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Die Totenhand – Teil 40

Die-TotenhandDumas-Le Prince
Die Totenhand

Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Zweiter Band
Kapitel 20 – Giovanni Gradenigo

Am nächsten Abend ging Max wie gewöhnlich aus, um auf der Piazza die erfrischende Abendluft einzuatmen.

Valentine wartete wie am Tage vorher zu der Stunde, als die Sonne hinter den Tiroler Alpen verschwinden wollte, an dem Fenster ihres Zimmers auf die Ankunft Giacomos. Dieser erschien auch bald, indem er seine Gondel mit kräftigem Ruderschlag dem Gebäude zu lenkte. Zu der Treppe der Vorhalle gelangt, sprang er auf die erste Stufe, befestigte seine Barke und ging zur Vorhalle hinauf, wo Valentine einige Minuten später zu ihm trat.

»Nun, Giacomo?«, fragte sie.

»Verzeihen Sie, Signora«, sagte er, indem er einen forschenden Blick zum Kanal richtete. »Aber verbergen Sie sich so, dass Sie der lästige Mensch nicht bemerken kann, der dort unten in seiner Gondel ist. Bei dem heiligen Theodor, ich hatte große Lust, ihn die Wahrheit auf dem Boden des Kanals suchen zu lassen.«

»Wer ist es denn, der mich so beobachtet?«, fragte Valentine, »und weshalb soll ich mich verbergen?«

»Santa Madre de Dio! Sie wissen also nicht, dass das in dieser Stadt von jeher so gewesen ist? Es ist die Stunde der nächtlichen Stelldicheins. Sie sind durch die Gnade der Heiligen und des Paradieses jung und schön. Ich bin hier, dort ist meine Gondel, uns gegenüber fließt der Kanal, der zu so vielen abgelegenen und einsamen Plätzchen führt …«

»Giacomo!«

»Verzeihung, Signora! Niemand ehrt mehr, als Ihr demütiger Diener, die gerechte Empfindlichkeit einer Dame. Aber das will ich sagen, dass ich irgendwo eine gewisse Rosina habe, die ich liebe, obgleich ich erkenne, dass sie nur ein geringes Mädchen ist, grob sogar und roh, wenn man will, und dass ich nicht sehr erfreut sein würde, wenn man mir sagte, dass sie zu dieser Stunde gegenüber einer Gondel mit dem Gondoliere gesprochen hätte. Der Gondoliere müsste denn ich selbst gewesen sein! Ach, Signora, das ist, weil man hier in Venedig aus allem Gold macht, und weil es zum Unglück für uns arme Gondolieri unter uns gewisse Kameraden des Teufels gibt, die alles beobachten und es dann den Männern, Vätern, Brüdern oder Liebhabern wiedererzählen, selbst ohne dass diese davon etwas wissen wollen!«

»Und du kennst den Menschen, der mich beobachtet?«

»Gestern, als ich aus meiner Gondel stieg, bemerkte ich ihn dort am Ufer des Kanals, der Vorhalle gegenüber, und als ich dann wieder in meine Gondel zurückkehrte, nachdem ich die Ehre gehabt hatte, mit Ihnen zu sprechen, rief er mich, um sich von mir fahren zu lassen.«

»Wer ist er denn?«, fragte Valentine mit der ganzen Zudringlichkeit der Unschuld.

»Es ist der Sohn des Signore Gradenigo – er heißt Giovanni Gradenigo! Sie werden gewiss schon von dieser Familie sprechen gehört haben, die ebenso durch ihren ungeheuren Reichtum berühmt ist wie durch ihre Neigung zur Ausschweifung, eine Neigung, die bei ihnen erblich zu sein scheint, ein Vermächtnis, welches seit undenklichen Zeiten von den Vätern auf die Söhne übergeht. Ach, es gibt in Venedig sehr wenige Töchter des Volkes, die es wagen würden, den Signore Giovanni Gradenigo dreist anzusehen.«

Valentine erbebte bei diesen Worten unter dem Einfluss eines Gefühles, oder vielmehr eines unbestimmten Gedankens, den sie, hätte sie es auch gewollt, in Worten auszudrücken nicht vermocht haben würde.

