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Das Geisterflämmchen

Die-Geister-Zweites-BuchChristoph Wilhelm Meißner
Die Geister
Zweiter Band
Berlin 1805, bei Oehmigke jun., überarbeitet 2016

Das Geisterflämmchen

Mutig trabte Theodor vorwärts, um noch vor Abend den Ort seiner Bestimmung zu erreichen. Aber kaum hatte er die Hälfte des Weges im Rücken, so verirrte er sich in den vielerlei Fußstegen, die sich einander durchkreuzten. Es war ihm nicht möglich, so weit sein Blick reichte, irgendeinen sichtbaren Gegenstand um sich her zu entdecken, als die tote, graue Heide, die ihn umgab, dass er endlich ganz ungewiss wurde, welchen Weg er nehmen sollte.

Die Nacht überfiel ihn in dieser Lage. Es war eine von jenen schauerlichen Nächten, wo der Mond nur einen zweideutigen, gedämpften Schimmer durch die dicken, schwarzen Wolken eines trüben Himmels wirft. Dann und wann trat er plötzlich mit vollem Glanz aus seiner Hülle hervor, verbarg sich aber sogleich wieder dahinter, sodass er dem Verirrten nur auf einen Augenblick die weitgedehnte, öde Steppe sichtbarer machte.

Hoffnung und natürliche Herzhaftigkeit trieben ihn noch eine Zeitlang vorwärts. Aber die Finsternis wurde immer dichter, und die Ermattung des Körpers und der Seele überwältigte ihn endlich. Aus Furcht vor Gruben und Löchern wagte er es kaum mehr, sich von der Stelle zu regen, wo er stand.

Verzweiflungsvoll sprang er vom Pferd und warf sich den Boden hin!

Hier lag er eine Weile, als der dumpfe Schlag einer fernen Glocke ihm ins Ohr dröhnte. Er fuhr auf, kehrte sich zu der Richtung hin, wo der Schall herzukommen schien, und ward ein trübes, flimmerndes Licht gewahr. Sogleich fasste er den Zügel seines Pferdes und ging mit behutsamen Schritten darauf zu.

Als er eine Strecke mühsam fortgewandert war, wurde er auf einmal von einem schilfigen Graben aufgehalten, welcher den Ort umgab, wo das Licht herkam. Eben erleuchtete der Mond einen Augenblick lang die Gegend, und er sah ein altes, großes Gebäude vor sich, mit einem Turm an jeder Ecke und einer großen Pforte in der Mitte. Alles zeigte daran deutlich die Verwüstung der Zeit. Das Dach war an vielen Stellen eingefallen, die Simse herabgestürzt, die Mauern wandelbar, die Fenster ausgebrochen. Eine morsche Zugbrücke führte über den Graben in den Schlosshof.

Er ging hinein! Das Licht erschien in dem Fenster des einen Turms, fuhr inwendig durch das ganze Schloss hin und verschwand. Zu gleicher Zeit sank der Mond hinter einer schwarzen Wolke, und die Nacht wurde noch finsterer, als sie vorher gewesen war.

Alles war still wie das Grab! Theodor band unter einem Schuppen sein Ross au, näherte sich dem Haus und ging an der Vorderseite desselben mit langsamen leisen Schritten hin. Er blickte in die unteren Fenster, konnte aber in dem undurchdringlichen Dunkel auch nicht das Geringste erkennen.

Nach einem kurzen Selbstgespräch ging er an das Schlosstor hin, ergriff den mächtigen eisernen Türklopfer, hob ihn empor, bedachte sich nach einmal und tat endlich damit einen lauten Schlag. Der Schlag durchtönte das ganze Gebäude mit dumpfem Widerhall.

Alles schwieg!

Er wiederholte die Schläge noch einmal dreister und lauter. Eine abermalige Pause von Totenstille erfolgte! Er schlug zum dritten Male an. Kein Laut eines lebenden Wesens rührte sich!

Er trat einige Schritte zurück, um achtzugeben, ob er nicht ein Licht irgendwo erblicken würde. Es erschien wieder an dem nämlichen Ort und verschwand ebenso schnell wieder wie das vorige Mal. Ein tiefer, dumpfer Schlag fiel zugleich vom Turm.

Theodors Herz machte eine fürchterliche Pause. Er stand eine Zeitlang bewegungslos, dann trieb ihn der Schreck einige schnelle Schritte zu seinem Pferd zu tun. Allein die Scham hielt ihn wieder zurück. Die Ehre und eine unwiderstehliche Begierde, das Abenteuer zu beenden, trieb ihn wieder zum Schlosstor. Er ermannte sich, fasste festen Mut, zog mit der rechten Hand seinen Degen und hob mit der Linken den Griff der Tür.

