Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Der Kommandant des Tower 1

Der Kommandant des Towers
Historische Erzählung von W. Harrison Ainsworth
Verlag von Christian Ernst Kollmann, Leipzig, 1863
Erstes Buch
Das Testament Heinrichs VIII.
Erstes Kapitel

Wie der allerhöchste und großmächtigste König Heinrich VIII. ernstlich erkrankte und sein Tod nahe bevorstand

Die furchtbare Regierung Heinrichs VIII. näherte sich ihrem Ende. Der Vorhang stand im Begriff, über einem der schrecklichsten Trauerspiele hinabzufallen, die jemals im wirklichen Leben agiert worden sind, über einem Trauerspiel, das die Zuschauer mit Verwunderung und Grausen betrachteten. Die Sonne der königlichen Gewalt, welche alle, die sie angeschienen, mit der Glut ihrer Mittagsstrahlen versengt hatte, versank rasch in ein Meer, das von unheimlichen Flammen erhellt und dunkel von Blut gefärbt war.

Fünfunddreißig Jahre lang konnte unter König Heinrichs tyrannischer Herrschaft kein Mann in England, wie hoch auch sein Rang sein mochte, sein Leben für gesichert halten. Im Gegenteil, je höher sein Rang, desto größer war seine Unsicherheit. Königliche Herkunft, Reichtum, Macht, Popularität vermochten nichts den Herzog von Buckingham vor Heinrichs eifersüchtiger Furcht zu retten. Ganz wahrsagte der sterbende Kardinal Wolsey von seinem furchtbaren und unerbittlichen Gebieter: »Er wird eher den Verlust seines halben Reiches aufs Spiel setzen, als dem kleinsten Teil seines Willens oder seiner Gelüste die Befriedigung versagen. Seht Euch daher wohl vor, was für Gedanken Ihr ihm in den Kopf setzt, denn Ihr werdet sie nie mehr daraus vertreiben.« Heinrich war zum Argwohn geneigt. Und von ihm beargwohnt werden, hieß verurteilt sein, denn er war ebenso unversöhnlich wie misstrauisch. Seine Gunst war gefahrvoll, seine Versprechungen eine arglistige Falle, seine Liebe sicheres Verderben. Habsüchtig wie grausam, und verschwenderisch wie habsüchtig, war seine Gier unersättlich. Er konfiszierte die Besitztümer der Kirche und legte dem Volk unerschwingliche Steuern auf. Es ist am meisten zu verwundern, dass das eiserne Joch, welches er seinen Untertanen auferlegte, von ihnen ertragen wurde. Aber er hatte eben sowohl eine feste Hand als auch einen unbeugsamen Willen. Arglistig und entschlossen entwarf er Gesetze – lediglich, um sie zu verhöhnen und zu brechen. Er entzog sich der Herrschaft des Papstes, um sich selbst zum Oberhaupt der Kirche zu machen. Einige ließ er hinrichten, weil sie die Autorität des Papstes anerkannten. Über andere verhängte er den Tod, weil sie gewisse katholische Lehrsätze leugneten. Um seine unparteiliche Gerechtigkeitsliebe zu beweisen, wurden römische Christen und Lutheraner aneinandergekettet und paarweise zum Scheiterhaufen geführt. In dem einen Augenblick begünstigte er die neuen Lehren, in dem nächsten unterstützte er die alte Religion. So gebrauchte er die sich bekämpfenden Parteien zu seinen eigenen Zwecken und ließ eine jede seine eigene Macht vermehren. Die Zwietracht in der Kirche sagte ihm zu, obwohl er sich den Anschein gab, sie zu tadeln. Seine Ratgeber zitterten bei seinem leisesten Stirnrunzeln und wagten um ihrer Köpfe willen nicht, ihm ehrlichen Rat zu geben. Seine Parlamente waren gefügige Werkzeuge seiner Willkür und bestätigten seine gesetzlosen Dekrete ohne einen Versuch zum Widerstand. Ein erbarmungsloses System religiöser Verfolgung ward ins Werk gesetzt und je nach seinen wechselnden Launen ausgeführt. Unaufhörlich brannten die Flammen des Scheiterhaufens in Smithfield. Das Schafott auf Towerhill dampfte vom Blut der Edelsten und Besten. Die Staatsgefängnisse waren überfüllt. Die Tortur wurde angewandt. Geheime Nachsuchungen waren gestattet. Die Verteidigung war dem Angeklagten verwehrt. Ein Untersuchungsbefehl traf die unglückliche Person, gegen welche er ausgestellt war, oft sicher wie das Henkerbeil.