Sie verbarg sich in dem Schatten der Vorhalle, während der Gondoliere die Bewegungen des nächtlichen Wanderers an dem Ufer des Kanals beobachtete. Giacomo, der sich, um dies bequemer tun zu können, einige Schritte weit entfernt hatte, kehrte bald wieder zurück.

»Nun, Giacomo?«, fragte sie ihn.

»Sie können sprechen, Signora«, sagte er. »Der Signore Gradenigo hat sich entfernt.«

»Sehr gut! Ich habe dich gestern beauftragt, mir ein Schiff zum Mittelmeer zu mieten.«

»Es ist bereit, Signora!«

»Es kann also unter Segel gehen, sobald wir es wollen?«

»Per baccho!«, rief der Gondoliere. »Sie müssen die Schnelligkeit der Marine des heiligen Marcus noch nicht kennen! Freilich sind die glorreichen Zeiten des Glanzes und der Macht dieser Marine schon weit von uns entfernt, so weit, dass ich selbst davon keine Spur mehr gesehen habe. Aber noch ist uns ein geringes Überbleibsel davon geblieben.«

»Wie heißt das Schiff?«, fragte Valentine. »Die Bonace«, entgegnete der Gondoliere, welcher sich beeilte, hinzuzufügen: »Es ist eine leichte Yacht, welche gewöhnlich Wein lädt und erst ganz kürzlich bei dem Lido auf Rechnung des Signore Gradenigo anlangte, wie ich auf dem Kai sagen hörte.«

»Sehr gut! Jetzt gib wohl acht auf das, was ich dir sagen werde, Giacomo. Wenn du binnen hier und zwei Tagen einen weißen Schleier an dem Fenster siehst, das auf diesen Teil des Kanals hinausgeht, gerade über dem Landungsplatz, so ist dies das Zeichen, dass wir am Tag darauf absegeln wollen. Du musst also dann sehr früh am Morgen mit deiner Gondel hier sein. Wenn du dagegen binnen hier und zwei Tagen die Vorhänge an dem Fenster beständig zugezogen siehst …«

»So ist das ein Zeichen, dass Sie nicht reisen?«

»Du hast es erraten.«

»Der heilige Theodor stehe uns bei, Signora«, murmelte der Gondoliere, indem er das Haupt mit allen Zeichen des klassischen Aberglaubens der Seeleute entblößte.

Valentine gab ihm einige kleine Silbermünzen, verabschiedete ihn dann und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Giacomo seinerseits sprang in seine Gondel, aber in dem Augenblick, als er dieselbe vom Ufer abstoßen wollte, zeigte sich ihm plötzlich das Gesicht eines Menschen, der in einiger Entfernung aus der Dunkelheit hervortrat, und der alles beobachtet zu haben schien, was in der Vorhalle vorgegangen war. Dieser Mensch lief eiligst herbei und sprang ebenfalls in die Gondel.

»Madre de Dio!«, sagte Giacomo, indem er seine Ruder aus dem Wasser zog und sich gegen einen Angriff verteidigen zu wollen schien.

»Nun, was soll das beißen, Giacomo!«, fragte übermutig der Mann, welcher sich auf solche Weise in die Gondel gedrängt hatte.

»Signore Gradenigo?«, stammelte Giacomo und entblößte ehrerbietig den Kopf.

»Du musst wissen, mein Bursche, dass ich dich schlimmer behandeln würde, wie ein Ketzer zur Zeit der Republik behandelt worden ist, wenn du den geringsten Schrei ausstößt, der mich verraten könnte.«

»Aber – sollen Sie das zufällig fürchten?«, fragte Giacomo mit einem leisen Anflug von Bosheit.

