Der Freibeuter – Das Attentat
Der Freibeuter
Zweiter Teil
Kapitel 17
Schneidend strich die Morgenluft über das Meer, auf dem die Nacht in unförmlichen Massen lag. Leise lief ein Schifflein von Schonen nach Seeland zu. Als die ersten Vorboten des Morgens jene lichtgrauen Streifen am fernsten Osthimmel, die düstere Meerflut mit schwachem Widerschein durchzitterten, näherte sich die Schaluppe dem Ufer. Der Tag stieg langsam wie ein träger Schläfer auf und sah verdrießlich auf das ruhige Meer und das schweigende Land. Die Schaluppe versuchte sich vor seiner zunehmenden Helle zu verbergen. Sie bog um Güldenlund in eine kleine Meerzunge ein, über welche die von Kopenhagen am Strand hinlaufende Straße eine breite steinerne Brücke geworfen hat. Unter den Bogen dieser Brücke hielt das kleine Schiff an. Hier war es jedem neugierigen Auge verborgen. Am schmalen Uferrand, neben den Pfeilern der Brücke, wand sich, die Blicke vorsichtig nach allen Seiten gewendet, jener schlaue Schiffsjunge Juel Swale hervor, den die Natur zum Spion bestimmt zu haben schien. Mit einigen Sätzen war er über die Landstraße hin und flog mehr als er ging dem Hafen zu. Er war dieses Mal als Betteljunge gekleidet und trug in seiner Jacke ein Stück Brot und einige Kupferpfennige. An den Hafengebäuden angelangt, in welchen es eben anfing, lebendig zu werden, schlich er wie eine Katze um die Zäune. Als er sich irgendeine schickliche Stelle erspähte, die er gesucht hatte, kauerte er sich am Boden zusammen, als ob er schliefe. In dieser Stellung hatte er noch nicht lange gelegen, als er aus einem der Gärten Schritte und Stimmen vernahm. Nun schnarchte er aus Leibeskräften.
»Behüte dich Gott, Sigbritte«, sagte eine Männerstimme vertraulich und herzlich. »Heute und morgen habe ich Dienst, aber übermorgen komme ich wieder.«
Es rauschten einige Küsse auf den vollen Lippen eines Mädchens, ein zärtliches Lebewohl tönte von ihnen, dann sprang der Mann durch den Zaun und war auf der Straße.
»I, du lieber Gott!«, rief er mit mitleidiger Verwunderung, »liegt da so ein armer Kegel unter deinem freien Himmel eine kalte Nacht hindurch und schläft. Junge, so steh’ doch auf! Armer Teufel, magst schön gefroren haben! O Christ, mein Herr, da hab ich wärmer gelegen in dieser Nacht!«
Joel hatte unvermerkt geblinzelt, ob er des Mannes, den er gesucht hatte, gewiss sei. Als er sich überzeugt hatte, es sei der Rechte, übergab er sich aus Schelmerei wieder einem so tiefen Schlaf, dass der Mitleidige Mühe hatte, ihn aufzurütteln.
