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Der Kommandant des Tower 3

Der-Kommandant-des-TowerDer Kommandant des Towers
Historische Erzählung von W. Harrison Ainsworth
Verlag von Christian Ernst Kollmann, Leipzig, 1863
Erstes Buch
Das Testament Heinrichs VIII.
Drittes Kapitel

Von dem Mittel, der Gefahr zu entrinnen, welches Sir Thomas Seymour der Königin vorschlug

In einem Geisteszustand, der fast an Wahnsinn grenzte, kehrte die Königin in ihr Gemach zurück, wo sie eiligst alle ihre Dienerinnen, mit Ausnahme der Lady Herbert, entließ und sich ihrer Verzweiflung hingab.

»Verloren! Unrettbar verloren!«, rief sie angstvollen Tones aus. »Wer wird mich vor seinem Grimm beschirmen? Wohin soll ich fliehen, um mich zu verbergen? Ich werde das Los meiner Vorgängerinnen teilen. Ich werde dasselbe Schafott wie Anna Boleyn und Katharina Howard besteigen. Es gibt keine Rettung, keine. Ich weiß nur zu wohl, dass der König unerbittlich ist. Keine Tränen, keine Bitten werden ihn rühren. Beklage mich, liebe Lady Herbert, beklage mich! Hilf mir, wenn du es vermagst, denn mein Rat ist am Ende.«

»Ich wüsste nur einen, der Eurer Königlichen Hoheit in dieser äußersten Not zu helfen vermöchte«, antwortete Lady Herbert. »Mein Bruder, Sir Thomas Seymour, würde gern sein Leben zu Euren Füßen verhauchen. Er hat sich stets nach einem Anlass gesehnt, Euch seine Ergebenheit zu beweisen.«

»Wo ist Sir Thomas?«, fragte Katharina lebhaft. »Geh, führe ihn sofort hierher! Aber nein, es dürfte für ihn gefährlich sein, sich mir jetzt zu nähern.«

»Gefahr wird nimmer meinen Bruder davon abhalten, seiner Königin zu dienen«, erwiderte Lady Herbert. »Aber ich brauche ihn nicht erst zu holen. Ohne den Befehl Eurer Majestät abzuwarten, habe ich schon einen Pagen abgesandt, der ihn herführen wird.«

»Daran hast du nicht recht getan«, rief Katharina aus. »Ich fühle, dass ich ihn nicht sehen dürfte. Aber an wen sonst kann ich mich wenden? Der Himmel helfe mir in meinem Unglück!«

»Es gibt keinen, wiederhole ich, auf den Eure Majestät sich völlig verlassen kann als Sir Thomas Seymour«, antwortete Lady Herbert. »Ich weiß, er lebt nur, um Euch zu dienen.«

»Wenn dein Bruder mir so ergeben ist, wie du versicherst, Lady Herbert. Und in Wahrheit, ich glaube, es ist der Fall«, sagte die Königin, »so ist das um so mehr ein Grund, ihn nicht mit mir in den Abgrund zu ziehen. Ich will ihn nicht sprechen.«

»Eurer Majestät Zurückweisung kommt zu spät«, versetzte Lady Herbert. »Hier ist er.«

Indem sie diese Worte sprach, wurde der Vorhang, welcher eine Seitentür des Zimmers bedeckte, aufgehoben, und Sir Thomas Seymour stand vor ihnen.

Ohne Frage, der Schönste und am ritterlichsten Aussehende von allen an Heinrichs Hof war der stolze Sir Thomas Seymour, der jüngere Bruder des Earls von Hertford. Von schlanker und stattlicher Gestalt hatte Sir Thomas edle, höchst ausdrucksvolle Züge, wie wir auf seinem Bild von Holbein sehen können. Er hatte die hohe Stirn, die feingeschnittenen Augen und den etwas blassen Teint wie alle Seymours. Aber er war der Schönste eines sehr schönen Geschlechts und übertraf an gewinnender Erscheinung fast seine Schwester, die liebliche Jane Seymour, mit welcher er außerordentlich viel Ähnlichkeit hatte. Seine Züge waren von besonderer Feinheit, allein der lange braune, seidenhaarige Bart, welcher tief über sein Wams hinabfiel, verlieh ihnen einen männlichen Ausdruck. Sir Thomas stand in der Blüte und Vollkraft seines Lebens, seine Haltung war eine imponierende, und dabei verzichtete er keineswegs auf den äußeren Schmuck reicher Gewänder. Er trug ein Wams und Beinkleider von gewürfeltem Purpursamt, darüber einen Mantel, der gleichfalls von purpurfarbigem Samt war, mit venezianischer Goldstickerei und mit Pelzwerk verbrämt. Der Schnitt dieses Mantels gab seinen Schultern eine übertriebene Breite, wie es zu jener Zeit Mode war. Als Waffe trug er einen langen spanischen Stoßdegen, mit schön gearbeitetem Griff und außerdem einen Dolch. Sein Haar war nach damaliger Sitte kurz geschnitten, und sein Haupt mit einer glatten Samtmütze bedeckt, die mit einem Balasrubin und einer hochroten Feder geziert war. Das Barett nahm er jedoch ab, als er hinter dem Vorhang hervortrat.