»Nein, gewiss nicht! Denn ich bin überzeugt, dass du von der Art und Weise sprechen hörtest, wie ich einen Schuft behandle, der nicht tut, was ich will!«

»O, was das betrifft, so bin ich fest überzeugt, dass man in allen Gefängnissen von Sankt Marcus vergebens nach einem Menschen suchen würde, der es Eurer Exzellenz darin zuvortut.«

»Sehr gut geantwortet, Giacomo!«, erwiderte der Signore Giovanni Gradenigo, indem er ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte. »Du kennst gewiss auch ebenso gut meinen Ruf der Freigebigkeit, wenn ich nach Wunsch bedient werde?«

»Verzeihung, Exzellenz, obgleich nie der entfernteste Vetter von mir auf der Universität Padua studiert hat, besitze ich gewisse logische Kenntnisse, welche mir vorschreiben, an gewissen Dingen zu zweifeln, die ich nicht sehe oder die ich nicht selbst erfahren habe.«

Kaum hatte Giacomo diese Worte beendet, als er eine kleine mit Silbergeld gefüllte Börse zu seinen Füßen niederfallen hörte.

»Schweig, Hund!«, sagte dabei der Signore Giovanni Gradenigo.

»O, jetzt habe ich die Ehre, Sie an Ihrer Sprache zu erkennen«, entgegnete Giacomo, indem er sich bückte, um das Geld aufzuheben.

»Giacomo! Giacomo! Sieh dich vor – denn meine Geduld hat nur sehr enge Grenzen!«

»Das ist es in der Tat, was auch die Mädchen des Rialto sagen, Signore Giovanni Gradenigo.«

»Genug!«

»Ich erwarte Ihre Befehle, Signore!«

»Rudere tüchtig zu!«

Damit wurde die Unterredung für den Augenblick beendet.

Die kräftigen Arme Giacomos, bewaffnet mit dem Ruder, durchschnitten die Wogen, indem sie die Gondel mit raschem Schlag von dem Palast Valentines entfernten.

Sobald Giovanni sich im Freien erblickte, deutete er mit dem Arm auf die Richtung nach dem großen Kanal der Stadt, und sich sorgfältig in seinen Mantel hüllend, setzte er sich auf die Kissen, den Augenblick erwartend, wo er würde sprechen können, ohne fürchten zu müssen, dass unbescheidene Ohren seine Worte hörten.

Als dann die Gondel von allen anderen weit entfernt war, knüpfte Giovanni sein Gespräch mit dem Gondoliere wieder an.

»Giacomo«, sagte er, »die Frau, welche soeben eine Unterredung mit dir hatte, ist weder deine Geliebte noch deine Landsmännin.«

»Sie ist eine Französin.«

»Ich weiß es. Sie ist die Frau eines Franzosen, dessen unbekannter Name keinen Platz in dem Gedächtnis eines Mannes finden kann, der sich Gradenigo nennt! Es gibt tausend verschiedene Fälle«, fuhr er dann fort, »welche diese Frau nötigen konnten, sich zwei Abende nacheinander mit dir zu unterhalten. Der Wahrscheinlichste von allen ist aber irgendeine geheime Liebelei, zu welcher sie deiner Gondel und deines Einverständnisses bedarf. Eine Frau aber, die während der Abwesenheit ihres Mannes zum Zeitvertreib dergleichen kleine Angelegenheiten vorhat, muss sich sehr glücklich schätzen, dass ich sie der Ehre würdige, ich mich ihrer zu erinnern.«

»Ich verstehe vollkommen, was Sie mit dieser Erinnerung sagen wollen«, murmelte Giacomo mit dem Wesen eines gründlichen Kenners.

Der Signore Giovanni Gradenigo fuhr darauf fort: »Wer Böses denkt, dem begegnet Schlimmes. Wenn dies Sprichwort sich bei dem, was sie betrifft, bewahrheitet, desto schlimmer dann für sie. Sie wird dann niemand anzuklagen haben, als sich selbst! Ich denke schon seit langer Zeit an diese Frau!«, sagte er mit dem Wesen der Langeweile. »Ich habe zuweilen von ihr gesprochen, aber ich bedarf einer neuen Nahrung, um das Gespräch über sie wieder anzuknüpfen. Nun, erzähle mir also alles! Das, was sie dir gesagt hat und das, was sie von dir wollte!«

Nachdem Giacomo einige Augenblicke überlegt hatte, sagte er Gradenigo, welche Art von Dienst Valentine von ihm verlangt hatte. Er begleitete seinen Bericht mit mehreren Nebenbemerkungen, welche geeignet waren, die Laune des Signore Gradenigo zu reizen und ihn zu der Begehung einer Torheit anzuspornen, seines überspannten Geistes würdig.

