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Gold – Kapitel 5.2

Gold-Band-1Friedrich Gerstäcker
Gold
Ein kalifornisches Lebensbild aus dem Jahre 1849
Kapitel 5 Teil 2
Ein Abend in San Francisco

Unten im Saal wirbelten die Pauken, schmetterten die Trompeten und drängten sich die Spieler um die Tische.

Das war ein wildes, wüstes Treiben in dem Saal und ganz zu dem Leben passend, das die Leute ja doch gezwungen waren, hier in dem El Dorado zu führen.

Wer von ihnen allen hatte denn eine Heimat hier in Kalifornien? Wer eine Familie, eine Frau, ein Kind, das zu Hause seiner harrend ihn erwartete? Niemand von all den Tausenden, die außen an den Spielhöllen auf- und abwandelten oder sich durch die Säle pressten, ihr Glück hier oder da an einem der Tische zu ergraben.

Eine notdürftige Matratze in irgendeiner Zeltecke war ihr Lager für die Nacht. Die erreichten sie noch früh genug, und wenn sie den Schlafplatz erst mit dämmerndem Tag suchten, während hier Licht und Leben und vor allem der Klang des Goldes sie ihren Zustand doch wenigstens für kurze Zeit vergessen machte. Jede offene Tür zeigte ihnen dabei die Mittel, sich diesem Sinnesrausch hinzugeben. Blinkende Flaschen alkoholischer Getränke lockten noch außerdem zu doppeltem Genuss. Dort klirrten die Gläser, klangen die Goldmünzen, dort spielte die Musik ihre heimischen Tänze und reizten, von blendendem Lichtstrahl übergossen, üppige Bilder. Was sollten sie sich da mit Sorgen plagen oder trüben Gedanken nachhängend auf feuchter Erde im kalten Zelt liegen. Dorthinein denn drängten sie, und der nächste Morgen fand sie vielleicht mit leeren Taschen und wüstem Hirn, aus tollem Rausch erwachend. Aber was kümmerte sie der nächste Morgen.

Hier rollten die Würfel, rasselte das rouge et noir, glitten die Karten durch die geübten und nur zu fertigen Finger der Spieler, und wie sie fielen, starrten glanzlose Augen in gieriger Erwartung auf die bunten verhängnisvollen Blätter.

In der Mitte des Saales, über einen der Tische gebeugt, stand eine eigentümlich malerische Gestalt – ein alter Mann, aber mit so ausdrucksvollen auffallenden Zügen, dass, wer ihn einmal gesehen hatte, ihn auch wohl nicht so leicht wieder vergaß. Jedenfalls floss in seinen Adern spanisches, vielleicht edles Blut, denn edel war offenbar die kühn geschnittene Stirn, die leicht gebogene Nase. Das rabendunkle Auge blitzte mit so viel Feuer, als ob er kaum mehr als zwanzig Jahre  zählte, er jedoch wohl an die fünfzig war. Die Oberlippe beschattete dabei ein voller schwarzer, nur mit grauen Haaren leicht gemischter Schnurrbart. Seine Kleidung verdeckte eine besonders feine, mit Goldfäden durchwirkte und trefflich gefärbte Serape. Seinen schwarzen weichen und breitrandigen Filzhut hielt er zusammengedrückt in der rechten Hand und stützte sich mit dieser, an deren Finger ein Diamant blitzte, auf den niederen Tisch, das Spiel beobachtend, in dem sein Gold schwankte.

»Verloren, Señor!«, bemerkte da der eine Spieler lachend, indem er einen kleinen Haufen Goldstücke einzog und auf den in der Mitte aufgehäuften Barvorrat an Münzen und Goldstaub legte. »Sie spielen heute wieder mit entschiedenem Unglück und sollten es aufgeben.«

»Caramba«, murmelnder Spanier zwischen den Zähnen hindurch. »Ich denke, ich weiß am besten, wann ich aufhören muss. Drei halbe Adler noch auf die fünf!«

Sein Englisch klang gebrochen, und er zische auch die Worte mehr, als er sie sprach.

»Verloren«, lautete die eintönige Antwort. »Mehr?«

»Wieder zwei halbe auf die fünf!«

»Verloren! Mehr?«

Der Spanier schwieg, und schaute stier und unverwandt auf die verräterische Karte nieder.