Als dritter Sohn des Sir John Seymour of Wolf Hall in Wiltshire hatte Sir Thomas mit Auszeichnung in den letzten Kriegen mit Frankreich gedient. 1554 – drei Jahre vor der Zeit dieser Erzählung – war er zum Feldzeugmeister auf Lebenszeit ernannt worden. In hoher Gunst bei dem König und ein Onkel des Thronerben, des Prinzen Edward, hätte er viel Einfluss und Ansehen besessen, wäre er nicht von seinem älteren Bruder, dem Earl von Hertford, ausgestochen worden, der von Heinrich vor allen anderen begünstigt ward. Von ehrgeiziger Natur, kühn und gewissenlos, trachtete jedoch Seymour nach politischer Macht und war entschlossen, dieselbe auf jeden Fall und durch jegliches Mittel zu erlangen. Ein verwegener Verschwörer, fehlte es ihm an hinlänglicher Schlauheit und Kaltblütigkeit, seine geheimen Pläne zu behüten. Seine Leidenschaften waren ungezügelt, sein Hass unverhohlen. Er besaß manche Eigenschaften Catilinas, mit dem er später verglichen wurde. Hochmütig und barsch gegen die, welche unter ihm standen, war er bei dem alten Adel an Heinrichs Hof beliebter als der Earl von Hertford, welcher sich durch Herablassung bei dem Plebs einzuschmeicheln suchte. Ein solcher Mann war Sir Thomas Seymour, welcher damals in der Blüte des Mannesalters und im vollen Glanz seiner edlen äußeren Erscheinung stand.

Als sie ihn erblickte, stand die Königin auf und rief mit fast wahnwitziger Angst: »Ihr seid gekommen, Sir Thomas! Was für Nachrichten bringt Ihr mir? Hat des Königs Zorn sich gelegt? Gibt es irgendeine Hoffnung für mich?«

»Ach, Madame«, erwiderte Seymour, auf sie zueilend. »Es schmerzt mich in tiefster Seele, der Überbringer so böser Nachrichten an Eure Majestät zu sein. Die Wut des Königs ist so groß wie nur je. Er will von Sir John Gage, der jetzt bei ihm ist, kein Wort zu Eurer Verteidigung hören. Eure Feinde haben über Euch gesiegt. Der Haftbefehl gegen Euch ist erlassen – und wenn die Gefahr nicht abgewandt werden kann, wird Eure erhabene Person verhaftet und sofort zum Tower gebracht werden.«

»Dann bin ich ganz verloren«, rief Katharina. »O, Seymour«, fuhr sie mit halb tadelndem Ton fort, »ich hoffte von Euch Hilfe, aber Ihr bietet mir keine.«

»Ich darf Euch kaum solche Hilfe bieten, wie sie allein in meiner Macht steht«, erwiderte Seymour in fast leidenschaftlicher Weise. »Allein die Umstände scheinen dieselbe zu rechtfertigen. Sagt, Ihr wünscht von mir, dass ich es verhindere, und dieser Haftbefehl soll nimmer ausgeführt werden.«

»Aber wie wollt Ihr das verhindern?«, fragte die Königin, ihn anblickend, als wollte sie seine geheimsten Gedanken erforschen.

»Fragt mich danach nicht, Madame«, antwortete Sir Thomas. »Sagt nur, Ihr wollt, dass ich für Euch sterbe, und es soll geschehen.«

Diese Worte wurden mit so entsetzlichem Nachdruck gesprochen, dass Katharina sich unmöglich über die ernste Bedeutung täuschen konnte.

»Das darf nicht sein, Seymour!«, rief sie aus, ihre Hand auf seinen Arm legend. »Ihr brütet über irgendeinem verzweifelten Plan. Ich untersage Euch die Ausführung desselben.«

»Es geschähe nur, um den Arm eines erbarmungslosen Tyrannen zu hemmen, der im Begriff steht, das Blut zu vergießen, welches ihm teurer sein sollte als sein eigenes. Lasst mich hingehen, ich beschwöre Euch, Madame!«

»Nein, ich verbiete es – ich verbiete es auf das Entschiedenste. Wenn der König unbeugsam bleibt, muss ich sterben. Gibt es kein Mittel, sein Herz zu bewegen?«

»Ihr kennt sein steinernes Herz so gut wie ich, Madame«, erwiderte Seymour. »Ihr wisst, dass es jedem Gefühl der Menschlichkeit verschlossen ist. Ich will indessen versuchen, ihn zu rühren, obschon ich fürchte, dass der Erfolg ein ungünstiger ist.«

