Detektiv Schaper – Falsches Geld – 3. Kapitel
M. v. Neuhof
Detektiv Schaper
Erster Teil
Falsches Geld
3. Kapitel
Der neue Zimmerherr
Es war am folgenden Tag um die Mittagsstunde. Vor dem Haus Gerberstraße Nr. 14 in Schöneberg stand ein älterer Herr und las bedächtig das Pappschild, das die Frau Major von Molnar durch den Portier neben der Haustür hatte befestigen lassen und das den Vorübergehenden ankündigte, dass hier in der ersten Etage zur linken Hand ein freundlich möbliertes Zimmer nebst voller Verpflegung an einen soliden Herrn zu vermieten sei.
Wenige Minuten später saß das bescheiden gekleidete Männchen, das vorhin das Pappschild so interessiert überflogen hatte, der Majorin gegenüber.
Frau von Molnar hatte den Anwärter auf das bisher von Horst-Günther bewohnte Zimmer zunächst recht eingehend gemustert. Diese Prüfung war sehr zugunsten des Besuchers ausgefallen. Äußerlich war an diesem Mann, der mit seiner Brille, seinem grauen Spitzbart und dem sauber gehaltenen Anzug einen recht würdigen Eindruck machte, nichts auszusetzen.
Die Majorin ließ die Lorgnette, eine Erinnerung an bessere Tage, sinken. Jedenfalls schien es den Herrn, der sich als »Bernhard Marlow« eingeführt hatte, nicht weiter gestört zu haben, dass er diese eingehende Prüfung seiner Erscheinung sich gefallen lassen musste.
»Dürfte ich fragen, welchen Beruf Sie haben, Herr Marlow?«, begann Frau von Molnar das weitere Verhör.
»Aber gewiss, gnädige Frau«, erwiderte Marlow freundlich. »Ich bin Kolporteur für eine Buchhandlung, das heißt, ich hausiere mit allerlei Schriften.«
»Und – haben Sie sich auf diese Weise schon immer Ihren Lebensunterhalt verdient?«, forschte die Majorin vorsichtigerweise.
Der Herr lächelte. Es war ein fröhliches, humorvolles Lächeln, das nur für ihn einnehmen konnte.
»Schon immer? Das ist ein dehnbarer Begriff«, meinte er. »Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr unterhielt mich mein Vater auf der Universität. Dann starb er, und ich wurde Kaufmann. Kolporteur bin ich erst seit fünf Jahren, nachdem die Firma, bei der ich zwanzig Jahre lang als Buchhalter tätig war, in Konkurs geriet und mich alten Mann niemand mehr einstellen wollte. Also die Not war’s, gnädige Frau, die mich zum Bücherhausierer machte – bittere Not. Nun – jetzt geht es mir gut, wenigstens kann ich zufrieden sein. Freilich, ich muss den ganzen Tag treppauf, treppab laufen – in meinem Alter kein großes Vergnügen mehr, wenn man auch dabei schlank bleibt.«
»Also auch einer, dem das Leben hart mitgespielt hat«, dachte die Majorin. Und sofort wuchs ihre Sympathie für diesen freundlichen Herrn, dessen ganzes, so ruhiges und feines Benehmen den Gebildeten verriet.
Daher fragte sie auch schon in bedeutend freundlicherem Ton und nicht mehr so ganz den strengen Verhörrichter spielend.
