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Fantomas – Kapitel 12.1

Ein K.o.-Schlag

Das Personal des Royal Palace Hotel war gerade mit dem Abendessen fertig. Größte Lebhaftigkeit herrschte in der rieseigen weiß gekachelten Halle der Dienerschaft vor. Der Ton der Gespräche an den verschiedenen Tischen variierte normalerweise. Die Diener hielten neidisch eine strenge Rangordnung untereinander ein, aber das vorliegende Thema war an diesem Abend bei allen das gleiche – der jüngste sensationelle Raub bei Madame Van den Rosen und der Prinzessin Sonia Danidoff. An einem Tisch, kleiner als der Rest, saß eine Gesellschaft von Angestellten gehobenen Dienstes, untere Führungskräfte oder Abteilungsleiter: Monsieur Louis war hier, der Generaldirektor, Monsieur Muller, Vorsteher des zweiten Stockwerkes, Monsieur Ludovic, Chef der Kammerdiener, Monsieur Maurice, Chef der Lakaien, Monsieur Naud, Hauptkassierer und zu guter Letzt Mademoiselle Jeanne, die junge Kassiererin, deren besondere Pflicht es ist, das Geld und die Wertsachen derjenigen Gäste in die Obhut des Hotels zu nehmen, welche sich von der Verantwortung, ihre Wertgegenstände in den Zimmern aufzubewahren, befreien wollten. Diese kleine und ausgewählte Gesellschaft wurde an diesem Abend durch Monsieur Verbier, ein Mann von etwa vierzig Jahren, ergänzt. Dieser hatte die Niederlassung in Kairo verlassen, welche zum selben Unternehmen wie das Royal Palace Hotel in Paris gehört.

»Ich befürchte, Monsieur Verbier, dass Sie sich ein schlechtes Bild von unserer Einrichtung machen«, sagte Monsieur Muller zu ihm. »Es ist wirklich schade, dass Sie die Kairoer Zweigstelle verlassen haben und gerade in dem Moment gekommen sind, als diese Diebstähle das Royal Palace in Misskredit gebracht haben.«

Henri Verbier lächelte. »Sie müssen nicht zu viel Wert auf meine Meinung legen«, sagte er. »Ich bin zwar seit nunmehr 15 Jahren in der Hotelbranche tätig und habe das eine oder andere Mal, wie man annehmen kann, bereits ähnliche Fälle erlebt, sodass diese mich durchaus nicht mehr überraschen. Aber eine Sache überrascht mich, Monsieur Muller. Und das ist, dass bisher noch kein Hinweis gefunden worden ist. Ich nehme an, dass die Behörde alles getan hat, was getan werden muss, um die Täter zu verfolgen. Der Ruf des Hotels steht auf dem Spiel.«

»Ich gehe davon aus, dass sie nach ihm gesucht haben«, sagte Monsieur Louis mit einem kläglichen Schulterzucken. »Sie haben mich sogar dafür gerügt, die Tür für den Dieb geöffnet haben zu lassen. Glücklicherweise habe ich in Muller einen guten Freund, der aussagte, dass ihm dies auferlegt worden war und er seinem Kollegen dafür die Anweisung gab, da er annahm, dass dem Kellner des zweiten Stockes erlaubt worden war, auszugehen. Darüber wusste ich jedoch nichts.«

»Und woran sollte ich erkennen können, dass der Mann ein Betrüger war?«, protestierte Muller.

»Immerhin«, erwiderte Henri Verbier, »ist es für alle ungemein ärgerlich, wie die Dinge gelaufen sind.«

»Solange man nicht gegen Anweisungen verstößt und somit nicht zum Sündenbock gemacht werden kann, darf man nicht meckern, sagte Monsieur Muller. »Louis und ich taten genau das, was für unsere Aufgabenerfüllung erforderlich ist und keiner kann uns etwas nachsagen. Der Amtsrichter räumte dies vor einer Woche ein.«

»Hat er niemanden verdächtigt?«, fragte Henri Verbier.

»Nein, niemanden«, antwortete Muller.