Die schwerwichtige Tür knarrte in ihren Angeln und gab mit Mühe nach. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen und schob sie auf. Sie entfuhr seiner Hand, er taumelte hinein – und sogleich schloss sich die Tür mit donnerndem Getöse wieder.

Ein eiskalter Schauer fuhr ihm durch alle Glieder! Er wandte sich um, die Tür zu finden, und es währte lange, ehe seine zitternde Hand sie wieder fassen konnte. Aber mit aller Anstrengung seiner Kräfte vermochte er nicht, sie wieder zu öffnen.

Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen blickte er um sich und sah im Hintergrund auf einem breiten Wendeltreppengang ein blasses, bläuliches Flämmchen, welches einen schauerlichen Schimmer umherwarf.

Theodor raffte sich noch einmal zusammen und tappte darauf zu. Die blaue Flamme wich vor ihm hin. Er kam bis an den Fuß der Treppe, und nach einem Augenblick Überlegung stieg er ganz langsam hinauf. Die Flamme wich  immer vor ihm her, bis er in einen weiten Gang kam. Sie schwebte über denselben hin. Er folgte ihr mit stummem Entsetzen und leisem Tritt, denn der Nachhall seiner eigenen Fußtritte schreckte ihn. Die Flamme führte ihn an den Fuß einer anderen Treppe hin und verschwand hier.

In dem nämlichen Augenblick schlug die Turmglocke wieder!

Theodor fühlte den Schlag durch Mark und Bein. Er war nun in gänzlicher Finsternis und fing an, mit vorgestreckten Armen die zweite Treppe hinauf zu gehen. Eine totenkalte Hand fasste ihn bei der Linken, umklammerte sie fest und zog ihn mit Macht an sich. Er versuchte sich loszuwinden, konnte es aber nicht. Er tat einen wütenden Hieb mit seinem Degen, und plötzlich drang ein lautes Gewimmer in seine Ohren. Die tote Hand blieb kraftlos in der seinen. Er ließ sie fallen und eilte mit verzweifelter Entschlossenheit vorwärts.

Die enge und schneckenförmige Treppe war voller Lücken und loser Steine. Die Stufen wurden immer enger und enger und endeten zuletzt an einem eisernen Gitter.

Theodor stieß es auf. Es führte in einen gewundenen winkligen Gang, der eben weit genug war, dass eine Person sich mit Mühe hindurchdrängen konnte. Ein dämmernder Lichtschimmer beleuchtete ihn nur so viel, dass er sichtbar wurde.

Theodor wagte sich hinein!

Ein tiefes, hohles Wehgeschrei stöhnte ihm durch das Gewölbe aus einiger Entfernung entgegen. Er ging immer weiter, und ward, als er bei der ersten Krümmung herumkam, die nämliche blaue Flamme gewahr, welche ihn zuvor geführt hatte. Er folgte ihr!

Endlich öffnete sich der Gang mit einem Mal in eine weite, geräumige Galerie, in deren Mitte eine Gestalt in vollkommener Rüstung erschien, die ihm, mit grauenvoller Verzerrung des Gesichts und drohender Stellung, den blutigen Stumpf eines Armes entgegen streckte und mit dem anderen ein Schwert schwang.

Unerschrocken sprang Theodor auf sie los. Indem er eben zu einem wütenden Streich gegen die Gestalt ausholte, verschwand sie und ließ einen mächtigen eisernen Schlüssel fallen.

Die Flamme blieb jetzt über ein paar Torflügel am Ende der Galerie still stehen. Theodor ging darauf zu, steckte den Schlüssel in das eherne Schloss und drehte ihn mit Macht herum.

Sogleich sprangen die Torflügel auf und zeigten einen weiten, großen Saal, in dessen Tiefe ein Sarg auf einer Bahre stand, zu dessen beiden Seiten Kerzen brannten. Längs der beiden Seiten des Saales hin standen Reihen riesenmäßiger Statuen von schwarzem Marmor mit ungeheuren Säbeln in den Händen.

Sobald Theodor hereintrat, hoben sie alle zugleich ihre Säbel empor und schritten mit einem Fuß vorwärts. Die Flamme schwebte immer voran, und unser Held folgte ihr entschlossen, bis er noch sechs Schritte von dem Sarg entfernt war.

Im nämlichen Augenblick flog der Deckel des Sarges auf! Eine Dame im Sterbegewand und schwarzem Schleier richtete sich im Sarg auf und streckte ihre Arme gegen Theodor aus. Zu gleicher Zeit schlugen die Statuen ihre Säbel zusammen und stürzten auf ihn ein.

Mit Blitzesschnelle flog Theodor auf die Dame hin und schloss sie in seine Arme. Sie warf ihren Schleier zurück und küsste ihn auf den Mund.

Plötzlich erschütterte das ganze Gebäude wie von einem Erdbeben und stürzte mit donnerndem Krachen zusammen.