»Das waren meine letzten Stücke heute«, flüsterte er. »Aber morgen bekommt meine Tochter wieder Honorar …«

»Tut mir leid, Señor«, sagte achselzuckend der Spieler, »dass wir ein Bargeldgeschäft sind. Wir muten auch niemandem zu, bei uns zu borgen. Setzen Sie den Ring da und bestimmen Sie den Preis. Die Spielerei gefällt mir.«

»Den Ring? Nein«, rief der Mann fast erschreckt und trat einen Schritt von dem Tisch zurück. Der Spieler zuckte bloß mit den Achseln, und andere, die schon lange darauf gewartet hatten, näher zu dem Tisch zu kommen, drängten herbei, und schoben ziemlich rücksichtslos den alten Spanier beiseite. Hatte er doch kein Geld mehr, was wollte er ihnen noch den Weg verstellen.

Oben auf dem Orchester, wo die Musici in entsetzlichen Märschen und Tänzen ihre Instrumente misshandelten, und eigentlich nur durch die regelmäßig donnernden Schläge der Pauken und großen Trommel in Takt gehalten wurden, lehnte in eine schwarzseidene Mantille fest eingehüllt eine schlanke, zarte Frauengestalt über der Balustrade und schaute mit starrem Blick in das unter ihr wogende unheilige Treiben nieder.

Der ihr am nächsten sitzende Violinenspieler, ein junger Franzose, wandte sich manchmal zu ihr und versuchte ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Aber sie hörte oder achtete nicht auf das, was er sagte. Eher noch mehr wandte sie den Kopf von ihm ab, die helle Träne zu verbergen, die ihr einzeln und ungesehen von den langen dunklen Wimpern niedertropfte.

Die Musik schwieg, und der Kapellmeister, ein kleiner dicker Mann, offenbar ein Deutscher, dem der Schweiß in der furchtbaren Arbeit von der Stirn lief, dieses Orchester zusammenzuhalten, trat zu dem Mädchen und sagte leise und fast ehrfurchtsvoll: »Señorita!«

Sie antwortete ihm nicht, sie regte sich nicht, denn ihr Blick hing fest und unverwandt an der Gestalt des Vaters unten.

»Señorita«, sagte da der kleine Mann wieder, lauter als vorher. »Die Musik hat aufgehört, und Ihre Zeit zum Spielen ist gekommen. Dürfte ich Sie darum bitten?«

»Ja … ja, mein Herr«, flüsterte das Mädchen, indem sie sich gewaltsam emporraffte. Die Mantille wusste sie dabei so geschickt zurückzuwerfen, dass sie im Umdrehen die verräterischen Tropfen von den Wimpern wischte. Ihre Züge hatten ebenfalls die ganze frühere Ruhe wiedergewonnen. Mit leichtem Schritt zu ihrem Notenpult tretend ergriff sie ihr Instrument, stimmte es und begann ihr seelenvolles Spiel.

Aber was kümmerte das die Leute da unten?

Am Nachmittag hatte man ihm zugehört. Die Mehrzahl der Spieler bestand da auch wohl aus Mexikanern oder Kaliforniern, die stets Sinn für Musik haben. Jetzt war der Saal da unten mit trinkenden, hasardierenden Amerikanern wenigstens zu zwei Drittel gefüllt, und nicht ein Einziger von denen hörte den weichen melodischen Lauten zu.

»Na, warum hat denn jetzt die Musik aufgehört?«, fragte einer der Männer, ein kurzer bleichwangiger Geselle, mit der Ruine eines Strohhuts auf dem wirren, vielleicht seit Wochen nicht gekämmten Haar.

»Da oben fiedelt ja noch jemand«, antwortete ihm sein Nachbar, ohne jedoch den Blick von den Karten zu wenden.

»Einer«, wiederholte der Kleine aber verächtlich.

»Und die ganze andere Bande sitzt daneben und faulenzt. Wozu sind die Kerle denn da?«

Sein Freund hielt es nicht der Mühe wert, ihm darauf zu antworten. Hatte er doch Wichtigeres mit dem Kartenspiel zu tun.

Das war ein Summen und Wogen in dem Saal wie Ebbe und Flut, herüber und hinüber. Ein und aus drängten die Leute durch das breite Portal wie an einem Bienenkorb. Auch noch in anderer Weise hatte der Raum Ähnlichkeit mit einem solchen. Draußen in den Bergen scharrten, hackten, gruben und wuschen die Leute ihren Honig, das Gold, mühsam zusammen, um es hier einzutragen – und wie wenige trugen es wieder aus. Die Spieler aber schlossen es in ihre Zellen, es später ebenso wieder zu vergeuden, wie sie es gewonnen hatten.

