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Die Macht der Drei – Teil 20

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Enttäuscht und verbittert hatte Glossin Reynolds-Farm an jenem Tag verlassen, an dem Jane seinen Antrag abwies. Aber auch Jane war durch diese Erklärung erschüttert und aus einer trügerischen Ruhe aufgescheucht. Sie brauchte jemand, auf den sie sich stützen, dem sie sich anschmiegen konnte. Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr Glossin solche Stütze geworden. Ein väterlicher Freund, dem sie vertraute. In ihrem natürlichen Schutzbedürfnis zu vertrauen versuchte, soweit ein instinktives, ihr selbst unerklärliches Misstrauen es zuließ.

Die Werbung Glossins hatte das Verhältnis mit einem Schlag zerstört, hatte Jane von Neuem in schwere seelische Kämpfe gestürzt. Das Gefühl tiefster Verlassenheit übermannte sie von Neuem? Was blieb ihr nach alldem noch auf dieser Erde? Die Mutter tot … Silvester verloren und verschollen … Glossins Freundschaft falsch! …

Dazu die Gesellschaft dieser alten Negerin, deren Anblick und Wesen ihr von Tag zu Tag widerlicher wurden. Das Grinsen der alten Abigail hatte jetzt einen besonderen Inhalt und Ausdruck gewonnen, der Jane erschreckte und peinigte. Dazu Redensarten der Schwarzen, die ihr zwar größtenteils unverständlich blieben. Aber auch das wenige, das sie verstand und erriet, erschreckte sie.

Sie verließ das Haus nicht mehr. Die Spaziergänge und Wagenfahrten der früheren Wochen unterblieben. Mit müdem Hirn suchte sie die Fragen zu beantworten.

Was sollte aus ihr werden? Was hatte Glossin mit ihr vor? Weshalb hatte er sie gerade hierher gebracht?

… Was sollte sie weiter beginnen? … Wenn sie irgendwo eine Stellung annähme … Eine untergeordnete Stellung … irgendwo … nur fort von hier … fort! … Wäre sie doch in Trenton geblieben! Kein Brief, kein Lebenszeichen aus Trenton hatte sie jemals erreicht.

Fort! … Fort! … Warum war sie nicht schon längst fort? … Warum hatte sie nicht gleich nach der Werbung Glossins die Farm verlassen?

Wie oft hatte sie sich diese Frage schon vorgelegt. Und jedes Mal war sie an einen Punkt gekommen, wo sie keine Antwort auf die Frage fand. Warum nicht? Wie viele Versuche hatte sie schon gemacht, Reynolds-Farm zu verlassen. Warum hatte sie das Vorhaben niemals ausgeführt?

Wie ein schwerer Alpdruck lag es auf ihr. Warum nicht … Sie wurde doch nicht gefangen gehalten? Nicht einmal bewacht oder kontrolliert.

Sie brauchte doch nur ihr Köfferchen zu packen und das Haus zu verlassen. Nur bis zum nächsten Dorf zu gehen, um in Sicherheit zu sein. Sogar ungesehen von Abigail konnte sie das Haus verlassen. Denn das hätte sie schon bald nach ihrer Ankunft hier entdeckt, dass die alte Negerin der Flasche zugetan war. Gleich nach dem Auftragen des Mittagsmahles verschwand die Alte, und öfter als einmal hatte Jane sich selbst um das Abendessen kümmern müssen. Sie wusste, dass Abigail Stunden hindurch besinnungslos irgendwo in einer Ecke lag. Lange Stunden, in denen sie, von niemand verhindert, das Haus verlassen konnte.

Weshalb hatte sie es nicht getan? Weshalb tat sie es nicht heute?

Ihr Antlitz, so schön und jugendlich, aber blass durch Kummer und Aufregung, erhielt einen tatkräftigen Zug. Die Falten zu den Mundwinkeln vertieften sich, ihre Augen bekamen ein neues Feuer. Alle Lebensenergien in ihr drängten zur Tat.