»Können Sie mir irgendjemand nennen, Herr Marlow, der bereit wäre, über Sie ein wenig Auskunft zu geben? Sehen Sie, Sie dürfen mir diese Vorsicht nicht verübeln. Ich nehme zum ersten Mal einen fremden Herrn sozusagen in meine Hausgemeinschaft auf, und da …«
»Ah – bitte, gnädige Frau«, unterbrach der Kolporteur liebenswürdig. »Ich kann das vollständig verstehen. Und deshalb werde ich Ihnen einige Adressen aufschreiben, wo Ihnen gern jede Frage beantwortet wird.«
»Danke, es wäre mir sehr lieb. Nun wäre noch ein Punkt zu ordnen. Ich möchte das Zimmer nur mit voller Verpflegung abgeben. Wie denken Sie darüber?«
Der frühere Buchhalter lächelte die Majorin beinahe strahlend an. »Aber deswegen bin ich ja gerade zu Ihnen gekommen, gnädige Frau. Zimmer mit voller Verpflegung bei wirklich feinen Leuten findet man selten.«
Frau von Molnar war hocherfreut. Und als man sich dann noch über den Preis – neunzig Mark – geeinigt und Marlow den Raum, der ihn für die Zukunft beherbergen sollte, besichtigt und überaus gemütlich gefunden hatte, trennte man sich. Der Kolporteur wollte sich am folgenden Vormittag Bescheid holen, ob er – das hing ja wohl von den Auskünften ab – als Zimmerherr genehm sei oder nicht.
Unter den drei Adressen, die Marlow der Majorin dagelassen hatte, erschien dieser als die für ihre Zwecke geeignetste gleich die erste. »Auskunftei und Detektivinstitut Argus, Berlin, Dresdener Straße 1b.« Und bereits eine Stunde später saß Frau von Molnar auf der Elektrischen und fuhr dem Südwesten der Reichshauptstadt zu.
In dem Büro des Detektivinstituts wurde ihr dann mitgeteilt, dass der Inhaber Fritz Schaper allerdings für längere Zeit verreist sei, dass sie aber trotzdem ebenso gut bedient werden würde.
So brachte sie denn ihr Anliegen vor.
Herr Marlow? Oh, den kenne man ganz genau. Ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, für den man jede Garantie übernehme, jede!
Die Majorin atmete auf. Sie freute sich ehrlich über diese Antwort. Als sie dann bescheiden fragte, wie viel sie für die Auskunft zu entrichten habe, meinte der Bürovorsteher mit tadelloser Verbeugung: »Für solche Kleinigkeiten erheben wir keine Gebühren, gnädige Frau. Es war uns ein Vergnügen, Ihnen dienen zu können.«
So kam es, das Bernhard Marlow bereits am Abend des folgenden Tages mit einem großmächtigen Reisekorb und einige Kleinigkeiten – Bildern, einem Zigarrenschränkchen und sonstigem Junggesellenhausrat, seinen Einzug in dasselbe Zimmer hielt, das Horst-Günther grollend kurz vorher geräumt hatte.
In einer halben Stunde war er mit dem Fortpacken seiner Sachen fertig. Da klopfte es auch schon. Auf sein Herein erschien Astrid von Molnar, die nachfragen wollte, ob Marlow auch heute schon daheim speisen würde.
»Wenn es Ihnen keine Umstände macht, gnädiges Fräulein?«, erwiderte er, indem er ihre schlanke Gestalt mit dem feingeschnittenen Antlitz unauffällig musterte.
»Durchaus nicht, Herr Marlow. Wünschen Sie Tee oder Bier zum Abendessen?«
»Bitte Tee. Ich bin nämlich halber Antialkoholiker«, meinte er scherzend.
Dem Kolporteur schmeckte die einfache, aber peinlich sauber und höchst appetitlich servierte Mahlzeit vortrefflich. Mit Astrid, der jede Anwandlung von Stolz fremd war, kam er bald in ein zwangloses Gespräch, als sie dann den Tisch wieder abräumte. Das junge Mädchen merkte sofort, dass dieser Herr Markow nicht nur über tadellose Umgangsformen, sondern auch über jenen natürlichen Takt verfügte, der mehr Herzenssache als Produkt einer guten Erziehung ist.