»Junge, bist du toll, hier am Zaun auf offener Straße zu schlafen? Warum krochst du nicht zu den Matrosen oder in einen Stall?«
Joel spielte die Rolle eines eben aus tiefem Schlaf Aufgerissenen gut. Erst nach einer Pause stammelte er: »Ach, lieber Herr, ich war zu todmüde. Ich bin hier umgefallen. Und Geld hab ich keines, als diese paar Pfennige, damit hab ich mich nicht getraut, in ein Haus zu gehen. Die Hunde beißen einen gar arg.«
»Aber wer bist du denn, und woher kommst du? Wem gehörst du an?«
»Ich gehöre gar niemand an. Bin aus Jütland. Mein Vater ist von den Schweden erschlagen worden, er war ein Schiffsbauer. Meine Mutter ist gestorben, unsere Hütte ist eingefallen, und im Dorf sind sie selbst alle arm. Da sagten sie zu mir, ich solle nach Kopenhagen gehen zum König, der müsse mich einen Zimmermann werden lassen, denn mein Vater sei ja in des Königs Dienst gestorben. Da bin ich fortgegangen und habe mich bis hierher gebettelt.«
»Bist ein schmucker Junge und gefällst mir. Warte, dir soll geholfen werden. Hier hast du Münzen, damit geh dort um die Ecke herum in die Herberge. Iss und trink und lass dir’s wohl sein. Jetzt ist’s ungefähr halb sechs Uhr. In drei Stunden sei in jenem Dorf, was dort aus dem Morgennebel guckt. Stelle dich vor dem Dorfe an die Straße, am besten auf die Brücke. Und wenn du auch eine Stunde warten solltest, so werden doch endlich fünf Reiter kommen, wovon zwei vorn reiten, zwei folgen und ich zuletzt. Den jungen bleichen Mann von den Vordersten schrei um Hilfe an. Ich will ihm dann deine Geschichte schon erzählen. Winsele nur recht. Es wird dir geholfen!«
»Wer ist der Herr, den ich anflehen soll, und wer seid Ihr, lieber Herr, der mir so guten Rat erteilt?«
»Na, es wäre eigentlich gar nicht nötig, dass du es eher erführst, bis dir geholfen ist, aber weil du mir gefällst, Büblein, so will ich’s dir sagen. Der junge Mann ist Sr. Königliche Hoheit, der Kronprinz Christian von Dänemark, der heute seinen Morgenritt hierher nehmen wird, und ich bin Sr. Hoheit Leibdiener, Iverbrink.«
»Aber, aber wird denn die hohe Königliche Hoheit nicht gleich einen so armen Jungen tot reiten, der sich wagt, ihr in den Weg zu treten?«
»Du bist ein dummes Kind! Der Kronprinz ist gar ein lieber, frommer Herr, der gern allen Armen helfen möchte. Gutes tut er gewiss allen, die sich ihm vertrauensvoll nähern. Glaub nur, er wird eine rechte Freude haben, dir Gutes zu erweisen.«
Joel versprach, sich am bestimmten Ort einzufinden, und Iverbrink eilte zurr Stadt. Sobald sich der Junge allein sah, ging er anbefohlener Maßen in das bezeichnete Wirtshaus und bestellte sich ein mageres Frühstück. Er hatte dort noch keine halbe Stunde zugebracht, als ein seemännisch gekleideter Mann hereintrat, der ihn mit den Augen freundlich grüßte und sich neben ihn setzte, ohne jedoch ihn anzureden. Aber kaum war der Wirtsknecht aus der Tür, als der Seemann den Schiffsjungen leise fragte: »Ist dir der coquin in das Ankertau gelaufen und hängen geblieben?«
»Vortrefflich!«, versetzte Juel und erzählte das Erlebnis dieses Morgens.
»Ma foi! Ich wusste, dass der dumme Vogel an diese Beere gehen würde. Aber es ist doch nicht so geglückt, wie ich gern wünschte. Monsieur Iverbrink hätte dich gleich mitschleppen sollen. Ich wollte wetten, der Kronprinz hätte dich ohne Weiteres bei sich behalten, und dann wäre des Kapitäns Plan besser geglückt, als er mit seiner Klugheit berechnen kann. Er übereilt sich.«
»Lasst doch, Herr Courtin«, versetzte der Junge, »ich denke, das Glück ist mir so günstiger gewesen. Was hätte es mir denn geholfen, wenn mich der Leibdiener mit in das Schloss genommen hätte? Auf keinen Fall wäre ich doch sogleich in die Nähe des Kronprinzen gekommen, sodass ich ihn belauschen und die günstige Stunde hätte abpassen können, und wenn ich das wirklich vermocht hätte, wo wäre dann mein Kapitän gewesen? Er kann ja nicht gut einen Tag hier liegen, ohne sich zu verraten. Glaubt Ihr denn, man kennt ihn nicht? Nennt nur einmal seinen Namen laut und Ihr sollt Euer blaues Wunder an den erschrockenen dänischen Schafsgesichtern sehen, die um Euch herumstehen werden.«
»O, ich weiß, ich weiß!«, rief der Franzose. »Ich hab es versucht, ganz Dänemark hat Respekt vor John Norcroß.«
