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Simon de Waal – Todesgracht

Simon-de-Waal-TodesgrachtSimon de Waal – Todesgracht

In einer dunklen, trüben Nacht wird die Leiche eines Obdachlosen aus einer Gracht in Amsterdam gezogen. Der Tote hat die Hose einen Spalt breit offen. Alles ist offensichtlich. Der verwahrloste Mann ist beim Verrichten seines Geschäfts ins Wasser gestürzt und ertrunken. Er muss wohl stark unter dem Einfluss von Alkohol gestanden haben. Alles sieht nach einem tragischen Unfall aus.

Kurze Zeit später finden die Ermittler um Martin Boks heraus, um wen es sich handelt. Der Tote hieß Robert van Klaveren und war vielen Menschen als Stadtstreicher bekannt. Ein offenbar ganz einfacher Fall, den man schnell zu den Akten legen kann.

Doch Martin Boks gibt sich nicht mit der Hypothese zufrieden, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Er ermittelt weiter und fördert Erstaunliches zutage. Der Tote hat offensichtlich nicht getrunken und verfügte zudem über genügend Geld. So hatte er zum Beispiel auch eine Wohnung in einer guten Amsterdamer Gegend, die er ohne Not aufgab. Er tat nach Zeugenaussagen niemandem etwas zuleide und war auch kein Junkie oder Krimineller. Er wollte einfach aussteigen, sein eigenes Leben führen und vor allem allein sein.

Als Boks van Klaverens Namen und Geburtsdatum schließlich in den Computer eingibt, weil dieser einmal wegen eines kleineren Vergehens festgenommen wurde und in den Polizeiakten geführt wird, wie die Polizei ermittelt hat, traut er seinen Augen nicht. Der Mann auf dem Foto in den Daten der Polizeibehörden ist nicht das Opfer aus der Gracht, sondern jemand anderes.

Martin Boks erkennt an dem Foto des Fremden, dass dieser während des Fotografierens aufgebracht gewesen ist. Sein Blick auf dem Foto sagt dem Polizisten, dass er dem Fotografen gern ausgewichen wäre, weil er durch dieses Foto der Polizei einschlägig bekannt werden musste. Das brachte ihn wohl so auf.

Und noch etwas fällt Boks auf. Der Tote könnte sich zwar den Namen eines anderen ausgedacht und ihn benutzt haben, weil er seine Ruhe haben wollte. Aber sich gleichzeitig dasselbe Geburtsdatum auszudenken, das war dann doch wohl nicht möglich. Also muss es einen Zusammenhang zwischen dem toten Stadtstreicher und dem Namen Robert van Klaveren geben.

Die Polizisten forschen weiter nach, um herauszubekommen, ob der Tote einen falschen Namen angegeben hat, oder ob der Mann vom Polizeifoto dessen Namen angab, in Wirklichkeit aber ein ganz anderer Mensch ist. Boks interessieren dabei natürlich vor allem die Fragen, wie die beiden Männer miteinander zusammenhingen und ob der Tod des Stadtstreichers tatsächlich ein Unfall war oder ob dieser einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel, vielleicht sogar einer Tat des Mannes aus dem Polizeicomputer.

Schließlich werden die Ermittlungen in diesem Fall in Gesucht wird…! im Fernsehen dargelegt, um etwas über den Toten und seinen Namen zu erfahren. Die Zuschauer können bei dieser Sendung im Studio anrufen und Zeugenaussagen machen. So erfahren Boks und seine Leute, dass der Tote doch selber Robert van Klaveren ist. Sein Vater hat ihn auf dem Foto erkannt.

Die Obduktion des Ertrunkenen ergibt schließlich, nachdem Boks dabei tatkräftig mitgeholfen hat, dass jemand zwei Halsschlagadern des Stadtstreichers im Schlaf zusammengedrückt hat, was zur Bewusstlosigkeit des Opfers führte. Dann hat der Täter ihn ins Wasser geworfen, wo er deshalb ertrank. Es handelt sich also eindeutig um Mord!

Simon de Waal legt einen interessanten Krimi vor, der zwei Fälle beschreibt, die miteinander zusammenhängen. Dass die Polizei im Fall des offenbar ertrunkenen Stadtstreichers weiter ermittelt, ist nicht nur dem untrüglichen Instinkt von Martin Boks, sondern sicher auch dessen sozialem Engagement zu verdanken, der auch diesen Fall als der Mühe wert erachtet.

Boks ist ein Ermittler, der sehr viel nachdenkt und seine Fälle mit logischer Kombinationsgabe zu lösen scheint, weniger mit technischem Aufwand, wie es bei modernen Kriminalermittlungen immer häufiger der Fall ist. Dieser Polizist kann und will selbst denken und kombinieren und ist deshalb eher in der verlorengegangenen Spezies der großen Detektive anzusiedeln, wie sie die Kriminalliteratur bevölkerten, als es noch keine DNA-Analysen und differenzierte Tatortspurensicherung gab, wie es heute der Fall ist.

Natürlich nutzt auch Martin Boks die Technik, die das moderne Polizeilabor bietet, aber es ist bezeichnend, dass die Lösung der vorliegenden Fälle vor allem auf seiner Analyse und Recherche basiert. Dabei bemüht dieser Ermittler nicht nur die Logik, sondern auch den gesunden Menschenverstand und vor allem das eigene große psychologische Verständnis, das ihn vor allen anderen Fähigkeiten zu einer Koryphäe auf seinem Gebiet macht.

Bei der Komplexität des vorliegenden Kriminalfalles verwundert es ein wenig, dass der Autor nur so wenige Seiten braucht, um die Ermittlungen zu beschreiben. Dennoch gelingt es Simon de Waal, einen spannenden und am Ende doch sehr überraschenden Fall zu schildern, auch ohne sich in langen Erzählungspassagen zu verlieren, in meinen Augen eine große Kunst.

Einzig die detaillierte Beschreibung der Stadt Amsterdam und vieler ihrer Wasser- und Landwege erscheint mir als ein wenig schwierig nachzuvollziehen, wenn man – wie ich – nicht so vertraut mit den geschilderten Örtlichkeiten ist, ein kleines Manko eines ansonsten sehr guten Buches.

Fazit: Der Autor hat mit Todesgracht einen interessanten, komplexen, sozial engagierten Kriminalroman geschaffen, der den Leser fesselt. Insbesondere der Ermittler, Martin Boks, die Hauptfigur der Geschichte, ist sehr intensiv beschrieben. Es handelt sich hier um einen großen Ermittler alten Schlages, ähnlich zum Beispiel den Ermittlern von Agatha Christie, der seine Fälle trotz modernster Technik immer noch vor allem mit Denkvermögen und Kombinationsgabe löst, in der heutigen Zeit eine Rarität.

Der Autor:

Simon de Waal wurde 1961 in Amsterdam geboren. Er ist seit zwanzig Jahren Kommissar bei der Amsterdamer Kriminalpolizei in der Abteilung Schwerverbrechen. Er wurde 1991 bei der Produktion eines Spielfilms als Experte konsultiert und ist heute der erfolgreichste Drehbuchautor der Niederlande. Seine Krimiserie um den Ermittler Martin Boks wurde für das Fernsehen verfilmt, und seine Bücher nominierte man für diverse Literaturpreise.

Quellen:

Bild:

  • Cover des Romans. Mit freundlicher Genehmigung der Piper Verlag GmbH.

(ww)