Monsieur Louis lächelte. »Doch, er hat jemanden verdächtigt, Verbier«, sagte er. »Und das war Ihre charmante Nachbarin hier, Mademoiselle Jeanne.«

Verbier wandte sich der jungen Kassiererin zu.

»Der Amtsrichter versuchte herauszufinden, ob Sie darin verwickelt sein könnten?«

Das Mädchen hatte nur ein paar Worte während des gesamten Abendessens gesprochen, obwohl Henri Verbier mehrere tapfere Versuche unternahm, sie in das allgemeine Gespräch einzubeziehen. Nun protestierte sie lachend.

»Monsieur Louis sagte das nur, um mich zu necken.«

Aber Monsieur Louis ließ sich nicht beirren.

»Ganz und gar nicht, Mademoiselle Jeanne. Ich sagte es, weil es die Wahrheit ist. Der Amtsrichter wollte auf Sie hinaus. Ich sage Ihnen, dass wollte er! Weshalb, Monsieur Verbier, nahm er Sie nach der allgemeinen Gegenüberstellung mehr als eine halbe Stunde ins Kreuzverhör, während er mit Muller und mir in weniger als zehn Minuten fertig war.«

»O Gott, Monsieur Louis, der Amtsrichter ist ein Mann, nicht wahr?«, sagte Henri Verbier galant. »Der Richter kann das Gespräch mit Mademoiselle Jeanne genossen haben, mehr als er eigentlich tun wollte, wenn ich es so andeuten kann, ohne dabei unhöflich zu wirken.«

Bei diesem Geistesblitz gab es seitens des neuen Verwalters ein allgemeines Lachen, und dann setzte Monsieur Louis das Gespräch fort.

»Nun gut, wenn er sie zur Kasse bitten wollte, dann schlug er, um zu arbeiten, einen seltsamen Weg ein, denn er machte sie wütend.«

Hat er das wirklich?, sagte Henri Verbier, zu dem Mädchen gewandt. Warum nahm der Amtsrichter Sie so lange ins Kreuzverhör?

Die junge Kassiererin zuckte mit ihren Schultern.

»Wir haben so oft darüber diskutiert, Monsieur Verbier! Aber ich werden Ihnen die ganze Geschichte erzählen: Am Morgen des Tages, als der Raub begangen wurde, kehrte ich mit dem Geldbeutel inklusive der 120 000 Franc, welche sie mir einige Tage zuvor in meine Obhut gegeben hatte, zur Prinzessin Sonia Danidoff zurück. Konnte ich die Bitte ablehnen, als sie mich danach fragte, es ihr zu bringen? Ich konnte es nicht. Wie sollte ich wissen, dass es ihr noch am selben Abend gestohlen werden würde? Gäste, die ihre Wertsachen bei mir deponieren, erhalten von mir eine Quittung. Wenn sie ihre Wertsachen verlangen, geben sie mir diese Quittung zurück. Alles, was ich tun muss, ist ihren Wünschen nachzukommen, ohne Fragen zu stellen. Ist das nicht so?«

»Aber das war es nicht, was den Amtsrichter verwirrte, nehme ich an«, sagte Henri Verbier. »Sie haben die Aufsicht über all die Kostbarkeiten und halten sich strikt an Ihre Anweisungen.«

»Ja«, redete Monsieur Muller dazwischen. »Jeanne hat Ihnen nur einen Teil der Geschichte erzählt. Nein so was! Nur ein paar Minuten vor dem Raub hat Madame Van den Rosen Mademoiselle Jeanne gefragt, ihre Diamantkette in ihre Obhut zu nehmen. Mademoiselle Jeanne hat dies abgelehnt!«

»Das wirklich Pech für Sie«, sagte Henri Verbier mit einem Lachen zu dem Mädchen. »Und ich verstehe durchaus, dass der Richter dies sehr seltsam fand.«

»Sie sind unfreundlich«, protestierte sie. »Von der Art, wie Sie es ausdrücken, Monsieur Verbier, könnte man wirklich denken, dass ich die Verantwortung über Madame Van den Rosens Schmuck zu nehmen, abgelehnt habe, um die Sache für den Dieb einfacher zu machen, oder um es einfacher zu sagen, dass ich seine Komplizin war.«

»Das ist genau das, was der Richter vermutete«, interpolierte Monsieur Louis.