Giovanni Gradenigo zauderte nicht, seinem Vergnügen die Ruhe Valentines aufzuopfern. Dieser unglückliche junge Mann hatte eine abscheuliche Erziehung genossen, noch abscheulicher gemacht durch das Beispiel eines alten und ausschweifenden Vaters, und er kannte in dem gesellschaftlichen Leben nichts an, was sich der Begehung einer Handlung entgegensetzen durfte, der er seinen höllischen Geist und seine Reichtümer widmete.

Nachdem er sich mit dem Gondoliere Giacomo einige Minuten beraten hatte, ließ er sich bei der Piazza an Land setzen, hüllte sich mit Eleganz in seinen Mantel und schritt mit dem geziert leichten Wesen unserer Lions, die am meisten in der Mode sind, seinen Freunden entgegen, welche nach einem sehr alten Gebrauch Venedigs unter den Arkaden des berühmten herzoglichen Palastes lustwandelten, einem Ort, den man noch gegenwärtig in der guten Gesellschaft mit dem Namen des Broglio bezeichnet.

Hier versammelten sich alle Wüstlinge und Stutzer von ganz Venedig, und hier wurden folglich auch das öffentliche und das Privatleben aller Frauen der eleganten Welt erzählt.

Giovanni Gradenigo wurde mit Enthusiasmus begrüßt, und erhielt augenblicklich das Wort, um eine ganz neue, eben erst vorgefallene Geschichte zu erzählen, denn jedermann wusste, dass der Erbe der alten Familie Gradenigo auf elegante Weise den Geist der Abenteuer und der Ausschweifung geerbt hatte, durch welchen sich die meisten Mitglieder seines Geschlechts auszeichneten.

Gradenigo ermangelte nicht, seine Erzählung mit den pikantesten Nebenumständen, den unbestimmtesten, aber auch den tückischsten Anspielungen zu schmücken. Er gewann einen wahnsinnigen Erfolg bei den Tollköpfen, die sein Auditorium bildeten. Es belohnte ihn ein unmäßiges, endloses Gelächter.

»Sie sind in der Tat zu bewundern, und die Schnelligkeit, mit der Sie die Sachen zum Ziele führen, ist staunenswert!«, sagte Max, der ihm ebenfalls zugehört hatte.

»Ja, was wollen Sie? Das ist nun einmal mein Fehler, mein lieber Herr Morel!«, antwortete Gradenigo.

»Das Glück im Spiel oder in der Liebe ist oft in gewissen Familien erblich«, bemerkte ein junger Venezianer.

»Sagten Sie nicht, mio caro Gradenigo«, fragte ein anderer, »dass Sie der Abenteuer unseres schönen Landes überdrüssig sind, und deshalb eine Reise in das Ausland machen wollten?«

»Ich sagte die Wahrheit, und jeder möge sich diesen Entschluss auf seine Weise auslegen. Es ist ein freies Feld für die Vermutungen eröffnet, vollständige und gänzliche Freiheit für jedermann!«, antwortete Gradenigo, indem er laut und anhaltend lachte.

»Und darf man wissen, in welchem Land Ihr letztes Abenteuer sich verwirklichen wird?«, fragte Max.

»Ei, in dem Ihren, denke ich, Herr Morel. Die Schönheiten von Sankt Marcus werden die Güte haben, einige Zeit unberührt zu bleiben. Was Ihre Landsmänninnen betrifft, die sehr hübsch sind«, fuhr er mit spöttischem Lachen fort, indem er sich zu Maximilian Morel wendete, »so haben dieselben die außerordentliche Gefälligkeit, mir einige sehr angenehme Augenblicke zu bieten.«

Max biss sich auf die Lippen und strich sich mit der Hand den Schnurrbart.