Stunde um Stunde verging, und wenn Hunderte den Platz verließen, um teils an anderen Tischen ihr Glück zu versuchen, teils sich in irgendeinem Winkel auf ihr Lager zu werfen, strömten wieder ebenso viele von den Müßiggängern der Plaza zu, und das eigentliche Gedränge im Innern des Parkerhaus-Salons dauerte bis fast eine Stunde nach Mitternacht. Von da an merkte man aber eine Abnahme der Gäste, wenn der Saal auch noch immer gefüllt blieb. Erst gegen zwei Uhr zeigte er hier und da leere Stellen. Nur um einzelne Tische, auf denen besonders hoch gespielt wurde, scharten sich noch die Leute, während da und dort über einen Stuhl gehangen oder auch wohl rücksichtslos auf dem nackten Boden ausgestreckt, ein Halbtrunkener seinen Branntwein und Spielrausch auszuschlafen suchte.

An einer der Säulen allein, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Arme fest übereinander in die Falten der Serape geschlagen, stand der alte Spanier, den wir vorhin bei seinem Spiel beobachtet hatten. Man hätte fast glauben sollen, er schliefe, so still und regungslos lehnte er an seinem Platz. Nur das ab und zu unter dem breitrandigen Hute vorblitzende dunkle Auge strafte die Vermutung Lügen.

Da glitt eine schlanke, ganz in Schwarz gekleidete weibliche Gestalt scheu an der einen Wand des Saales hin, vom Orchester her, und das Gesicht verhüllt versuchte sie den Männern auszuweichen. Aber niemand achtete auf sie, denn ein Zank an einem der Tische lenkte gerade in diesem Augenblick die Aufmerksamkeit aller dorthin. Unbemerkt hatte sie auch den Mann an der Säule erreicht, berührte leise dessen Schulter und flüsterte: »Vater!«

»Ha – Manuela!«, rief der Spanier, wie aus tiefem Sinnen emporschreckend. »Du hier, mein Kind? Du spielst heute nicht mehr, nicht wahr?«

»Nein, Vater«, hauchte die Jungfrau, einen scheuen Blick um sich her werfend. »Aber komm, lass uns gehen. Ich sehne mich aus diesem furchtbaren Saal hinaus und – mich hungert.«

Der Spanier zuckte bei den Worten zusammen, und fast mechanisch griff seine Hand nach der Tasche. Doch umsonst hatte er sie die letzte Stunde schon durchwühlt, nur noch ein einziges Goldstück dort zu finden – und das nicht für sein Kind, denn an dem nächsten Spieltisch wäre es den anderen nachgeflogen. Die Jungfrau sah die Bewegung, und Leichenblässe bedeckte ihr Antlitz, aber mit merkwürdiger Kraft bezwang sie sich und flüsterte: »Du hast meinen Lohn für diesen Abend noch nicht einkassiert? Aber das schadet nichts. Dort drüben sitzt der Herr des Saales, er zahlt ja pünktlich.«

Der Vater schwieg und strich sich nur mit der flachen Hand über die kalte schweißbedeckte Stirn.

»Komm, Vater, komm. Die Zeit vergeht und der Boden brennt mir hier unter den Füßen. Oh, dass wir dies unglückselige Land nie betreten hätten. Lass uns das Geld holen.«

Der Mann rührte sich noch immer nicht, und der unstete Blick, der im Saal umherschweifte, schien Hilfe von dort zu suchen. Hilfe von da – großer Gott, nur der Gedanke war schon halber Wahnsinn. Er mochte das aber auch fühlen, denn gewaltsam raffte er sich zusammen, ergriff die Hand seiner Tochter und flüsterte: »Komm!«

»Aber das Geld, Vater!«

»Der Wirt kennt mich«, sagte der Spanier mit tonloser, heiserer Stimme. »Er wird uns zu essen geben.«

»Er wies uns gestern zurück«, erwiderte das Mädchen mit zitternder ängstlicher Hast. »Er will keinem Menschen auch nur auf eine Stunde borgen.«

»Der Kellner borgt uns«, sagte der Vater und versuchte sich von der Hand der Tochter loszumachen.

»Vater«, bat aber diese, und der Schmerz einer Welt lag in den wenigen Silben. »Du weißt, dass das nur meinethalben geschieht. Hole das Geld.«

»Ich habe es schon geholt«, hauchte da der Mann, den Kopf scheu zur Seite gewandt. »Ich habe es geholt und wollte das Glück zwingen, uns die Mittel zu geben, dich aus so unwürdiger Lage zu befreien, aber es ist misslungen. Die verräterischen Karten waren mir ungünstiger denn je, und ich habe alles verspielt.«

Das Mädchen erwiderte keine Silbe. Mit gesenktem Haupt, mit zitternden Gliedern stand sie neben ihm, und nur die Brust hob sich schwer und krampfhaft.

