Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 23
Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 23
Es war nun völlig dunkel geworden, auch begann es wieder zu regnen. Die Freunde zitterten vor Kälte, obwohl die Nacht warm war. Plötzlich war es ihnen, als näherten sich die Stimmen der Indianer. Sie schienen am Ufer nach den Verfolgten zu suchen. Die drei kauerten sich unter eine riesige Weide, die ihre Äste tief ins Wasser hängen ließ. Die Indianer verloren sich anscheinend im Wald. Schon glaubten die Freunde, dass die Gefahr vorüber sei, als in der Dunkelheit eine Gestalt vor ihnen auftauchte. In nächsten Augenblick hatte der Indianer die am Boden Kauernden bemerkt. Da sprang Hans ihn an. Er hielt ihm den Mund zu, dass nur ein gurgelnder Laut aus der Kehle des Wilden kam, und versuchte, ihn zu Boden zu reißen. Doch der Indianer wehrte sich wie eine wilde Katze. Ehe die andern zuspringen konnten, riss der Indio strauchelnd Hans mit sich in die aufspritzende Flut. Entsetzt starrten Fabricius und Kressel in das Wasser, unter dessen Oberfläche die beiden Ringer verschwunden waren. Fürchterliche Sekunden verrannen. Dann tauchte ein Körper aus der Flut auf. War es der Indianer, war es Hans?
Es war Hans. Er hatte so lange mit eiserner Faust den Indianer unter Wasser gedrückt, bis er ertrunken war.
Auch Hans war völlig erschöpft. Er taumelte, er warf sich zu Boden und das Übermaß der Spannung, der Anstrengung, des Grauens löste sich in einem Weinkrampf, der seinen ganzen Körper erschütterte.
Der Morgen des nächsten Tages – es war der 17. September 1537 – fand die Freunde in trostloser Verfassung. Zwar hatte sich in der Nacht Zischende Viper wohlbehalten eingefunden, der das Floß als Letzter verlassen hatte. Erst als er sah, dass das Fahrzeug nicht mehr gehalten werden konnte, war auch er ans Ufer geschwommen. Nun war er damit beschäftigt, Fabricius’ Fuß zu behandeln, indem er den Saft einer Wasserpflanze auf die Wunde strich. Fabricius empfand einige Erleichterung, aber er konnte sich vorläufig nur hinkend mit großen Schmerzen fortbewegen. Hans und Kressel starrten trübsinnig ins Wasser. Was sollten sie nun anfangen? Ihre Lage war noch viel schlimmer als nach der Flucht aus dem Sua-Tempel. Damals hatten sie wenigstens Waffen und die notdürftigste Kleidung. Schutzlos waren sie nun der Witterung preisgegeben, dem Hunger und dem Hass der Indianer. Lähmende Verzweiflung kam über sie. Selbst Kressel, der sonst immer so Tätige, ließ den Kopf hängen. Schleppenden Ganges schlich er gegen Mittag in den Wald, um wenigstens etwas Essbares zu suchen. Er fand ein paar Nüsse, die sie schweigend, ein jeder in seine trüben Gedanken versunken, verzehrten.
So kam der Nachmittag heran. Der Regen hatte aufgehört. Es war sehr heiß und still im Wald. Nur im Gras raschelten Schlangen. Gegen drei Uhr zerriss ein dumpfer Knall die Stille. Der Schall kam offenbar von einer Stelle, die stromabwärts lag. Dort flog nun auch kreischend ein Zug Papageien über den Fluss.
Die Freunde waren bei dem Knall erschreckt aufgefahren. Wortlos sahen sie sich an.