»Redet nicht für mich zu Eurer eigenen Gefahr, Seymour. Ihr könntet den Zorn des Königs auf Euer eigenes Haupt lenken.«

»Gleichviel«, antwortete Sir Thomas. »Ich unterziehe mich gern jeder Gefahr. Mein Leben fände ein würdiges Ende, wenn ich es, Eurer Majestät nützend, verlöre.«

»O könnte ich nur noch einmal mit dem König reden! Ich würde nicht daran verzweifeln, sein Herz zu bewegen, wie hart dasselbe auch ist!«, sprach Katharina. »Allein er will mich nicht sehen.«

»Er hat die bestimmte Order gegeben, Euch nicht vorzulassen«, antwortete Seymour, »und die Leibwächter und Diener würden um ihr Leben nicht wagen, dem Befehl ungehorsam zu sein. Und doch müsst Ihr ihn sprechen, und zwar sofort. Aber wie? Ha, ich hab’s!«, rief er nach kurzem Besinnen, wie von einer glücklichen Idee erfasst. »Was würdet Ihr sagen, wenn ich den König zu Euch brächte?«

»Dass Ihr ein Wunder vollbracht hättet«, versetzte Katharina. »Aber ich bitte Euch, treibt keinen Scherz mit mir, Seymour.«

»Ich scherze nicht, gnädigste Frau«, antwortete Sir Thomas ernsthaft. »Ich hoffe stark auf einen guten Erfolg. Aber Ihr müsst die List unterstützen. Ich will sofort zu seiner Majestät eilen und ihm berichten, dass der furchtbare Schlag, den Ihr erlitten habt, für Euch zu viel gewesen und Euch dem Tod nahe gebracht hat, dass Ihr seine Verzeihung anfleht, aber, da Ihr nicht mehr zu ihm kommen könntet, ihn demütig anfleht, sich zu Euch zu begeben.«

»Er wird nicht kommen«, seufzte Katharina, von einer schwachen Hoffnung belebt.

»Ich hoffe doch«, sagte Lady Herbert.

»Ich bin überzeugt davon«, fügte Seymour hinzu. »Wenn er erscheint, unterwerft Euch ganz seiner Gnade. Ich überlasse den Rest Eurer Klugheit. Wenn Ihr Briefe von Anna Askew oder Johanna Bocher oder irgendein verbotenes Buch bei Euch habt, so gebt mir dieselben.«

»Hier ist ein Brief von der armen Märtyrerin und ein von ihren Tränen benetztes Gebetbuch«, sagte die Königin und überreichte Seymour beide Gegenstände, die er in seine seidene Gürteltasche steckte. »Hebt sie mir bis zu einem glücklicheren Tag auf oder behaltet sie als Andenken an mich!«

»Sprecht nicht so, gnädige Frau, oder Ihr nehmt mir den Mut, dessen ich jetzt wahrlich bedarf«, antwortete Seymour, seine Knie beugend und die Hand, welche sie ihm hinhielt, ehrerbietig an seine Lippen drückend. »In einer glücklicheren Zeit, wenn all solche Stürme, wie dieser, vorüber sind, darf ich wohl wagen, Euch an den Dienst, den ich Euch zu leisten im Begriff stehe, zu erinnern.«

»Fürchtet nicht, dass ich ihn jemals vergesse«, erwiderte Katharina fast mit Zärtlichkeit. »Geht! Und segne der Himmel Eure Bemühungen.«

Mit einer tiefen Verbeugung und einem Blick treuester Ergebenheit entfernte sich Sir Thomas.

Obschon Katharina sich in Betreff des Gelingens von Seymours schlauem Plan keineswegs so sanguinische Hoffnungen machte, wie jener und seine Schwester zu tun schienen, schickte sie sich nichtsdestoweniger an, die ihr zugeteilte Rolle zu spielen. Ihre übrigen Dienerinnen wurden rasch von Lady Herbert herbeigerufen und in Kenntnis davon gesetzt, dass ihre königliche Herrin gefährlich erkrankt sei. Mit den trauervollsten Gebärden versammelten sich die weinenden Frauen um das Lager, auf welches Katharina sich hingestreckt hatte, und boten ihr alle möglichen Erfrischungen an. Aber sie wies ihre Hilfe zurück und wollte nicht gestatten, dass man zu ihrem Arzt sende, indem sie erklärte, sie wünsche zu sterben. So verging eine volle halbe Stunde – ein Menschenalter schien sie der Königin, welche auf der Folterbank der Erwartung lag.

Zuletzt und gerade als Katharina jede Hoffnung entweichen fühlte, ließ sich draußen ein Geräusch vernehmen.

Und Lady Herbert flüsterte ihr ins Ohr: »Es ist der König! Mein Bruder hat es durchgesetzt.«