Die Weisesten, die Edelsten, die Mutigsten, die Besten von Heinrichs Untertanen wurden seiner Rachgier und seinen Launen geopfert. Strenge Rechtschaffenheit vermochte Männer wie Thomas Moore und Fisher ebenso wenig wie langjährige Dienste und blinder Gehorsam Wolsey und Cromwell zu retten. Das Alter gewährte dem achtzigjährigen Lord Darey keinen Schutz, und die Frömmigkeit erhielt den Äbten von Fountains, Rivaux und Gervaux nicht das Leben.

Aber nicht Männer allein starben auf das finstere Geheiß dieses grausamen Tyrannen, der schlimmer als ein orientalischer Despot war, sondern auch Frauen. Frauen von unvergleichlicher Schönheit, die sein Lager geteilt, und die jeglichen Anspruch auf seine Liebe und sein Mitgefühl hatten. Aber Mitleid lag nicht in seiner Natur. Wenn die Liebe verschwunden war, folgten Ekel und Hass. Entsetzlich, ja fast unglaublich, ist die Geschichte seiner sechsmaligen Ehe. Nichts dem Ähnliches lässt sich finden, außer in den Gebilden toller und phantastischer Dichtung. Man glaubt ein Blaubart-Märchen zu lesen, und doch war es leider furchtbare Wirklichkeit. Die makellose und liebevolle Katharina von Aragon musste sich von ihm scheiden lassen, um der lieblichen Anne Boleyn Platz zu machen, die ihrerseits enthauptet ward, um die gefügige Jane Seymour an ihre Stelle treten zu lassen. Letztere lebte nicht lange genug, um ihren launenhaften Gemahl ihrer überdrüssig zu machen. Es folgte ihr Anna von Cleve, deren Mangel an persönlichen Reizen die Annullierung ihrer Ehe und Cromwells Tod verursachte. Dann kam die bezaubernde Catharine Howard, welche wie Anne Boleyn hingemetzelt ward. Und zuletzt Catharine Parr, die nur ihre Klugheit und Vorsicht vor dem Henkerblock rettete, wie sogleich erzählt werden wird. Zweimal ward das eheliche Band gewaltsam gelöst – zweimal ward es durch das Scharfrichterbeil zerhauen. An Vorwänden für seine gewalttätigen Handlungen fehlte es Heinrich nie. Aber die richterlichen Untersuchungen, welche er seinen unglücklichen Gemahlinnen bewilligte, waren ein Hohn auf die Gerechtigkeit. Die Angeklagten waren verurteilt, ehe man sie vernahm. Nur der Wille des Königs ward befragt. Seiner Rache vermochte niemand zu entrinnen.

Als es sich darum handelte, ob das Leben der schönen Jane Seymour oder dasjenige des Kindes, welches sie unter dem Herzen trug, gerettet werden sollte, opferte Heinrich ohne Bedenken die Königin, mit der rohen Bemerkung »er werde leicht eine andere Frau, aber vielleicht kein anderes Kind erhalten.« Doch nicht allein junge und liebliche Frauen hatten unter seiner Grausamkeit zu leiden. Ehrwürdigen Matronen erging es nicht besser. Verrucht war die Art, auf welche die alte und ehrwürdige Gräfin von Salisbury hingeschlachtet wurde.

Ein Verzeichnis von Heinrichs Opfern würde Bücher füllen. Ihre Zahl ist fast unglaublich. Nahezu fünfunddreißig Jahre hatte dieser königliche Blaubart das Land regiert, die Kirche beraubend, seine Untertanen ausplündernd, seinen Edelleuten auf den Nacken tretend, jedes Recht missachtend, seine Gemahlinnen zur Scheidung zwingend oder sie hinrichtend, seine Diener beschimpfend oder enthauptend, und trotz alledem in seiner selbstsüchtigen Verblendung fest überzeugt, dass er einer der weisesten und gnädigsten Könige sei, und sich den Titel anmaßend: Vikar und Oberpriester des Himmels auf Erden.

Aber das Ende dieser unmenschlichen Tyrannei näherte sich. Seit Monaten hatte der grimme Monarch, wie ein kranker Löwe in seiner Höhle, sich in seinem Palast zu Westminster eingeschlossen, und es schien fast gewiss, er werde denselben nicht mehr lebend verlassen. Nichts konnte finsterer als der jetzige Anblick des Hofes sein oder einen größeren Kontrast zu seiner früheren Pracht und Lustigkeit gewähren. Die prunkvollen Aufzüge und Schaugepränge von ehemals waren vorüber. Die verschwenderischen Bankette und an Belsazar mahnenden Festgelage, an denen der König und seine Günstlinge teilgenommen, hatten aufgehört. Man vernahm keine lärmende Ausgelassenheit mehr – in der Tat, das Gelächter war erstorben. Edelleute in glanzvollen Gewändern und schöne stolze Damen erfüllten nicht mehr die Säle. Gesandte und Höflinge wurden nicht mehr beim Könige vorgelassen. Ritterliche Spiele wurden nicht mehr vor den Toren des Palastes abgehalten. Das Ballhaus stand verödet, die Reitbahn verlassen, der König vernachlässigte alle seine früheren Vergnügungen und Beschäftigungen. Musik erscholl nicht drinnen und nicht draußen mehr, denn die leisesten Lebenstöne regten den König fast bis zum Wahnsinn auf. Heinrich verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit Andachtsübungen und beobachtete meist ein mürrisches Schweigen, während dessen er über der Vergangenheit brütete und mit herbem Bedauern nicht an seine Untaten und Grausamkeiten, sondern an verschwundene Freuden dachte.