»Nun also! Langes Zögern brächte Gefahr. So aber hat mich die gute Seele auf die Brücke bestellt, gerade auf die Brücke, unter welcher unsere Schaluppe versteckt liegt. Der Kronprinz kommt mit kleiner Begleitung, er hält sich jedenfalls etwas bei mir auf, indem ihm der Leibdiener meine vorgeblichen Schicksale erzählt. Ist dies nicht der günstige Augenblick für einen unserer vierschrötigen Matrosen, die schwache Königliche Hoheit sachte von hinten vom Pferde zu ziehen und huckepack in die Schaluppe hinabzutragen, so kommt kein anderer wieder.«
»Du hast recht, kleiner Fuchs. Es geht vielleicht so am besten.«
»Euer Vorschlag, Meister Courtin, hat sich demnach als gut und praktikabel bewährt. Nun sagt mir auch, wie Ihr auf den Einfall gekommen seid, mich hinter den Zaun an der Landstraße zu platzieren. Ihr wart vorgestern, als Ihr mir die Stelle gezeigt habt, sehr schweigsam über diesen Punkt, und ich hatte Eile, wie Ihr wisst, weil unser Boot bereits abfahren wollte.«
»Ich brachte durch meine Nachforschungen heraus, dass der Kronprinz sehr mildtätig ist und diesen Iverbrink, eine seelengute Haut, gleichsam zum Spürhund für alles arme Gesindel hält. Dieser führt seinem Herrn entweder die pauvre Canaille zu oder fertigt sie selbst ab. Der Kronprinz liest dabei fleißig in der Bibel und gilt nun für einen frommen und gottesfürchtigen Herrn. Übrigens ist ihm kein Schelmenstreich zu toll. Davon aber spricht man nicht, wenigstens nicht öffentlich. Und wie der Herr, so das Geschirr. Iverbrink ist noch etwas dümmer als sein Herr, er hat aber doch mit der Tochter eines Schiffsbaumeisters eine Liebschaft, ganz auf den Fuß derjenigen seines Herrn eingerichtet. Das heißt, er bringt alle Wochen zwei Nächte, wann er den Dienst hat, bei dem hübschen Kind zu. Von diesen Geschichten erfuhr ich im Stillen und baute darauf meinen Plan, dich dem Leibdiener und durch diesen dem Kronprinzen unterzuschieben. Denn Ihr müsst doch endlich einmal zum Ziel gelangen. Es sind ja wohl schon vierzehn Tage, dass Ihr bei Nacht über die Kopenhagener Reede stecht und am anderen Tag unverrichteter Dinge wieder heimkehrt.«
»Erst zehn volle Tage sind’s, Meister, als wir zum ersten Mal anlegten. Drei Tage blieben wir da versteckt, am vierten brachte ich Euch den Brief vom Lieutenant Flaxmann, und an diesem Tag hätten wir die Hoheit fast auf der Jagd erwischt. Der Teufel muss uns ein Ei hineingelegt haben, denn alles war vortrefflich eingeleitet. Nun kurz, er ritt nicht am Strand hin und wir warteten vergebens. Hernach passten wir ihn auf der Straße hinter dem Jagdhaus auf, aber er kam mit einem Gefolge, als wollte er in den Krieg ziehen, und wir durften uns nicht an ihn wagen. Und heute sind wir zum dritten Mal da.«
»Nun, bei meinem Schutzpatron, ich wollte, es gelänge Euch heute. Morgen, sur le nom de Dieu! nähme ich Reißaus und wäre bald in Schweden bei meinem lieben Herrn. Es will mir ohnedies nicht recht in dänischen Diensten gefallen.«
»Glück zu!«, rief der Junge, »dann werdet Ihr auf dem Schiff, welches Lieutenant Flaxmann nächstens als Kapitän führen wird, gewiss Kapitänleutnant werden. Und meiner Wenigkeit hat Kapitän Norcroß versprochen, dass ich sogleich nach der Ausführung unseres Coups als Kadett angestellt werden soll.«
»Lass uns ein Glas auf den besten Erfolg leeren! Du verstehst das, trotz deiner jungen Jahre, schon eben so gut, als Spitzbübereien treiben, und der König von Schweden wird einst keinen besseren Kaper haben wie den Kapitän Joel Swale.«
»Dann mach ich wenigstens meinem Lehrmeister keine Schande. Denn wahrlich, Se. Majestät hatte jetzt keinen besseren Kaper als den Kapitän John Norcroß. Das wissen auch die Dänen. Nicht wahr?«
»Ja tête bleu! Das wissen sie. Kapitän Norcroß soll leben, Junge!«
Sie stießen an und zechten. Hernach schlich Joel, mit Courtins Grüßen und Ratschlägen befrachtet, wieder hinter den Zäunen davon und war in kurzer Zeit auf der Güldenlunder Brücke. Als er mit scharfem Auge die Gegend ringsum durchspäht und nirgends etwas Verdächtiges entdeckt hatte, huschte er an dem Brückenpfeiler hinab, drückte sich an der Mauer hin um den Bogenrand und stand mit einem Sprung auf dem Schnabel der Schaluppe.