»Nach dem, was ich durch meine Studien erfahren habe«, fuhr Gradenigo fort, »scheint es, dass die französischen Damen, welche das Vergnügen haben, oder wenn Sie lieber wollen, das Glück verheiratet zu sein, den Wechsel zum Wahlspruch annehmen! Der Beweis dafür ist, dass es, wie man mir versichert hat, in Paris mehr Modistinnen gibt als in irgendeiner anderen Stadt Europas. Ich billige diesen Wahlspruch sehr und erkläre mich bereit, sie dabei in allem zu unterstützen!«

»Ich wundere mich, Signore Gradenigo«, sagte Max, »dass Sie, da Sie doch bis jetzt den unverzeihlichen Fehler begingen, Ihr Vaterland nicht zu verlassen, sich einbilden, ein so gewandter Moralist bezüglich der Sitten und Gebräuche der Frauen Frankreichs zu sein.«

»Darüber ließe sich viel sagen, Herr Morel«, entgegnete Gradenigo, »aber Sie müssen wissen, dass ich stets geglaubt habe, ich könnte in dieser Beziehung sehr genaue und zuverlässige Kenntnisse erwerben, auch ohne mein Vaterland zu verlassen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, es gäbe hier in Venedig, wie ich gestern das Vergnügen hatte, Ihnen zu erklären, eine Dame, Ihre Landsmännin, welche die Güte so weit treibt, mir beim Mondschein Unterricht in diesen Kenntnissen zu erteilen.«

Kalter Schweiß trat auf die Stirn Maximilians, auf dessen Lippen ein erzwungenes Lächeln zitterte, als wollte er auf den höllischen Chor des höhnischen Gelächters antworten, welches die edlen jungen Venezianer bei dieser Äußerung ihres Genossen anstimmten.

»In dieser Welt ist nichts unmöglich«, fuhr Gradenigo fort. »Wenn Sie nicht so ziemlich mit mir von gleichem Alter wären, so würde ich Ihnen niemals, wahrlich, nimmermehr sagen, dass es hier in Venedig eine gewisse Dame des Auslandes gibt, welche die kurzen Augenblicke der Freiheit, welche ihr Gemahl ihr durch seine Abwesenheit gewährt, auf eine bewundernswürdige Weise zu benutzen versteht, und das zwar mit dem ganzen Zartgefühl des Geschmackes, welches sie charakterisiert. Ein Greis würde sicher solche Worte nicht dulden, deren Ausdruck so sehr den Stempel der Wahrheit trägt, dass selbst ein junger Mann sich zu dem Irrtum hinreißen lassen könnte, ihnen zu widersprechen! Finden Sie das nicht gleich mir, meine Herren?«

Ein allgemeiner Beifallsjubel übertönte die Worte Gradenigos.

»Empfangen Sie auch die Äußerungen meiner Zustimmung«, sagte Morel, indem er sich zum Schein der größten Gleichgültigkeit zwang. »Gestatten Sie mir indes, Ihnen eine kleine Bemerkung zu machen. Wenn der Gemahl der Dame, welche auf eine solche Weise Ihrer Liebe entspricht, ein alter Edelmann oder auch nur ein edler alter Mann ist, so würde er Sie im Fall der Entdeckung zuerst durch seine Diener auspeitschen und dann ermorden lassen. Ist er dagegen ein junger Mann, wie Sie oder wie ich, so würde er in einem solchen Fall über das Schnupftuch und mit nur einer geladenen Pistole von Ihnen Genugtuung verlangen, denn gewiss würde er ein Leben ohne Ehre ebenso wenig für möglich halten wie ich, und wie sicher auch Sie alle, meine Herren. Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit, meine Herren«, rief Max lauter, um das Schweigen wiederherzustellen. »Das ist der Unterschied in dem Charakter der verschiedenen Völkerstämme. Ein Franzose, mag er Bürgermeister oder Plebejer sein, hegt gegen den, welcher ihn beschimpft, einen unvertilgbaren Hass! Er hasst ihn bis zum Tod! Kann er sich an ihm nicht an hellem Tag und auf dem gewöhnlichen Wege rächen, dann ermordet er ihn, glaubt daran gut zu tun und tut dies auch wirklich!«