Das Mädchen nahm keine Notiz von diesem Einwurf, sondern fuhr mit ihrer Rechtfertigung an Henri Verbier fort.

»Was geschah, ist Folgendes: Die Regel besteht darin, dass ich in der Zeit von neun Uhr vormittags bis neun Uhr abends den Hotelgästen zur Verfügung stehe, um ihre Wertgegenstände in Obhut zu nehmen oder sie dem Eigentümer zurückzugeben. Danach ist meine Dienstzeit vorüber. Alles, was ich noch machen muss, ist, den Safe zu verschließen und zu gehen. Bis um neun Uhr am nächsten Morgen habe ich frei. Sie wissen sicherlich, dass man sich in einer Position wie meine keinerlei Freiheiten herausnehmen kann. Als am Tag des Raubes Madame Van den Rosen mit ihrer Diamanthalskette um halb zehn zu mir kam, war ich vollkommen im Recht, die Hinterlegung des Schmuckes im Safe zu verweigern.«

»Das ist gewiss richtig«, sagte Monsieur Muller, nachdem er seinen Nachtisch beendet hatte und einen Kaffee schlürfte, in welchem er so viel Zucker rieseln ließ, bis dieser so dick wie Sirup war. »Aber Sie waren unhöflich, meine liebe junge Dame. Das war es, was dem Richter unangenehm auffiel. Es wäre für Sie wirklich keine große Mühe gewesen, Madame Van der Rosens Halskette in Verwahrung zu nehmen.«

Nein, das wäre es nicht, hielt das Mädchen dagegen. Wenn es eine Regel gibt, so scheint es mir, dass diese auch befolgt werden sollte. Meine Dienstzeit ist um neun Uhr zu Ende und es ist mir nicht gestattet, Wertgegenstände außerhalb der festgelegten Zeit entgegenzunehmen und diese im Safe zu deponieren. Das ist es, warum ich das Ersuchen der Dame abgelehnt habe. Ich habe vollkommen richtig gehandelt und würde es in einer solchen Situation auch wieder tun.«

Henri Verbier war offensichtlich bestrebt, die junge Kassiererin zu beruhigen. Er drückte seine Billigung ihres Verhaltens aus.

»Ich stimme Ihnen zu, dass niemand Auslegungen von Anordnungen infrage stellt. Es war Ihre Aufgabe, Ihren Safe um neun Uhr abends abzuschließen, und Sie haben es auch wirklich so gehandhabt. Keiner kann Ihnen irgendetwas nachsagen. Aber Spaß beiseite, was wollte der Amtsrichter von Ihnen?«

Das Mädchen zuckte mit ihren Schultern als eine Geste von Gleichgültigkeit.

»Sie sehen, dass ich vorhin recht hatte. Monsieur Louis wollte mich bestimmt nur necken, als er sagte, dass der Richter mich schwer ins Kreuzverhör genommen hätte. In Wirklichkeit wurde ich eigentlich nur gefragt, was ich gerade gesagt habe. Als ich diese Erklärung gab, fand man überhaupt keine Schuld meinerseits vorliegen.«

Nachdem sie gesprochen hatte, faltete Mademoiselle Jeanne ihre Serviette sorgfältig zusammen, schob ihren Stuhl zurück und gab ihren beiden Tischnachbarn die Hand.

Gute Nacht!, sagte sie. Ich gehe zu Bett.

Bevor Mademoiselle Jeanne den Raum kaum verlassen hatte, stand Henri Verbier vom Tisch auf und folgte ihrem Beispiel.

Monsieur Louis gab Monsieur Muller einen freundschaftlich gemeinten Stoß in seinen komfortablen Speckbauch.

»Ich wette«, sagte er, »dass unser Freund Verbier beabsichtigt, sich bei Mademoiselle Jeanne lieb Kind zu machen. Nun, ich wünsche ihm Glück! Aber diese junge Dame ist nicht so leicht zu zähmen!«

»Ihnen gelang es nicht«, erwiderte Monsieur Muller unfreundlich. »Aber dies hat nicht zur Folge, dass es niemand es schaffen wird!«