»Mit unserem Zimmerherrn haben wir fraglos einen sehr guten Griff getan«, sagte Astrid nachher zu ihrer Mutter. »Er hat in durchaus unaufdringlicher Weise seine Bibliothek, die sehr reichhaltig zu sein scheint, mir zur Verfügung gestellt.«
Horst-Günther, der mit der Abendzeitung am Fenster saß, lachte etwas spöttisch.
»Da scheinst du ja mit dem Hausierer recht schnell Freundschaft geschlossen zu haben! Na, ich werde mir den Mann schon vom Leibe halten.«
Die Majorin zuckte zu dieser Mitteilung nur mitleidig die Achseln. Sie wusste, aus ihrem Sohn sprach lediglich der Ärger, weil er sein Zimmer hatte aufgeben müssen.
Gleich darauf verabschiedete sich Horst-Günther und ging zu Sagnali hinüber.
Mariette öffnete ihm, als er an der Korridortür klingelte. Auf seinen Gruß senkte sie nur sehr kühl und förmlich den Kopf.
»Mein Bruder ist nicht daheim, Herr von Molnar. Er musste plötzlich in einer dringenden Angelegenheit zur Leipziger Straße, hat aber für Sie einen Brief dagelassen. Hier – bitte.«
Der junge Molnar nahm das Schreiben hastig entgegen. Mariettes Augen wich er ängstlich aus. Er empfand ihr gegenüber etwas wie Schuldbewusstsein. Und deutlich merkte er auch, dass sie ihn in letzter Zeit mit geradezu eisiger Unnahbarkeit behandelte.
Dann schritt Horst-Günther langsam die Treppe hinab. Er war in merkwürdiger Stimmung. Unzufriedenheit, Sorge vor der Zukunft, andrerseits wieder die Sucht nach rauschenden Vergnügungen quälten sein Herz und ließen darin Kampfe erstehen, bei denen das Gute in ihm mit dem nur zu stark vorhandenen Hang zum Leichtsinn stritt.
Im Hausflur blieb er stehen und riss den Umschlag auf. Darin befand sich ein Zettel mit wenigen Sätzen. »Wir können uns um halb elf Uhr im Café des Westens treffen. Bis dahin bin ich frei. Anbei Ihrer Bitte gemäß 300 Mark. Gruß E. S.«
Diese Mitteilung war Horst-Günther nur insofern wichtig, als ihm der neue Pump bewilligt war. Als er jetzt die drei Scheine in seine Brieftasche schob, hatte er bereits wieder alle guten Vorsätze vergessen. Auch der anfängliche Groll gegen den neuen Mieter war geschwunden. Schließlich – Mutter und Schwester würden auch jetzt kaum hören, wann er heimkehrte. Die Schlösser der Korridor- und der anderen Tür zu seiner Bude hatte er ja vorhin heimlich gut eingeölt. Und die Stiefel – nun, die zog man eben schon auf der Treppe aus.
Kurze Zeit nach Horst-Günther verließ auch der Kolporteur das Haus. Gemächlich schritt er die Gerberstraße entlang, indem er sich fest auf seinen Spazierstock stützte. Trotz seiner etwas vornübergebeugten Haltung war er eine recht stattliche Erscheinung. Wie er jetzt in die nächste Querstraße einbog, begann er seine Gangart zu beschleunigen. Scharf musterte er jedes einzelne Gebäude der Krusiusgasse, die ebenfalls zumeist aus älteren Mietshäusern bestand. Dann blieb er vor Nr. 21 stehen, schaute sich um und verschwand in der Haustür.
Nr. 21 war ein Durchgangsgebäude. Über zwei Höfe, die einem Speditionsgeschäft für die Wagen als Unterkunftsplatz dienten, gelangte man in die nächste Parallelstraße. Dort befand sich wenige Schritte entfernt eine Autohaltestelle. Marlow sprang leichtfüßig – für sein graues Haar fast zu leichtfüßig – in einen geschlossenen Wagen, nachdem er dem Schofför schnell eine Adresse zugerufen hatte. Bequem lehnte er sich in die Polster zurück und nahm dann sofort die goldene Brille mit den leicht grau gefärbten Gläsern ab. Der Bügel hatte in die Nase eine tiefe, rotschimmernde Stelle eingedrückt. Diese rieb der Kolporteur sich jetzt so lange, bis das Blut wieder ordentlich zirkulierte.