»Dio!«, sagte Signore Gradenigo mit dem liebenswürdigsten Lächeln von der Welt. »Dio, Signore Morel, wie Sie sich ereifern! Aber Sie müssen wissen, dass für uns Venezianer dergleichen Rücksichten ohne allen Wert sind, denn unsere Sitten isolieren uns in allen Punkten von den Gebräuchen anderer Länder, ebenso wie unsere Stadt von dem Land isoliert ist, das anderen Städten zur Stütze dient! Bei uns ist die Furcht vor dem Tod ganz ohne alle Bedeutung. Aber zugegeben selbst, dass sie von irgendeinem Gewicht sein könnte, würde ich ihr zu trotzen wissen, mein lieber Herr, wäre es auch nur einer bloßen Laune wegen. Ich gehe sogar noch weiter. Sie wissen nicht, welches köstliche Vergnügen ich darüber empfinden würde, aus dieser kleinen Liebesintrige einen öffentlichen Streit zu machen. Der Gemahl der Dame ist, wie ich Ihnen die Versicherung geben kann, ein junger Mann von Ihrem Alter, oder wenigstens davon nicht weit verschieden. Ich sehe also schon, dass ich meinen Freunden, und folglich auch Ihnen – denn ich zähle Sie gern mit dazu – das für Sie ganz neue Schauspiel eines Duells über das Schnupftuch und mit nur einer geladenen Pistole geben könnte.«

Max benutzte einen Augenblick, in welchem das Gespräch eine andere Richtung nahm, und entfernte sich von dem Broglio, um sich zur Guidecca zu begeben, wo Valentine seiner wartete.

»Dein Spaziergang hat länger gedauert als gewöhnlich, mein Freund«, sagte sie, indem sie ihn umarmte.

»Das kommt daher«, entgegnete er trocken, »weil ich eine lange Erzählung Giovanni Gradenigos mit anhörte.«

»Giovanni Gradenigos?«, rief Valentine unwillkürlich.

»Ja!«

Es entstand ein Augenblick des Schweigens.

»Der Gegenstand war außerordentlich interessant, und ich sah mich gezwungen, ihm zu erklären, wie ein Franzose eine Beschimpfung abzumachen wissen würde«, entgegnete Max mit einem finsteren Wesen, sodass dadurch in Valentine eine unbestimmte Angst erweckt wurde.

Wieder entstand eine Pause.

»Ich liebe die Venezianer nicht«, sagte Valentine mit dem Ausdruck des Widerwillens.

»Du hast unrecht! Sie sind sehr liebenswürdig.«

»Ich möchte mich gern von der Langeweile zerstreuen, die sie mir bereiten«, versicherte Valentine unbefangen. »Sage mir doch Max, würdest du mich nicht zu der Insel Monte Christo begleiten? Mir scheint, die Einsamkeit würde mir bei meiner jetzigen Stimmung sehr gut tun.«

»Und der Ball Gradenigos?«

»Ach, was gilt mir ein Ball!«, sagte sie mit jenem natürlichen und unbefangenen Wesen, welches verrät, dass man wirklich fühlt, was man sagt.

