges, auf der Brust offenes Leinenhemd und geflickte Hosen, die mit einem Strick umgürtet waren. In der Hand hielt er eine verschmierte Werkzeichnung. Im Näherkommen versuchte er, das Hemd über der Brust zuzuknöpfen, obwohl ein Knopf gar nicht vorhanden war.

»Kommen Sie auf die Annonce? Wollen Sie mitfliegen?«, fragte er mit einer etwas dumpf klingenden Stimme und setzte sich, nachdem er Skyles einen Stuhl unter der Lampe angeboten hatte, ihm gegenüber an den Tisch, legte die Zeichnung hin und begann sich die Pfeife zu stopfen. Das war der Ingenieur Mstislaw Sergejewitsch Losj.

Die Augen gesenkt, zündete er ein Streichholz an. Das Flämmchen beleuchtete von unten her sein kräftiges Gesicht, zwei Furchen am Mund – Falten des Kummers –, die weiten Nasenflügel und die langen dunklen Wimpern. Skyles war zufrieden mit seiner Musterung. Er erklärte, dass er nicht die Absicht habe, mitzufliegen. Nachdem er die Annonce in der Straße des Morgenrots gelesen habe, fühle er sich jedoch verpflichtet, die Leser seiner Zeitung von einem so außerordentlichen und sensationellen Projekt der interplanetaren Verbindung in Kenntnis zu setzen.

Losj hörte ihm zu, ohne auch nur ein einziges Mal mit den unverwandt blickenden hellen Augen zu blinzeln. »Schade, dass Sie nicht mit mir fliegen wollen, schade!« Er wiegte den Kopf. »Die Menschen scheuen mich wie einen Tollwütigen. In vier Tagen werde ich die Erde verlassen und kann bis heute keinen Gefährten finden.« Er zündete ein neues Streichholz an und stieß eine Rauchwolke aus.

»Was für Unterlagen benötigen Sie?«
»Die wichtigsten Züge Ihrer Biografie.«
»Die braucht niemand zu wissen«, entgegnete Losj, »daran ist nichts Besonderes. Mein Studium habe ich mit den kärglichsten Mitteln finanziert, seit meinem zwölften Jahr stehe ich auf eigenen Füßen. Jugend, Studienjahre, Arbeit, Dienst – nicht ein einziger Zug, der Ihre Leser interessieren könnte, nichts Bemerkenswertes außer …« Losj verzog plötzlich mürrisch das Gesicht, die Falten um den Mund traten scharf hervor. »Nun ja … an dieser Maschine«, er zeigte mit der Pfeife auf das Gerüst, »arbeite ich schon lange. Mit dem Bau habe ich vor zwei Jahren begonnen. Das ist alles!«

»In wie viel Monaten ungefähr gedenken Sie die Strecke zwischen der Erde und dem Mars zurückzulegen?«, fragte Skyles und blickte dabei auf das Ende seines Bleistifts.