Mit einem plötzlichen Ruck erhob sie sich von ihrem Sitz und schritt nach dem Schlafkabinett. Hastig ergriff sie ein paar der notwendigsten Kleidungstücke und begann sie in den kleinen Handkoffer zu stopfen. Und erinnerte sich zur gleichen Zeit, wie oft sie das gleiche schon früher versucht hatte und niemals damit zum Ziel gelangt war. Heute ging es viel besser. Kleiderschicht fügte sich auf Kleiderschicht, und mit einem Seufzer der Befriedigung drückte sie den Bügel des Handkoffers zusammen. So weit war sie früher noch niemals gekommen.

Jetzt nur noch zuschließen! Der Schlüssel befand sich in ihrer Handtasche dort auf dem Tisch. Sie entnahm ihn der Tasche, wandte sich wieder dem Koffer zu und fühlte, wie die alte Lähmung von Neuem über sie kam. Wie Blei wurden ihr die Füße. Nur mit Mühe konnte sie die wenigen Schritte vom Tisch zum Koffer zurücklegen. Endlich war es gelungen, aber nun lag das Blei in ihren Armen. Sie versuchte es, den Schlüssel in das Schloss zu schieben … Da fiel er klirrend auf die Diele.

Einen Augenblick starrte sie hoffnungslos auf das kleine blinkende Eisen, das da vor ihr auf der Zimmerdiele lag. Dann durchzuckte ein Schluchzen ihren Körper. »… Warum … kann ich … nichts … Warum … o Gott! … Warum …«

Sie fiel vornüber auf die Tasche und blieb Minuten hindurch regungslos liegen … Eine Macht, ein Einfluss, ihr selbst unerklärlich und unfassbar, verhinderte sie, dieses offene und unbewachte Haus zu verlassen … Sie ging in das andere Zimmer und warf sich auf ihr Ruhebett.

»Die Qual! … Warum … muss ich diese Qualen leiden? … Wo bleibst du, Silvester? … Mutter, ach wäre ich bei dir! … Wäre ich mit dir gestorben!

Sterben … jetzt noch sterben? … Unterhalb des Hauses … da bildet der Bach einen kleinen See … da kann ich sie finden … die Ruhe … die Erlösung von aller Qual …«

Sie raffte sich von ihrem Lager empor.

»Ja! … ja … ja …«

Die Festigkeit des gefassten Entschlusses prägte sich in ihren Mienen aus. Schnell schritt sie zur Tür, um sie zu öffnen. Mochte irgendeine unheimliche Kraft ihr die Flucht aus diesem Haus zu den Menschen hindern, die Flucht in die Ewigkeit sollte ihr niemand verbieten.

Sie griff den Türdrücker und öffnete die Tür.

Die keifende Stimme der schwarzen Abigail drang ihr ans Ohr. Offenbar war die Alte dabei, irgendeinem Besucher den Zutritt zu verwehren, vielleicht einen Hausierer abzuweisen.

»Kann ich nicht einmal sterben?« … Sie wollte die Tür wieder leise ins Schloss drücken … Da … ihre Hand umkrampfte den Drücker.

Welche Stimme? … Der Fremde … Mit einem Ruck riss sie die Tür auf.

»Silvester!« Ein Schrei aus tiefstem Herzen. Mit geschlossenen Augen lehnte sie an dem Türrahmen und streckte die Hand nach ihm aus.

»Silvester …!«

Sie sah es nicht, wie Abigail, von einem kräftigen Faustschlag getroffen, in eine Ecke flog, wie ein Mann mit Tigersprüngen die Treppe hinaufdrang. Sie fühlte nur, dass sie am Herzen Silvesters ruhte, dass eine leichte, weiche Hand ihr Gesicht streichelte, dass Worte der Liebe und des Glückes ihr Ohr trafen.