»Ich hätte das Ding weglassen sollen«, brummelte er vor sich hin. »Stets bekomme ich davon Kopfschmerzen. Aber, was hilft’s, die grauen Gläser bilden einen so vorzüglichen Schirm für die Augen.«
Inzwischen jagte das Auto die Kaiserallee entlang und hielt schließlich vor einem neuen, modernen Haus in einer der Seitenstraßen des Kurfürstendamms.
Bernhard Marlow bezahlte und stieg dann die mit roten Plüschläufern bedeckte Marmortreppe des Vordergebäudes empor. Im zweiten Stock links war unter dem Löwenkopfgriff der elektrischen Klingel ein Messingschild mit der Aufschrift »Winter, Geheimer Regierungsrat« angebracht.
Hier läutete der Kolporteur. Ein Stubenmädchen, ganz in Schwarz gekleidet außer dem weißen Tändelschürzchen und dem ebenso zarten Häubchen, öffnete nach einer Weile.
Marlow hatte Glück. Der Geheimrat war zu Hause.
»Dürfte ich um die Karte des Herrn bitten?«, sagte die Zofe etwas von oben herab.
Der Kolporteur hatte schon seine Brieftasche hervorgezogen und reichte ihr das Gewünschte. Auf dem schmalen Karton stand, mit Tinte geschrieben, nichts als »Bernhard Marlow«.
Die Flurtür klappte ins Schloss und das Stubenmädchen verschwand. Der Kolporteur, den man so formlos draußen im Treppenhaus warten ließ, lächelte ironisch.
»Der Donna war ich wohl nicht vornehm genug in Kleidung«, dachte er.
Da öffnete sich die Flurtür schon wieder, und die Zofe bat den Besucher – jetzt mit der größten Unterwürfigkeit – näherzutreten. Ihr rotes, verlegenes Gesicht zeigte Markow, dass es drinnen fraglos einen kleinen Anschnauzer gegeben hatte.
Der Geheimrat empfing den späten Gast – mittlerweile war es fast halb zehn Uhr geworden – bereits an der Tür seines Arbeitszimmers.
»Mein lieber Herr … hm, ja … Marlow, ich freue mich sehr, dass Sie sich endlich blicken lassen. Ihr kurzes Billett hat mich begreiflicherweise in ziemliche Aufregung verletzt. Bitte, nehmen Sie Platz. So, vielleicht eine Zigarre gefällig? Schwer? Keineswegs! Ich rauche stets nur ganz leichte Sorten. Halt, da fällt mir eben ein – entschuldigen Sie bitte, dass unser Stubenmädchen Sie draußen stehen ließ. Diese Leute sind alle so ungewandt, sehen nur auf grobe Äußerlichkeiten und …«
»Aber Herr Geheimrat, das ist wirklich überflüssig«, unterbrach Bernhard Marlow ihn liebenswürdig. »Als Kolporteur gehöre ich doch sogar auf die Hintertreppe. Wenn ich nächstes Mal in meiner wahren Gestalt hier erscheine, wird die Zofe mich schon respektieren.«
Der Regierungsrat lächelte. »Wahre Gestalt! Das stimmt! Sie haben sich wirklich unglaublich verändert! Hätten Sie mich nicht in Ihrem Schreiben auf diese Maske vorher aufmerksam gemacht, ich würde Sie nicht erkannt haben, nie! Und – ich soll Sie also auch weiter mit »Marlow« anreden? Heißt das nicht, die Vorsicht etwas zu weit treiben?«
»In meinem Beruf hängt von dieser Vorsicht alles ab, Herr Geheimrat«, meinte der angebliche Kolporteur ernst. »Können Sie zum Beispiel wissen, ob die Zofe, die mich vorhin empfing, nicht irgendwelche Beziehungen zu einem Bewohner des Hauses hat, in dem ich jetzt meine Italienreise auf der Landkarte in Gedanken ausführen kann? Es sind schon oft die merkwürdigsten Zufälle vorgekommen. Und – haben die Leute, die ich beobachten will, erst Wind davon bekommen, dass ich ein ganz anderer bin, als ich scheine, dann ist unsere Sache von vornherein verfahren.«
Winter nickte. Er musste seinem Besucher recht geben.