»In neun oder zehn Stunden, denke ich, nicht mehr.«

»Aha!«, sagte Skyles darauf, wurde dann rot und fing an, die Kaumuskeln zu bewegen. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden«, fuhr er mit einschmeichelnder Höflichkeit fort, »wenn Sie Vertrauen zu mir hätten und unser Interview ernst nähmen.«
Losj legte die Ellenbogen auf den Tisch und hüllte sich in Rauchwolken, seine Augen funkelten durch den Tabaksrauch hindurch.
»Am 18. August nähert sich der Planet Mars der Erde bis auf vierzig Millionen Kilometer, und diese Entfernung muss ich durchfliegen. Woraus sie sich zusammensetzt? Erstens aus der Höhe der Erdatmosphäre, die fünfundsiebzig Kilometer beträgt. Zweitens aus der Entfernung zwischen den Planeten im luftleeren Raum – vierzig Millionen Kilometer. Drittens aus der Höhe der Marsatmosphäre – sechzig Kilometer. Für meinen Flug sind nur diese hundertfünfunddreißig Kilometer wichtig.« Er erhob sich, steckte die Hände in die Hosentaschen, sein Kopf tauchte im Schatten unter, im Rauch. Beleuchtet waren nur die offene Brust und die behaarten Arme mit den bis zum Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln.
»Gewöhnlich versteht man unter Fliegen den Vogelflug, den Flug eines fallenden Blattes, den Flug eines Aeroplans. Aber das ist kein Flug, sondern ein Segeln in der Luft. Der reine Flug, das ist ein Fallen, wenn ein Körper sich unter der Wirkung einer ihn stoßenden Kraft fortbewegt. Zum Beispiel die Rakete. Im luftleeren Raum, wo es keinen Widerstand gibt, wo nichts den Flug aufhält, wird sich eine Rakete mit immer größer werdender Geschwindigkeit fortbewegen. Offenbar kann ich dort die Geschwindigkeit des Lichts erreichen, wenn sich magnetische Einflüsse nicht störend auswirken. Mein Apparat ist eben nach dem Prinzip der Rakete gebaut. Ich muss in der Atmosphäre der Erde und des Mars hundertfünfunddreißig Kilometer durchfliegen. Mit dem Aufstieg und Abstieg wird das anderthalb Stunden in Anspruch nehmen. Eine Stunde werde ich wohl brauchen, um aus dem Bereich der Anziehungskraft der Erde herauszukommen. Weiter, im luftleeren Raum, kann ich mit beliebiger Geschwindigkeit fliegen. Doch gibt es zwei Gefahrenmomente: Bei einer zu großen Geschwindigkeit können die Blutgefäße platzen, und zweitens, wenn ich mit übermäßiger Schnelligkeit in die Marsatmosphäre hineinfliege, kann der Anprall gegen die Luft so stark sein, als wenn ich in Sand stieße. Im selben Augenblick kann sich der Apparat mit allem, was sich darin befindet, in Gas verwandeln. Im Weltall treiben die Splitter von Planeten, ungeborenen und untergegangenen Welten umher. Sobald sie in eine Luftschicht gelangen, verbrennen sie augenblicklich. Die Luft – das ist ein fast undurchdringlicher Panzer. Obgleich dieser auf der Erde offenbar irgendwann einmal durchbohrt worden ist.«
Losj nahm die Hand aus der Tasche, legte sie auf den Tisch unter die Lampe und presste sie zur Faust zusammen.
»In Sibirien, im ewigen Eis, habe ich Mammute ausgegraben, die in den Erdspalten umgekommen sind. Zwischen ihren Zähnen war Gras, sie hatten geweidet, wo heute ewiges Eis ist. Ich habe von ihrem Fleisch gegessen. Es hat nicht Zeit gehabt zu verwesen. Die Tiere waren innerhalb weniger Tage erfroren und vom Schnee zugeweht. Augenscheinlich ist die Ablenkung der Erdachse in einem einzigen Augenblick geschehen. Die Erde ist mit einem Himmelskörper zusammengestoßen. Vielleicht hatten wir noch einen zweiten Trabanten, der kleiner war als der Mond. Wir haben ihn angezogen, er durchschlug im Fallen die Erdkruste und verrückte dabei die Erdachse. Vielleicht ist gerade bei diesem Aufprall der Kontinent untergegangen, der westlich von Afrika im Atlantischen Ozean lag. Um also der Vernichtung zu entgehen, werde ich gezwungen sein, die Geschwindigkeit bedeutend zu vermindern, wenn ich in die Atmosphäre des Mars stoße. Daher veranschlage ich für den ganzen Flug im luftleeren Raum sechs, sieben Stunden. In einigen Jahren wird eine Reise zum Mars nicht komplizierter sein als ein Flug von Moskau nach New York.«