Da knallte es ein zweites Mal und gleich darauf noch einmal. Hans sprang auf. Sein Gesicht war totenblass, sein magerer Körper bebte. Die Augen glänzten wie im Fieber. Er streckte die Arme aus wie ein Verzückter. »Fabricius, Kressel, das sind Schüsse, Musketenschüsse!« Er stürmte davon, nur von Zischende Viper gefolgt. Am Ufer lief er, sprang er, stolperte er vorwärts. Das Erste, was er sah, war – unverkennbar – eine schwarze Wolke von Pulverdampf, die über dem Strom schwebte. Und dann …
Ein Mann stand am Ufer, europäisch gekleidet. Es kam Hans, dem Halbnackten vor, als sei er königlich gewandet. In der Nähe des Mannes waren einige Indianer damit beschäftigt, einen toten Kaiman mit Stricken ans Land zu ziehen. Der Bekleidete gab ihnen mit lauter, befehlender Stimme ein paar Anweisungen. Er war so beschäftigt, dass er Hans nicht sah, der langsamen Schrittes, mit wankenden Knien auf ihn zuging. Als er endlich seiner ansichtig wurde, griff er unwillkürlich nach dem Rapier an seiner Seite.
Hans hob die Hand zum Gruß. »Gelobt sei Jesus Christus!«, sagte er auf Spanisch. Voll Staunen erwiderte der Angeredete zögernd: »In Ewigkeit Amen!«
Eine Stunde später standen die Freunde vor dem Licendiado und Justicia Major, Gonzalo Ximenez de Quesada, dem Führer der großen Expedition, die im August 1536 von Santa Marta am Karibischen Meer aufgebrochen war, um das Dorado zu suchen. Die Hauptmacht war noch weiter zurück. Der Führer selbst war ihr mit seinen Offizieren und einer Bedeckung von hundert Mann in fünf Brigantinen und einer größeren Anzahl von Indianerfahrzeugen, sogenannten Pirogen, den Magdalenenstrom hinauf vorausgefahren.
Quesada, ein stattlicher, vollbärtiger Mann, der selbst hier in der Wildnis zum hirschledernen Koller die steife weiße spanische Halskrause trug, behandelte die Freunde mit größter Höflichkeit. Hans, der am besten Spanisch sprach, berichtete. Als er die Namen Hohermut und Hutten erwähnte, verneigte sich der Spanier. »Hohermut und Hutten …« Er nannte sie Jorge de Espira und Felipe de Urre. »Ich habe oft von ihnen gehört. Leider hatte ich nie das Glück, sie persönlich kennenzulernen. Ich weiß, sie sind kühne Männer und große Eroberer.«
Hans erzählte die Erlebnisse der Freunde in großen Zügen. Er verschwieg nicht, dass die Chibcha ein reiches Volk seien, das Gold und Smaragde besäße. Er glaubte, in den dunklen Augen des Spaniers eine verräterische Glut aufflammen zu sehen, als er davon sprach. Hans vergaß nichts Wichtiges, nichts, was für die Durchführung der Expedition Quesadas von Bedeutung sein konnte. Nur eines verschwieg er aus einem Gefühl heraus, das er sich selbst nicht recht erklären konnte: Er erzählte nichts von der feierlichen Zeremonie an der Lagune von Guatavita.
»Und so haben wir denn«, schloss Hans, »das Land der Chibcha, das wir als die ersten weißen Männer betreten haben, für des römischen Kaisers Majestät und unsere Herren, die Welser, in Besitz genommen.«
Des Spaniers Stirn umwölkte sich. »Verzeiht, Señor, dass ich Euch widerspreche!«, sagte er. »Aber Ihr wisst doch wohl, dass nach der Entscheidung des Indienrats zu Sevilla das Land westlich des Meridians vom Cabo de la Vela zur spanischen Provinz Santa Marta gehört.«
»Es ist immer Brauch gewesen, dass der Erste, der ein unbekanntes Gebiet in India betrat, es für seinen Herrn in Besitz zu nehmen berechtigt ist«, erwiderte Hans.