Dann begannen sie das Geschäftliche zu erledigen.
Der Geheimrat leitete die Unterhaltung mit der Frage ein, die ihm am meisten das Herz bedrückte.
»Mein lieber Herr … Marlow, nun sagen Sie mir aber mal zunächst, wie es gekommen ist, dass Sie Ihre Reise noch im letzten Moment aufgegeben haben? Ich bin mehr als neugierig auf Ihre Erklärung, wahrhaftig!«
Der Kolporteur, in Wahrheit niemand anders als der bekannte Detektiv Fritz Schaper, ließ sich nicht lange bitten.
»Der Zufall spielt bisweilen mehr als merkwürdig, Herr Geheimrat«, begann er. »Als Sie vor vier Tagen in meinem Arbeitszimmer sich von mir verabschiedeten, war ich fest entschlossen, ungesäumt meine Erholungsreise anzutreten. Aber kaum waren Sie zwei Minuten fort, da nahte sich schon die Überraschung, fast möchte ich sagen, das Verhängnis in Gestalt meines Freundes Bornemann. Dieser hatte nämlich …«
»Pardon, eine Zwischenfrage«, fügte hier der Geheimrat ein. »Bornemann? Der Name dieses Herrn ist mir nicht fremd. Handelt es sich um den Millionär Fritz Bornemann aus der Tiergartenstraße?«
»Allerdings, um denselben. Also Bornemann war es, der in demselben Moment, wie ich eben in meinen Reiseulster schlüpfen wollte, in mein Zimmer hineinplatzte und mir, obwohl ich mich beinahe mit Händen und Füßen sträubte, Folgendes erzählte, was natürlich, wie ich schon ahnte, wieder auf eine Berufsangelegenheit hinauslief.
Bornemann ist Besitzer einer ganzen Anzahl von Häusern, die er von seinem Vater, der das Riesenvermögen zusammenscharrte, geerbt hat. Er hat sich die Verwaltung der Gebäude nun insofern sehr leicht gemacht, als er in jedes Haus einen Mann als Portier hineinsetzte, der völlig vertrauenswürdig und auch befähigt ist, alles das zu besorgen, was ein Grundstücksbesitzer zu erledigen hat. Diese Leute sind nun verpflichtet, sich an Bornemann nur in ganz wichtigen Fällen mit Anfragen zu wenden, im Übrigen aber möglichst selbständig zu handeln. Trotzdem hielt es einer dieser Portiers, und zwar der des Hauses Schöneberg, Gerberstraße 14, für notwendig, Bornemann vor fünf Tagen aufzusuchen und ihm von einer Sache Mitteilung zu machen, die dem selten intelligenten und gewitzten Mann nicht recht reinlich erschien. Vor einiger Zeit hat sich nämlich in jenem Gebäude eine Schablonenfabrik etabliert, deren Besitzer ein Italiener ist. Ich betone -Schablonenfabrik, Herr Geheimrat! Der Italiener, Ernesto Sagnali ist sein Name, stellt in einem großen Zimmer seiner Wohnung mittels Spezialmaschinen künstlerische Metallschablonen aus dünnen Zink- oder Kupferplatten für Stickmuster und ähnliche feine Handarbeiten her. Dieser Gewerbebetrieb wäre nun an sich natürlich völlig unverfänglich, wenn eben nicht verschiedene andere Momente die Person dieses Italieners in ganz besonderem Licht erscheinen ließen.«
Fritz Schaper machte eine kurze Pause und zündete sich die ausgegangene Zigarre wieder an.