Der Hof des Königs war indes nicht mehr verändert, als der König selbst. Wenn er in seiner Jugend für einen der schönsten Fürsten Europas galt und zu jener Zeit eine imponierende Persönlichkeit, ein stolzes und majestätisches Benehmen, kurz alles besaß, was der äußeren Erscheinung eines Monarchen entspricht, so war er jetzt eine schwerfällige, formlose, aufgedunsene Masse. Seine außerordentliche Kraft und Gesundheit in früheren Tagen schien ein langes Leben zu verheißen, aber die Verheißung war trügerisch. Ehemals war er gewohnt gewesen, sich sehr viel Bewegung zu machen und an jeglicher Art männlicher Kraftübungen teilzunehmen. In späterer Zeit jedoch vernachlässigte er wegen zunehmender Korpulenz diese heilsamen Gewohnheiten und vermochte dieselben nie wieder zu beginnen, da seine Schwäche ein tatsächliches Hindernis ihrer Fortsetzung abgab. Obschon nicht eigentlich unmäßig, legte sich doch Heinrich im Genuss des Weines nur wenig – im Genuss der Speisen gar keinen Zwang auf. Er aß mit Gier. Hätte selbst sein Leben von der Beobachtung einiger diätetischen Regeln abgehangen, er würde nicht zur Enthaltsamkeit zu bewegen gewesen sein.

Durch Mangel an körperlicher Übung erzeugt und durch rohe Nachgiebigkeit gegen sich selbst genährt, machte seine Krankheit rasche und entsetzliche Fortschritte. Binnen kurzer Zeit war er so beleibt geworden, und seine Gliedmaßen waren so geschwollen, dass er sich fast nicht zu bewegen vermochte. So schwer war sein Gewicht, dass Maschinerie angewandt werden musste, um ihn aufzurichten oder auf einen Stuhl zu setzen. Die Türen wurden verbreitert, um ihm Durchgang zu gewähren. Er vermochte nicht auf seinem Lager zu ruhen, aus Furcht, zu ersticken. Ein tiefes, unheilbares Geschwür am Bein verursachte ihm einen beständigen Schmerz. Schrecklich war es, ihn zu dieser Zeitperiode zu sehen. Schrecklich anzuhören war sein Wut- und Schmerzgeheul, das dem Gebrüll eines wilden Tieres glich. Seine Diener näherten sich ihm mit Widerstreben und Angst, denn die geringste Unachtsamkeit zog furchtbare Flüche und Drohungen auf ihre Häupter herab.

Aber der Löwe, wenn auch krank zum Sterben, war immer noch ein Löwe. Solange ein Lebensfunke in ihm glomm, wollte Heinrich nicht ein Titelchen der Herrschermacht, die er ausgeübt hatte, fahren lassen. Obschon sein Körper eine sieche Masse war, erwiesen seine Geisteskräfte sich so stark wie je. Seine Festigkeit war unerschüttert, sein Wille ungebeugt. Bis zuletzt blieb er sich selbst treu. Unerbittlich war er gewesen, unerbittlich blieb er. Seine Rachgier war unersättlich wie ehedem, während sein Misstrauen schneller und scharfsichtiger erregt wurde als zuvor.

Aber während dieser schmerzensvollen Zeit, die ihm vielleicht als eine Ermahnung zur Reue über seine zahlreichen und entsetzlichen Frevel gesandt war, zeigte er kein Bestreben, sich mit der Menschheit zu versöhnen oder seinen Frieden mit dem Himmel zu schließen. Auch verriet er kein äußeres Zeichen von Reue. Die Pagen und Diener, welche während der langen Stunden der Nacht an den Türen seines Schlafzimmers standen und auf ihrem Posten halb einschliefen, sowie die Wächter an seinem Bett wurden oftmals durch das furchtbare Gestöhne des ruhelosen Königs erschreckt. Aber dieses Gestöhne mochte der Schmerz ihm abringen – es war kein Beweis, dass das Gewissen ihn peinigte. Kein Wort entschlüpfte seinen Lippen, das bezeugt hätte, es werde der Schlaf durch die Gespenster seiner zahllosen Opfer von seinem Lager verscheucht. Was in dieser finsteren und unerforschlichen Brust vorging, vermochte kein Sterblicher zu sagen.