Quesada ließ, unmerklich lächelnd, seinen Blick über die drei in Lumpen gehüllten Männer gleiten. »Ihr mögt das Land als Erste betreten haben, Señores«, sagte er,
»aber es scheint mir nicht, dass Ihr es erobert habt. Sagtet Ihr nicht, dass Ihr von den Indianern verfolgt aus dem Land geflohen seid?«
Hans biss sich auf die Lippen. Das konnte er nicht gut bestreiten.
»Überlassen wir die Entscheidung der Audiencia in Santo Domingo und dem Indienrat!«, fuhr Quesada mit einer Handbewegung fort. »Nun aber, Señores, wendet Euch an meinen Adjutanten, dass er Euch Kleidung geben lasse und nach Möglichkeit auch Waffen. Verzeiht, dass nichts Besseres zur Hand ist als schlichte Soldatenröcke. Und dann bitte ich Euch, Señores, seid heute Abend meine Gäste.« Er verneigte sich, und die Freunde waren entlassen.
Der Zunftgenosse von Jakob Schmitz, dem lustigen Kölner – er stammte aus Sevilla, der klassischen Stadt der Barbiere – verstand sein Handwerk. Er schnitt Fabricius und Kressel prächtige Spitzbärte, Hans rasierte er die rotblonden Stoppeln um Wangen und Kinn glatt ab. Über Hansens goldblondes Haupthaar geriet er förmlich in Entzücken. Als Hans sich nach vollendetem Werk im Spiegel betrachtete, sah er ein junges, männliches Gesicht mit ruhigen blaugrauen Augen und einem feingeschnittenen energischen Mund. Ich bin älter geworden, dachte Hans, aber ich bin noch jung.
Das Mahl nahmen Hans, Fabricius und Kressel mit Quesada und seinen Offizieren auf dessen Brigantine ein. Zischende Viper hatte sich, ohne ein Wort zu sagen, den Indianersklaven zugesellt. Dort war sein Platz, jetzt, wo wieder europäische Zivilisation regierte.
Es gab Leckerbissen, nicht nur köstliche Magdalenenwelse, sondern auch Eier, richtige Hühnereier, denn der Feldprediger, ein lebenslustiger Pater, schleppte sogar ein Hühnervolk mit, damit die Herren des Stabes den gewohnten Eiergenuss nicht zu entbehren brauchten. Dazu gab es feurigen spanischen Wein. Auf dem Deck des Schiffes, über dem sich der herrliche sternenbesäte tropische Himmel wölbte, herrschte bald eine gedämpfte Fröhlichkeit, denn es gehörten zu Quesadas Stab eine ganze Reihe junger Leutnante und Kornette. Schließlich brachte einer der Jungen sogar eine Gitarre zum Vorschein und begann ein wenig zu klimpern. Bald tönte, von angenehmer Stimme gesungen, ein spanisches Lied durch die Tropennacht. Als der Spanier geendet hatte, wandte er sich an Hans mit der Frage, ob er nicht auch ein Lied zum Besten geben wolle. Hans, der in Sevilla ein wenig Gitarre hatte spielen lernen, griff nach dem Instrument und schlug ein paar Töne an. Was sollte er singen? Plötzlich sang er – es sang gleichsam aus ihm heraus:
Surubu loma
nevin ra
canan cruz
nigua gra.
Als er geendet hatte, schwiegen alle. Man verstand natürlich die Worte nicht, aber die Zuhörer hatten das Gefühl, dass es ein trauriges Lied sein müsse.
»War das Deutsch?«, fragte der junge spanische Offizier nach einer Weile.
»Nein«, sagte Hans, »es war nicht deutsch.« Gedankenvoll sah er auf den schwarzen Strom hinaus. Es schien ihm, als winke ganz von fern, entschwindend gleichsam für immer, Kamaliá, Tochter des Schwälbchens. Arme kleine Indianerin!