Dann fuhr er fort.
»Der Portier des betreffenden Hauses, in dessen erster Etage der Italiener die rechter Hand gelegene Vierzimmerwohnung gemietet hat, beobachtete nun eines Nachts kurz nach dem Einzug jenes Ernesto Sagnali einen Menschen, der, ohne zu den Bewohnern des Hauses zu gehören, die Haustür aufschloss, die Treppe hinaufstieg und offenbar dann zu so ungewöhnlicher Stunde dem Italiener einen Besuch abstattete. Da sich dies bald wiederholte, in letzter Zeit sogar jede Nacht, legte der Portier sich in seiner neben dem Hauseingang befindlichen Loge auf die Lauer und stellte so fest, dass dieser Unbekannte, der einen fraglos falschen langen Bart trug und immer nur zur Nachtzeit auftauchte, ohne Zweifel sich bei Sagnali verborgen halten müsse und nur in der Dunkelheit ausging. Polizeilich angemeldet hatte der Italiener nämlich nur sich und seine Schwester Mariette, die ihm die Wirtschaft führt. Dieser Fremde, der so ängstlich das Licht des Tages mied, erregte nun unwillkürlich den Verdacht des Portiers, der sich jedoch in die Angelegenheit nicht einmischen wollte, bevor er nicht mit Bornemann darüber Rücksprache genommen hatte. Sagnali bezahlte ja seine ziemlich hohe Miete stets außerordentlich pünktlich, und mit solchen Leuten verdirbt es ein Hausverwalter nicht gerade gern. Mein Freund Bornemann ließ sich alles genau erzählen und kam dann zu mir. Und kaum hatte er seine Neuigkeit ausgekramt, kaum hatte er mir von dem Schablonenfabrikanten und dessen geheimnisvollem Gast mit möglichst vielen Einzelheiten berichtet, als mich auch bereits der in mir nur zu lebendige Berufseifer packte und in meinem Hirn blitzschnell Gedanken entstanden, die diese Schablonenwerkstatt zum Banknotenfälscherunterschlupf umwandelten.«
Der Geheimrat konnte sich nicht enthalten, etwas zweifelnd den Kopf zu schütteln.
»Waren diese Gedanken nicht ein bisschen sehr weit hergeholt, Herr … Herr Marlow?«, meinte er nachdenklich. »Sie hatten doch für solchen Verdacht so gut wie gar keine Anhaltspunkte, wenn man …«
»Ja, wenn man eben nicht das eine als recht schwerwiegend ansieht, dass solche Stanzmaschinen für Schablonen ganz vorzügliche Druckpressen für Papiergeld abgeben«, unterbrach ihn der Detektiv eifrig. »Man braucht nämlich nur die scharfen Stahlstempel, mit denen die Muster aus den Schablonenblättern ausgeschnitten werden, mit Druckplatten zu vertauschen, und die tadelloseste Presse ist fertig. Hieran dachte ich sofort, Herr Geheimrat, und deshalb gab ich meine Reise auf, eben um zu ermitteln, ob ich mich wirklich in dieser Beziehung geirrt haben sollte.«
»Und Sie haben sich nicht getäuscht?«, fragte Winter ungeduldig. Man merkte ihm an, wie begierig er auf die Antwort war.