»Mir scheint indes, als gäbe es keinen Vorwand zu einer Entschuldigung für die Unhöflichkeit, die du begehen willst, Valentine.«

»Wie! Nicht einmal meine Gesundheit? Indes geschehe es ganz, wie du willst. Verlangst du es, so bleibe ich in Venedig und gehe auf den Ball des Signore Gradenigo.«

»O nein, nein und tausendmal nein!«, rief Max, indem er hastig aufstand. »Nein, du wirst nicht auf den Ball des Grafen Gradenigo gehen! Wir verlassen Venedig! Auch bereitet die Luft, die man hier atmet, mir ein sonderbares, unerklärliches Leiden, eine Beklemmung, die ich bisher noch nie empfunden hatte.«

Indem er sprach, rannen zwei große Tränen langsam über seine Wangen und befeuchteten seinen dichten Schnurrbart. Sein leidenschaftlicher Blick heftete sich auf die sanften Züge Valentines mit jenem Ausdruck, welcher um Verzeihung wegen eines Gedankens zu bitten scheint, der gegen unseren Willen unwillkürlich in uns aufgestiegen ist.

Valentine reichte ihm herzlich die Hand. Er zog sie voll Innigkeit an seine Lippen.

Am nächsten Tage ließ Valentine ihr Fenster offen, um dem Gondoliere das verabredete Zeichen zu geben. Giacomo schien das Signal verstanden zu haben, denn mit Anbruch der Dunkelheit blieb eine Gondel in geringer Entfernung von den Stufen des Palastes halten. In der Gondel waren zwei Männer, welche beide die gewöhnliche Kleidung der Gondoliere trugen.

»Springe an Land und geh, Giacomo«, sagte der eine zu dem anderen.

»Vergessen Sie nicht den Namen der Yacht, noch den Ort, wo sie auf der Reede liegt.«

»Es ist die Yacht Bonace

»Ja, Exzellenz.«

»Hier ist dein versprochener Lohn.«

Giacomo empfing eine mit Gold gefüllte Börse und beeilte sich darauf, an Land zu springen, indem er sagte: »Gute Nacht! Und der heilige Antonius möge Eure Exzellenz in seinen Schutz nehmen!«

Der andere Gondoliere blieb in der Gondel, die er mit dem Ruder bis zu der Tür der Vorhalle brachte.

Währenddessen stieg Valentine, gestützt auf den Arm Maximilians, schweigend die innere Treppe des Palastes herab, und beide schritten darauf durch die Vorhalle bis zu den Stufen, gegen welche das Wasser des Kanals schlug.

»Hier ist unsere Gondel, mein Freund«, sagte Valentine. »Lass uns hineinsteigen, und dann glückliche Reise! Denn wir gehen auf die Reise«, fügte sie lächelnd hinzu. »Lass einmal hören: Angenommen nun, wir machten uns auf den Weg, wir verließen Venedig, würde dir das recht sein?«

»Zwischen dem Gedanken und der Ausführung desselben liegt oft ein Abgrund, mein Herzchen!«, entgegnete Max. »Indes gebe ich die Hypothese zu, um dir gefällig zu sein, und nun also in den Sattel auf das glänzende Ross der launenvollen Fantasie. Ich bin bereit zum Aufbruch.«

»Wohin willst du reisen?«

»Zu der Insel Monte Christo zum Beispiel.«

Indem Max so sprach, stieg er in die Gondel und reichte seine Hand Valentine, um ihr ebenfalls hereinzuhelfen.

In diesem Augenblicke wich der Gondoliere, welcher jetzt erst die Gegenwart Maximilians zu bemerken schien, einen Schritt zurück, erbebte, und blieb stehen, ohne die geringste Bewegung zu machen.

»Du kannst jetzt rudern!«, sagte Max.

»Er scheint deine Worte nicht gehört zu haben!«, bemerkte Valentine.

»Nun, Giacomo, bist du taub?«, rief Max. »Rudere in der Richtung nach dem Lido!«

»Aber sieh doch, wie er zittert!«, sagte Valentine.

Der Gondoliere ergriff das Ruder und machte sich an die Arbeit. Dies geschah aber mit einer Ungeschicklichkeit, von welcher Giacomo bis jetzt noch keinen Beweis gegeben hatte.

War denn dieser Gondoliere auch wirklich Giacomo? Woher dann seine Unruhe? Woher sein Erbeben bei dem Anblick Maximilians? Wozu das Geheimnis, in welches er sich hüllen zu wollen schien?

Alle diese Fragen werden ihre Beantwortung in dem folgenden Kapitel finden.