Quesada bemühte sich sehr, die Freunde oder wenigstens Hans als Pfadfinder für seine Expedition zu gewinnen. Er versprach ihnen Kapitänsstellen und reichen Beuteanteil, aber die Freunde lehnten ab. Sie seien den Welsern verpflichtet, erklärten sie, und müssten dem deutschen Handelshaus möglichst bald die Ergebnisse ihrer Reise mitteilen.
Quesada fühlte sich in keiner angenehmen Lage. Es schien ihm keineswegs im Interesse der Spanier und ihrer Unternehmungen zu liegen, wenn die außerordentlich wichtigen Entdeckungen der Freunde den deutschen Wettbewerbern schnell bekannt wurden. Schließlich trug aber doch seine Ritterlichkeit den Sieg davon. Er erklärte sich bereit, für die Reise der Freunde eine Piroge mit der nötigen indianischen Rudermannschaft und einem spanischen Leutnant als Führer zur Verfügung zu stellen. Voll herzlicher Dankbarkeit nahmen die Freunde das Angebot an.
Am dritten Tag war das Schiff fahrbereit. In der Morgenfrühe gingen die Freunde an Bord. Quesada und sein ganzer Stab waren erschienen, um von den kühnen Eroberern nach spanischer Sitte mit Händedruck und Umarmung Abschied zu nehmen. Dann setzte sich das Schiff unter den Abschiedsrufen der Soldaten, die am Ufer standen, stromab in Bewegung. Die zwölf nackten Indianer, die im Vorderteil des Schiffes paarweise saßen, legten sich kräftig in die Riemen. Bald war das Lager der Spanier den Blicken der Freunde entschwunden.
Wieder trugen die Wellen des Magdalenenstroms, der nun ruhig und breit dahin strömte, die Freunde der Heimat zu. Sie fühlten sich wie im Himmel und konnten es manchmal gar nicht fassen, dass plötzlich das Ziel, das heißersehnte, in greifbare Nähe gerückt war. Die Piroge war nicht gerade ein bequemes Fahrzeug, aber immerhin besser als die von Wind und Wellen bedrohte gebrechliche Balsa. Rasch durchschnitt sie, von den sehnigen Armen der indianischen Ruderer getrieben, die braunen Wellen des Magdalena.
Der Schiffsführer, ein junger Hidalgo, war voll ehrerbietiger Aufmerksamkeit den berühmten Alemanos gegenüber, die seiner Obhut anvertraut waren. Er sorgte dafür, dass zur rechten Zeit ein reichliches Mahl bereit war, ja er wollte es nicht einmal zulassen, dass die Freunde durch einen gelegentlichen Jagdausflug etwas zur gemeinsamen Tafel beisteuerten.
Schon nach sechs Tagen wurde die Mündung des Cauca, des großen linken Nebenflusses des Magdalena, passiert. Am nächsten Morgen wies der junge Spanier nach Nordosten. Schneehäupter zeigten sich dort.
»Sie schauen auf Santa Marta herab, diese Berge«, sagte er. »Geduld, nur noch ein klein wenig Geduld!«
Ein wenig später näherte sich die Piroge einer Stelle, wo sich der Fluss in drei Arme spaltet. Auf gut Glück wählte der Schiffsführer den mittelsten Arm, der ihm am wasserreichsten schien. Einige Stunden lang ging alles gut, aber dann saß das Fahrzeug im zähen Schlamm fest. In glühender Hitze, umschwärmt von Wolken von Stechmücken, zogen es die Schiffer rückwärts aus dem Morast. Alle halfen mit. Gewaltig legte sich Kressel in die Seile. Vielleicht wären sie ohne die Hilfe des bärenkräftigen Hessen niemals wieder flott geworden. Doch nun musste stundenlang zurückgerudert und der Versuch gemacht werden, auf einem der anderen Wasserarme weiterzukommen. Reichlich ein Tag ging darüber verloren. Es schien aber, dass man nun im richtigen Fahrwasser war.