Kapitän Norcroß und Leutnant Flaxmann, beide als gemeine Matrosen gekleidet, eilten ihm entgegen, und der Junge erzählte seine Verrichtung, brachte die Grüße von Courtin und riet, sich sogleich zum Wagestück bereitzuhalten. Norcroß jubelte und gab dem Jungen zärtliche Namen.
»Wahrlich, du beschämst uns alle, meine schlaue Wasserratte, denn was unserer Klugheit nicht gelingen wollte, das wird dein Glück und natürlicher Witz ausführen.«
»Und bist du auch bei dem Fräulein von Ove gewesen und hast ihr meinen Auftrag überbracht?«, fragte Flaxmann.
»Nein, gnädiger Herr, weil mir die Hauptsache zu sehr am Herzen lag. Die Zeit drängt. Haben wir erst den Kronprinzen, dann will ich Euch das Fräulein selbst holen. Ihr braucht alsdann nicht mehr durch Briefe und Bestellungen einander heimzusuchen, sondern könnt hübsch Tag und Nacht selbst miteinander verkehren.«
»Du hast wohl daran getan, dass du dich heute nicht in die Stadt gewagt hast«, sagte Norcroß.
Flaxmann aber machte ein düsteres Gesicht.
»Überhaupt«, fuhr der Kapitän fort, »will es mich jetzt mehr und mehr bedünken, als hätten wir doch weit besser getan, die Frauen aus dem Spiel zu lassen. Es hat uns bis jetzt keinen Segen gebracht, das wir das Fräulein von Gabel mit in unser Geheimnis gezogen haben.«
»Ihr sprecht Euch nur selbst das Urteil, Kapitän«, versetzte Flaxmann. »Es war Euer eigner Wille. Oder nein! Es war der Zug Eueres Herzens.«
Norcroß schwieg betroffen. Endlich sagte er: »Es komme, wie es wolle. Wir pausieren heute oder müssen unser Heil noch mehr versuchen. Ich habe nicht Lust, mit diesem Mädchen ferner zu verkehren. Weiber bleiben immer Weiber.«
»Wie es Euch beliebt, Kapitän. Ich weiß eine Zeit, wo Ihr anders spracht.«
»Die Ansichten ändern sich«, versetzte Norcroß sich abwendend und seufzte. Er hatte die Hand unwillkürlich auf das Herz gelegt, als wolle er mit derselben dort einen auflodernden Schmerz ersticken.
Inzwischen war die Zeit herangekommen, wo Joel nach Iverbrinks Bestellung auf der Brücke sein sollte. Er kroch also wieder hinauf und kauerte sich an die Brüstung nieder. Norcroß gab seinen Matrosen Befehl, die Flinten zu laden und die Schaluppe flott zu halten.