»So weit sind wir leider noch nicht, Herr Geheimrat, um darüber ein Urteil fällen zu können«, erwiderte der Detektiv. »Die ganze Sache befindet sich ja erst im Anfangsstadium. Gestatten Sie, dass ich zunächst in meinem Bericht fortfahre. Eventuelle Fragen, die Sie stellen möchten, beantworte ich dann nachher. Getreu meinem Grundsatz, bei allen Dingen lieber etwas zu viel als zu wenig Vorsicht aufzuwenden, verreiste ich anscheinend wirklich noch an demselben Tag. In Wahrheit verließ ich aber bereits auf einer der nächsten Stationen den Zug und kehrte abends nach Berlin zurück, wo ich meine zweite, für solche Zwecke stets bereitgehaltene Wohnung aufsuchte, die im Norden der Reichshauptstadt in der Vinzentstraße liegt und die ich schon vor längerer Zeit als harmloser Geschäftsreisender Fritz Müller gemietet hatte. Dort verbrachte ich die Nacht und begann dann weiter am nächsten Morgen in meiner jetzigen Verkleidung meine Spürtätigkeit. Meine Absicht ging dahin, mich womöglich auf irgendeine Weise in das Haus als solider Mieter einzuschmuggeln. Nun etwas Glück gehört immer zum Handwerk. Und so traf es sich denn auch, dass ich bei einer Frau Major von Molnar als »möblierter Herr mit voller Pension« Unterkunft fand.«
Der Detektiv erzählte nun dem Geheimrat ganz eingehend, wie er als Nachfolger Horst-Günthers in das Zimmer seinen Einzug halten durfte.
»Eigentlich war sogar mehr als Glück dabei«, meinte er. »Die eine Wand meiner neuen, nunmehr also dritten Behausung stößt nämlich an die Wohnung des Italieners an. Vielleicht gibt es da so einiges zu erlauschen, wenn man so kleine Vorbereitungen zu diesem Zweck trifft. Inzwischen habe ich mir aber auch hinsichtlich der Person dieses Ernesto Sagnali einige Auskunft besorgt, die für uns recht vielversprechend ist. Ich habe ja die verschiedensten Mittel zur Verfügung, nur mich über das Vorleben einer mich interessierenden Person zu unterrichten. Jedenfalls steht Folgendes fest: Der Italiener ist von Haus aus Kunstmaler. Seine Vaterstadt Mailand, wo er anscheinend in künstlerischer Hinsicht nur Enttäuschungen erlebte, verließ er vor vier Jahren und kam dann nach Deutschland, wo er in Dresden sich als Graveur und – Kupferstecher, Herr Geheimrat, ausbilden ließ. Er war dann nacheinander in verschiedenen Kunstanstalten der sächsischen Residenz tätig, bis er vor zwei Jahren aus der berühmten Dresdner Gemäldegalerie in einem unbewachten Augenblick einen alten italienischen Meister stahl, Signorellis berühmtes Bild »Die Verbannten«. Er hatte es samt dem Rahmen unter seinem Pelerinenmantel verborgen, wurde aber im letzten Moment, kurz vor denn Verlassen der Ausstellungsräume, abgefasst, später vor Gericht gestellt und zu sechzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Diese verbüßte er in der sächsischen Strafanstalt Dippoldsburg. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Italien zurück, wo mittlerweile seine Eltern gestorben waren, verkaufte deren kleines Anwesen und reiste in Begleitung seiner einzigen Schwester Mariette nach Berlin. Hier mietete er sofort jene Wohnung, die er noch heute innehat, und begann ganz als fleißiger Geschäftsmann zu leben, arbeitete von früh bis spät und schien so seine einmalige Verfehlung, jenen Bilderdiebstahl, wieder gutmachen zu wollen.
So, Herr Geheimrat, das ist alles, was ich Ihnen bis jetzt mitteilen kann. Ich will nur noch erwähnen, dass zwei meiner Angestellten heimlich das Haus Gerberstraße Nr. 14 seit gestern ständig beobachten und auch dem Ernesto Sagnali und dessen Bekannten eine von diesem wohl kaum geahnte Aufmerksamkeit schenken.«
Geheimrat Winter strich sich nachdenklich den grauen Spitzbart.