Unverwandt schaute Hans über die Spitze des Schiffs in die Ferne. Oft glaubte er in der unendlichen Fläche, über der die heiße Luft zitterte, den Meeresspiegel zu erkennen, aber immer wieder sah er sich getäuscht. Noch viele Tage gespannter Erwartung vergingen.
Eines Morgens, von Ungeduld verzehrt, eilten die Freunde dem Schiff zu Land voraus. Die Füße versanken fast im trügerischen Morast, der völlig unter der saftigen Grasdecke verschwand, aber man roch das Meer. Eine Brise aus Nordosten wehte den Freunden um die heißen Köpfe. Und da, endlich, endlich lag ein glänzender Spiegel, das Meer, vor ihnen! O Meer, du herrliches, du geliebtes, heißersehntes Meer! Überwältigt schauten die Freunde in die Weite, und eine regenfeuchte, flache Küste mit ein paar sturmzerzausten Bäumen tauchte in ihren Gedanken vor ihnen auf: die Küste der Heimat, die deutsche Küste.
Als wolle in einem letzten verzweifelten Kampf das Land rachsüchtig die Männer festhalten, die seine Geheimnisse entschleiert hatten, gab es noch in letzter Stunde einen Aufenthalt. Die Mündung des Magdalenenstroms sperrte eine mächtige Barre, durch die ungeheuren Erdmassen entstanden, die der Magdalena seit Urzeiten dorthin gewälzt hatte. Auf dieser Barre lief das Schiff noch einmal auf. Ihn Angesicht der offenen See mussten die Freunde zwölf Stunden tatenlos ausharren, bis mit Einbruch der Dunkelheit die aufkommende Flut das Schiff flott machte. Von der Mündung des Magdalena bis nach Santa Marta dauerte die Fahrt nur noch eine Nacht. Die Freunde verbrachten sie wachend. Wunderbar wölbte sich über ihnen der Sternenhimmel, grüßten im Norden die Sternbilder der Heimat, während die Piroge in der leichten Meeresdünung schaukelte. Bei Sonnenaufgang lag in einer Landschaft von paradiesischer Schönheit Santa Marta vor ihnen, an einer lieblichen Bucht zu Füßen der gewaltigen Sierra de Santa Marta, deren schneebedeckte Häupter sich scharf gegen den tiefblauen Himmel abheben. Ein primitives Fort, eigentlich nur einige Erdwälle, schützten die Stadt, die, erst vor wenigen Jahren gegründet, ähnlich wie Coro nur aus ein paar Hütten bestand. Ein Kanonenschuss verkündete den Bewohnern das Nahen des Bootes. Sie liefen am Strand zusammen, wo die Piroge landete, und halfen das Schiff auf den weißen Sand ziehen. Die drei unbekannten, stattlichen Männer erregten großes Aufsehen. Es war fast wie damals beim Einzug in Guatavita. Die Menge folgte den Freunden, die der spanische Leutnant nun zum Adelantado, dem Gouverneur der Provinz Santa Marta, führte.
