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Aëlita – Teil 1

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Der sonderbare Zettel an der Mauer

In der Straße des Morgenrots war eine sonderbare Annonce erschienen. Ein kleines graues Stück Papier, angeschlagen an die abgebröckelte Mauer eines leer stehenden Hauses. Archibald Skyles, Korrespondent einer amerikanischen Zeitung, erblickte im Vorbeigehen vor dieser Anzeige eine, barfüßige junge Frau in sauberem Kattunkleid. Sie bewegte beim Lesen die Lippen. Ihr abgespanntes, liebes Gesicht drückte keine Verwunderung aus, die blauen Augen mit einem Fünkchen von Irrsinn darin blickten gleichgültig. Sie schob eine Strähne ihres welligen Haares hinter das Ohr, hob den Korb mit Gemüse vom Gehsteig hoch und überquerte die Straße.

Die Annonce war wohl wert, aufmerksam gelesen zu werden. Neugierig geworden, las Skyles ihren Inhalt, trat dann näher, fuhr sich mit der Hand über die Augen und las noch einmal.

»Twenty three«, sagte er schließlich, was so viel heißen möchte wie »Der Teufel hole mich samt meinem ganzen Gekröse!«

Auf dem Stück Papier stand: »Ingenieur M.S. Losj fordert diejenigen, die am 18. August mit ihm auf den Planeten Mars fliegen wollen, auf, sich zwecks persönlicher Unterredung abends zwischen sechs und acht Uhr bei ihm einzufinden. Shdanow-Kai Nr. 11, im Hof.«

Das war schlicht und einfach mit einem gewöhnlichen Tintenstift hingeschrieben. Unwillkürlich fasste sich Skyles an den Puls. Er war normal. Er warf einen Blick auf sein Chronometer. Es war zehn Minuten nach vier, der 14. August 19…

In mannhafter Ruhe war Skyles auf alles gefasst in dieser verrückten Stadt. Doch dieser Zettel, mit Nägeln an einer abgebröckelten Mauer befestigt, machte auf ihn den Eindruck von etwas höchst Krankhaftem.

Der Wind blies durch die öde Straße des Morgenrots. Die Fenster der mehrstöckigen Häuser, die unbewohnt schienen, waren teils ausgeschlagen, teils mit Brettern vernagelt – kein einziger Kopf schaute auf die Straße hinaus. Die junge Frau, sie hatte ihren Korb auf den Bürgersteig gestellt, stand auf der anderen Seite der Straße und blickte zu Skyles hinüber. Ihr liebes Gesicht sah ruhig und abgespannt aus.

In Skyles’ Gesicht bewegten sich die Kaumuskeln. Er holte einen alten Briefumschlag aus der Tasche und schrieb sich die Adresse des Ingenieurs auf. Jetzt blieb ein hochgewachsener, breitschultriger Mann vor der Anzeige stehen, er war ohne Mütze, der Kleidung nach ein Soldat. Er trug Wickelgamaschen und eine Feldbluse aus Tuch ohne Gürtel. Da er offenbar nicht wusste, wohin mit seinen Händen, hatte er sie in die Taschen gesteckt. Sein fester Nacken spannte sich, als er zu lesen begann.

»Sieh mal an, der will hoch hinaus – auf den Mars!«, sagte er voller Vergnügen und wandte Skyles ein sorgloses, gebräuntes Gesicht zu. Quer über der Schläfe hatte er eine weiße Schramme. In seinen graubraunen Augen – genau wie bei der Frau – glimmte ein Fünkchen, wie Irrsinn. Skyles hatte dieses Fünkchen in den russischen Augen schon längst bemerkt und darüber sogar in einem Artikel geschrieben: »… Das Fehlen von Bestimmtheit in ihren Augen, die bald spöttisch, bald von wahnwitziger Entschlossenheit dreinblicken, und schließlich ein unverständlicher Ausdruck von Überlegenheit erscheinen dem Europäer überaus krankhaft.«

»Man sollte einfach mit ihm fliegen – und fertig!«, sagte der Soldat wieder mit einem gutmütigen Lächeln und warf gleichzeitig einen schnellen Blick auf Skyles, ihn von Kopf bis Fuß messend.

Plötzlich kniff er die Augen zusammen, das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er blickte aufmerksam zu der barfüßigen Frau hinüber, die noch immer unbeweglich auf der Straße neben ihrem Korb stand. Er nickte ihr mit gehobenem Kinn zu und sagte: »Mascha, was stehst du da?«

Sie blinzelte hastig.

»Du solltest nach Hause gehen.«

Sie trat ein paar Mal auf der Stelle mit ihren kleinen staubigen Füßen, seufzte und senkte den Kopf.

»Nun, nun, geh schon, ich komme gleich.«

Die Frau nahm den Korb hoch und ging davon.

Der Soldat sagte: »Ich bin wegen einer Quetschung und Verwundung zur Reserve entlassen worden. Jetzt laufe ich herum, lese die Anzeigen und langweile mich schrecklich.«

»Haben Sie die Absicht, auf diese Anzeige hin zu dem Ingenieur zu gehen?«, fragte Skyles.
»Unbedingt geh ich zu ihm.«
»Aber das ist doch Unsinn – im luftleeren Raum mindestens 56 Millionen Kilometer zu fliegen.«
»Das ist wahr – weit ist es schon.«
»Entweder ist das alles Schwindel oder – Wahnsinn.«

»Kann alles sein.«
Skyles kniff jetzt ebenfalls die Augen zusammen und musterte den Soldaten, der ihn ausgesprochen spöttisch und mit einem unverständlichen Ausdruck der Überlegenheit anschaute. Skyles schlug die Zornesröte ins Gesicht und er ging in der Richtung zur Newa davon. Er ging mit sicheren, großen Schritten. In den Anlagen setzte er sich auf eine Bank, griff mit der Hand in die Tasche, wo wie bei einem alten Raucher und beschäftigten Mann lose der Tabak lag, stopfte mit einer Bewegung des Daumens die Pfeife, rauchte an und streckte die Beine aus.

Die alten Linden in den Anlagen rauschten. Die Luft war feucht und warm. Auf einem Sandhaufen saß ganz allein, wahrscheinlich schon lange, ein kleiner Junge in einem gepunkteten Hemd und ohne Hosen. Der Wind spielte von Zeit zu Zeit mit seinem hellen weichen Haar. In der Hand hielt er eine Schnur, am anderen Ende der Schnur war eine alte zerzauste Krähe am Fuß angebunden. Sie saß unzufrieden und böse da und blickte, ebenso wie der Knabe, auf Skyles.

Plötzlich, das dauerte nur einen Augenblick, schien es sich wie eine Wolke auf sein Bewusstsein zu legen. Ihm schwindelte. Sah er dies alles vielleicht nur im Traum? … Den Knaben, die Krähe, die leeren Häuser, die verödeten Straßen, die sonderbaren Blicke der Passanten und diese mit Nägeln an einer Mauer befestigte Aufforderung, in den Weltenraum zu fliegen? …

Skyles sog tief den starken Tabakrauch ein. Er faltete den Plan von Petrograd auseinander und suchte, mit dem Pfeifenende darüber fahrend, den Shdanow-Kai.