Losj trat vom Tisch weg und legte einen Hebelschalter um. Unter der Decke entzündeten sich zischend die Bogenlampen. An den Bretterwänden erblickte Skyles Zeichnungen, Diagramme, Karten, Regale mit optischen und Messgeräten, Fliegeranzüge, Konservenvorräte, Pelzkleidung. In einer Ecke des Schuppens stand auf einem Podest ein Teleskop.
Losj und Skyles näherten sich dem Gerüst, das ein metallenes Ei umgab. Nach Augenmaß stellte Skyles fest, dass der eiförmige Apparat nicht weniger als achteinhalb Meter hoch sein und einen Durchmesser von sechs Meter haben musste. Um seine Mitte lief ringsherum ein stählerner Gürtel, der sich wie ein Schirm nach unten, zur Oberfläche des Eies, umlegen ließ. Das war eine Fallschirmbremse, die den Widerstand des Apparats beim Niedergehen in der Atmosphäre vergrößerte. Unterhalb des Fallschirms befanden sich drei Eingangsluken. Der untere Teil des Eies lief in einen engen Hals aus. Diesen umgab eine doppelte runde, in zwei entgegengesetzte Richtungen gedrehte Spirale aus massivem Stahl – der Puffer, der den Aufprall beim Fallen auf die Erde mildern sollte.
Losj begann nun, mit dem Bleistift auf die genietete Umhüllung des Eies klopfend, ins einzelne gehende Erklärungen über das interplanetarische Luftschiff zu geben. Der Apparat war aus weichem, schwerschmelzendem Stahl gebaut und innen sorgfältig durch Rippen und leichte Binder versteift. Das war die äußere Umhüllung. In dieser befand sich eine zweite Hülle, bestehend aus sechs Lagen Gummi, Filz und Leder. Innerhalb dieses zweiten, gepolsterten und gesteppten Eies aus Leder befanden sich die Beobachtungsgeräte und Bewegungsapparate sowie die Sauerstoffbehälter, die Vorrichtungen zur Absorption der Kohlensäure, hohlräumige Kissen zur Aufnahme von Instrumenten und Lebensmitteln. Kurze, mit Prismengläsern versehene Metallröhren, die durch die äußere Umhüllung des Apparats hinausführten, dienten als Ausguck zur Beobachtung.
Der Bewegungsmechanismus befand sich in dem von einer Spirale umwundenen Hals. Dieser war aus einem Metall gegossen, das die Härte von astronomischer Bronze übertraf. Durch die ganze Dicke des Halses waren senkrecht Kanäle gebohrt. Jeder der Kanäle erweiterte sich nach oben und mündete in eine sogenannte Explosionskammer. Jede Explosionskammer enthielt eine an einen gemeinsamen Magnet angeschlossene Zündkerze und eine Zuleitungsröhre. Wie dem Zylinder eines Motors Benzin zugeführt wird, genauso wurden die Explosionskammern mit Ultralyddit gespeist, einem überaus feinen Pulver von ungewöhnlicher Explosionskraft, das in dem Laboratorium des … schen Werkes in Petrograd entdeckt worden war. Die Wirkungskraft des Ultralyddit übertraf alles, was man bisher auf diesem Gebiet kannte. Der Explosionskegel war überaus eng. Damit er mit den Achsen der senkrechten Kanäle zusammenfiel, musste das in die Explosionskammer eintretende Ultralyddit ein Magnetfeld passieren.
Dies war in allgemeinen Zügen das Prinzip des Bewegungsmechanismus, nämlich das einer Rakete. Der Vorrat an Ultralyddit sollte für hundert Stunden reichen. Indem man die Zahl der Explosionen in der Sekunde erhöhte oder herabsetzte, konnte die Geschwindigkeit des Aufstiegs und des Niedergehens reguliert werden. Der untere Teil des Apparats war erheblich schwerer als der obere, daher musste er, wenn er in die Anziehungssphäre eines Planeten geriet, sich ihm stets mit dem Hals zuwenden.
»Mit welchen Mitteln ist der Apparat gebaut worden?«, fragte Skyles.
Losj sah ihn einigermaßen erstaunt an: »Mit den von der Republik gewährten Mitteln.« Losj und Skyles kehrten zum Tisch zurück. Nach einem kurzen Schweigen fragte Skyles unsicher: »Rechnen Sie damit, auf dem Mars lebende Wesen vorzufinden?«
»Das werde ich am Freitag, dem 19. August, morgens, sehen.«
»Ich biete Ihnen zehn Dollar Zeilenhonorar für Ihre Reiseeindrücke. Vorschuss für sechs Feuilletons von je zweihundert Zeilen, den Scheck können Sie in Stockholm einlösen. Einverstanden?«

Losj lachte und nickte. Er war einverstanden.

Skyles setzte sich an die Ecke des Tisches und schrieb den Scheck aus.

»Schade, schade, dass Sie nicht mit mir fliegen wollen. Das ist doch im Grunde genommen so nahe – näher als zum Beispiel zu Fuß nach Stockholm«, sagte Losj und blies den Rauch aus der Pfeife.