Der Empfang durch den Adelantado Fernando de Luga war sehr frostig. Luga war ein erbitterter Feind der Welser. Es gelang Hans nur mit Mühe, den Spanier davon zu überzeugen, dass er und seine Kameraden nicht Spione Federmanns seien, von dem sie bei dieser Gelegenheit erfuhren, dass er wieder einmal zu einer Expedition in das Innere aufgebrochen war. Irgendwelche Unterstützung war von dem Spanier nicht zu erwarten. Die sogenannten Segnungen der Zivilisation schienen vielmehr recht fragwürdig. Die Heimgekehrten litten plötzlich an einem Mangel, den sie in der Wildnis niemals gefühlt hatten: Sie hatten kein Geld. Arm wie Kirchenmäuse waren sie. Man konnte in Santa Marta kaufen, was man zum Leben brauchte: Mehl, Milch, Eier, Fleisch, Gewänder und Waffen, aber es war alles schändlich teuer. Die Freunde wären ohne die Gastfreundschaft des liebenswürdigen Leutnants, der sie auf der Reife den Magdalena hinab begleitet hatte, in arge Bedrängnis geraten. Täglich gingen sie hinunter zum Strand und schauten nach einem Schiff aus, aber es vergingen Wochen, bis endlich ein weißes Segel am Horizont erschien. Es war die flämische Brigg Onze Lieve Vrouw van Mechelen, von Cartagena nach Santo Domingo bestimmt. Der Kapitän, riesenhaft, blondbärtig, mit einem gutmütigen, fröhlichen Gesicht, war sofort bereit, die Freunde – »meine lieben Landsleute«, wie er sagte – mitzunehmen. Ja, er versprach sogar, Coro anzulaufen, das nicht weit von seinem Kurs lag. Die schüchterne Frage nach den Kosten der Überfahrt tat er mit einer Handbewegung ab.
So gingen die Freunde eines Abends freudigen Herzens an Bord. Santa Marta und der Adelantado kümmerten sich nicht um ihre Abreise, nur dass im letzten Augenblick ein spanischer Beamter an Bord kam, um den Zoll, den königlichen Fünften, von allem »ausgeführten Gut« zu erheben. Die drei Männer, die kaum noch ein Hemd auf dem Leibe hatten, lachten ihm hell ins Gesicht, was den wichtigen Bürokraten sichtlich verdross. Hans’ Perlen waren schon lange, ehe der Zöllner erschienen war, vom Kapitän an sicherem Ort verwahrt worden.
Auch der spanische Leutnant war mit zum Schiff gefahren. Beim Abschiednehmen warf er sich Hans mit südländischer Lebhaftigkeit an die Brust. Kressel und Fabricius reichte er nur die Hand. Von der Reling des Schiffes winkten ihm die Freunde noch lange nach, als das Kanu ihn wieder ans Land zurückbrachte.
In der Nacht lichtete Onze Lieve Vrouw van Mechelen die Anker. Der Wind war widrig. Der Nordostpassat war dem östlichen Kurs des Schiffes gerade entgegen, sodass die Überfahrt nach Coro ungewöhnlich lange dauerte. Die Freunde fieberten vor Ungeduld. Endlich sahen sie, wie damals an jenem schicksalsschweren Februartag des Jahres 1535, die Hütten des Welserstädtchens vor sich, und wie damals ruderten ein paar Kanus auf das Schiff zu, das auf der Reede lag.
Hans schlug das Herz am Hals. Niemals, auch nicht in den vielen gefährlichen Augenblicken der vergangenen Jahre, hatte er sich so gespannt und erregt gefühlt. Im vordersten Kanu saß ein blonder Mann mit hagerem, von der Sonne gebräuntem Gesicht. Die deutsche Abstammung war unverkennbar. Hans glaubte sogar, das Gesicht von der Überfahrt der Trinidad her zu kennen.
»He!«, schrie er, als das Kanu in Rufweite war. »He, Landsmann, wo ist Hohermut?«
Der Angerufene sah die Männer an der Reling des Schiffes einen Augenblick verständnislos an. Dann rief er zurück: »Hohermut? Das weiß ich nicht, das weiß niemand. Hohermut ist verschollen. Der kehrt wohl niemals mehr zurück.«
Wie ein Donnerschlag traf die Freunde die schreckliche Kunde. Hohermut, der Held, der Führer, der Tapferste der Tapferen, der Treueste der Treuen – verschollen, erschlagen, vielleicht verhungert, verdurstet im indianischen Land!
Sie hatten auf einen anderen Empfang gehofft. Mit gesenkten Köpfen und bekümmerten Mienen verabschiedeten sie sich von dem freundlichen Kapitän und fuhren im Kanu des deutschen Landsmanns – er hieß Wetz und stammte aus der Pfalz – an Land.