»Sorge dich nicht, mein Kind«, bat der Vater, den das ängstigte. »Der morgige Tag kann, wird alles wieder gut machen.«

»Du willst wieder spielen?«, fragte mit bebender Hast die Jungfrau.

»Soll ich den schurkischen Amerikanern dein sauer verdientes Geld gutwillig lassen?«, zürnte der alte Mann.

»Aber du weißt, sie spielen falsch«, klagte Manuela. »Oh, lass ihnen, was sie haben, lass ihnen alles; auch den Triumph, dich betrogen zu haben, aber vertraue diesem falschen Glück nicht mehr. Sieh Vater, in wenigen Wochen verdiene ich ja, was wir brauchen, um dieses entsetzliche Land wieder zu verlassen, und dann …«

»In wenigen Wochen?«, zischte der Alte ingrimmig vor sich hin. »Und wochenlang sollte ich dich noch dem aussetzen, was du jetzt zu dulden hast? Wochenlang, wo es in meiner Macht und in einem einzigen glücklichen Wurf liegt, dich in einer kurzen Stunde freizumachen?«

»Vater!«

»Lass mich, mein Herz, das verstehst du nicht. Habe ich nicht bisher für dich gesorgt? So vertraue dich auch jetzt mir an, und ich werde alles aufbieten, dich bald dem Leben, zu dem du erzogen bist, zurückzugeben. Jetzt komm mit mir in das Restaurant. Don Emilio weiß, dass ich mein Wort halte, und wird uns das Abendbrot nicht versagen.«

»Du bist ihm noch von früheren Tagen schuldig.«

»Bah, eine Bagatelle! Er soll sein Geld erhalten. Komm! Die Leute dort werden aufmerksam.«

»Ja, ich will mit dir gehen, Vater«, sagte das Mädchen ernst und entschlossen. »Aber nicht, um aufs Neue der Schuldner jenes Fremden zu werden, so freundlich und achtungsvoll er sich auch stets uns gegenüber benommen hat. Ich … ich habe keinen Hunger heute Abend … Es war nur ein Vorwand, dich mit mir fortzubringen von hier. Ich bin müde … mein Kopf schmerzt … lass mich mein Lager aufsuchen.«

»Aber du musst hungrig sein«, drängte der Vater in sie. »Seit heute Morgen hast du nichts zu dir genommen als vielleicht ein Glas Wasser.«

»Glaube mir, mein Vater«, drängte aber das Mädchen, »ich wäre nicht imstande, auch nur einen Bissen heute Abend über die Lippen zu bringen. Nur der Ruhe bedarf ich, des Schlafs. Willst du mit mir gehen?«

»So komm«, sagte der alte Mann, warf den Zipfel seiner Serape über die linke Schulter, und schritt, von seiner Tochter dicht gefolgt, der Hintertür des Saales zu.

Unterwegs hatten sie einige Gruppen von Spielern zu passieren, und Einzelne von diesen suchten ein Gespräch mit dem Mädchen anzuknüpfen, aber Manuela sah nicht auf. Das Haupt gebeugt, das Gesicht bis unter die Augen mit der schwarzen Mantille bedeckt, glitt sie an ihnen vorüber und verschwand bald mit dem Vater in dem schmalen Gang, der in den oberen Teil des Hauses führte.

Immer mehr zerstreuten sich indessen die Spielgäste des Parkerhauses. Vier Fünftel der Tische waren schon leer, und ein Teil der Spieler hatte sein Geld und seine Karten zusammengepackt, um den eigenen Schlafplatz aufzusuchen. Selbst das Orchester war geräumt. Die Diener des Hauses gingen herum, die unnötigen Lampen auszulöschen, und nur hier und da stand noch eine kleine Gruppe, mit schlaftrunkenen Augen die nachlässig umgeworfenen Karten zu besetzen.

Die Spieler selber hatten keine Lust mehr an der Sache, denn wo den ganzen Abend Hunderte, oft Tausende auf dem Spiel gestanden hatten, konnte sie ein Satz von wenigen Dollar nicht genug aufregen, den Schlaf selbst von ihren Augen abzuhalten.

Ihre Serape oder kalifornischen Ponchos umgeschlagen, den schweren Geldsack im Arm, vielleicht mit einem Gute Nacht, Señores verließen sie von dem und jenem Tisch den Saal. Nur Einzelne schlossen ihre Bank in eine unter dem Tisch stehende Kiste, wickelten sich dann in ihre Decken und streckten sich auf ein paar zusammengeschobene Stühle, die Nacht dort zu verträumen. Lagen sie doch hier gerade so gut wie in einem Zelt, und – sicherer.