»Also Kunstmaler, später Graveur und Kupferstecher, hm … sehr belastend, das muss ich sagen«, meinte er. Und nach einer kurzen Pause fragte er dann: »Mein lieber Herr … richtig, Marlow … ich werde mich nie an den verflixten Namen gewöhnen … Eines ist mir unverständlich. Weshalb in aller Welt wollen Sie denn durchaus die Annahme aufrechterhalten, als ob Sie verreist seien?«
Der Detektiv lächelte fein. »Ich will mich gewiss nicht selbst herausstreichen, Herr Geheimrat«, erwiderte er offen. »Aber ich bin doch nun einmal eine Persönlichkeit, mit der die Herren Verbrecher aller Spezialitäten rechnen, das heißt, vor der sie einen ganz netten Respekt haben. Wenn nun zum Beispiel gestern in den Abendzeitungen zu lesen stand, dass Fritz Schaper für einige Wochen auf Erholungsurlaub gegangen ist, so atmet sicher eine ganze Anzahl jener Leute, die heimlich gegen die Gesellschaft und ihren Besitz ankämpfen und sich auf Kosten anderer zu bereichern suchen, wie befreit auf, da sie eben vor einem ihrer hartnäckigsten Verfolger für einige Zeit Ruhe haben. Und vielleicht befinden sich unter diesen Menschen auch Sagnali und sein geheimnisvoller Gast, vielleicht bewegen sie sich freier, wenn sie die Notiz, die nebenbei auf meine Veranlassung eingerückt wurde, zu Gesicht bekommen. Und dieses »sich freier bewegen« heißt bei Verbrechern stets »eine Dummheit begehen«. Aus diesem Grunde mag das Märchen von meiner Abreise bestehen bleiben. Auch der Kolporteur Bernhard Marlow gerät dann weniger leicht in den Verdacht, ein verkappter Detektiv zu sein.«
»Hm … ganz einleuchtend«, meinte Winter. »Noch etwas, Herr Kolporteur …«, fügte er schnell hinzu. »Haben Sie eigentlich diesen Unbekannten, der da bei Sagnali hausen soll, schon gesehen?«
»Leider nicht. Der Mann ist plötzlich unsichtbar geworden.«
»Er wird doch nicht etwa Argwohn geschöpft haben und – verduftet sein?«, meinte der Geheimrat fast ängstlich.
»Hoffentlich nicht. Wissen kann man’s freilich nicht. Nur das eine ist ausgeschlossen. Von argwöhnisch werden kann keine Rede sein. Wodurch? Ich bin ja erst gestern im Haus Gerberstraße 14 aufgetaucht. Nein, wenn er abgereist sein sollte, so hat das einen anderen Grund.«
Der Geheimrat strich bedächtig die Asche seiner Zigarre in dem Becher ab.
»Wäre es nicht vielleicht das Richtigste, wenn wir die Polizei ins Vertrauen zögen?«, sagte er unsicher.
Der Detektiv antwortete erst nach einer geraumen Weile.
»Ganz wie Sie wollen, Herr Geheimrat. Nur würde ich in demselben Augenblick, wo die Behörde diese Sache in die Hand nimmt, meine Tätigkeit einstellen.«
»Nein – um den Preis verzichte ich darauf!«, entgegnete der Geheimrat lachend. »Und«, fügte er gutgelaunt hinzu, »dass ihr Privatdetektive doch stets allein arbeiten wollt! Der reine Konkurrenzneid!«
»Ein sehr wahres Wort«, entgegnete Schaper ehrlich. »Für mich ist diese Angelegenheit wie jede andere Unternehmung ein Geschäft, von dem ich lebe, an dem ich verdienen will und muss, Herr Geheimrat. Und deswegen versuche ich mir natürlich die Konkurrenz vom Leibe zu halten.«
Bald darauf verabschiedete sich der Detektiv, nachdem er Winter noch versprochen hatte, sofort zu ihm zu kommen, falls etwas von Wichtigkeit sich ereignen sollte.