Juel sah zu seinem Ärger eine große Anzahl Menschen in einzelnen Gruppen von der Stadt herkommen. Es gingen teils einzelne Menschen, teils Gesellschaften häufig an ihm vorüber. Mancher warf ihm eine kleine Gabe zu. Joel bedankte sich kaum, unwillig über den dadurch bewirkten Verzug des im Stillen verwünschten Schenkers. Endlich sah er einen kleinen Trupp Reiter und gab das verabredete Zeichen durch ein lautes Husten. Norcroß, Flaxmann und sechs Matrosen, die Ersteren mit verborgenen Pistolen, stiegen behutsam herauf, und Norcroß hatte sogar die Verwegenheit, auf die Brücke zu treten und sich auf die Brüstung wie ein fauler Matrose aufzulehnen. Die Anderen hielten sich unter der Brüstung verborgen. Die Reiter kamen näher. Es war der Kronprinz mit dem Marschall von Gersdorf, die beiden Kammerjunker, von Raben und Reikov, und der Leibdiener Iverbrink. Sobald des Kronprinzen Pferd die Brücke betreten hatte, warf sich Joel nieder und flehte kläglich um Gnade und Erbarmen. Der Kronprinz winkte dem Leibdiener, den Betteljungen zu beschenken. Dieser leistete dem Befehl Folge und sagte, indem er sich herabbog: »Ach, du bist’s ja, armer Kleiner!« Und sogleich ritt er an den unterdessen einige Schritte weiter gekommenen Kronprinzen und sagte: »Ew. Königliche Hoheit erlauben, dies ist kein gewöhnlicher Bettelknabe. Ich kenne ihn. Er hat ein wunderliches Schicksal und ist ein allerliebstes Kind.«
»Nun so erzähle!«, rief der Kronprinz, und Iverbrink berichtete, er hätte ihn bei seinen Frühritten vor einigen Tagen schlafend gefunden, und begann das erlogene Schicksal des Jungen zu referieren. Norcroß sah zurück und machte sich fertig, auf den Kronprinzen loszustürzen und ihn rücklings vom Pferd zu reißen. Er warf noch einen Blick auf die Straße, da gewahrte er zu seinem größten Verdruss einen Trupp Menschen, die kaum noch einige Hundert Schritte von ihm waren. Es war unmöglich, den Angriff im Angesicht dieser Leute zu wagen, und doch war es mehr als wahrscheinlich, dass, ehe sie weit genug entfernt seien, der günstige Augenblick und mit ihm der Kronprinz vorüber wäre. Doch der Leibdiener war umständlich, und Juel, der die herankommenden Menschen auch wahrgenommen hatte, so schlau, ihn oft mit Winseln und Klagen zu unterbrechen, auch sogar einige Male die Sache anders zu erzählen, alles, um nur Zeit zu gewinnen. Der Kronprinz hörte geduldig zu und richtete sogar einige verfängliche Fragen an Juel, die dieser aber pfiffig beantwortete. Die Leute waren unterdessen herangekommen und gingen mit entblößten Häuptern hinter den Pferden weg. Norcroß, von der Tigerbegierde, mit welcher er auf sein Opfer hinstarrte, unvorsichtig gemacht, wendete weder das Gesicht ab, noch suchte er es in der Jacke oder unter dem Hut zu verbergen. Er wartete mit der peinlichsten Ungeduld, dass die Leute die Brücke erst im Rücken haben möchten. Plötzlich hörte er die Worte in sein Ohr tönen: »Da steht ein Kerl, wenn der nicht aussieht, wie der schwedische Freibeuter Norcroß, so will ich heute noch am Focktau hängen.« Aber der Halbverratene verriet sich nicht ganz. Obgleich ihm diese Worte alle Nerven zucken machten, so verzog sich doch keine Miene in seinem Gesicht. Er sah sich gleichgültig um und gewahrte zwei Matrosen in der Gesellschaft der Lustwandler, von denen ihm einer bekannt vorkam.
»Du bist nicht klug«, versetze der andere. »Wie sollte dieser Seehahn sich hierher wagen?«
»Ich werde doch den Norcroß kennen«, sagte der erste Sprecher wieder. »Hat er mich doch zweimal in seinen Klauen gehabt, und es ist ja kaum ein gutes Vierteljahr her, dass er mich am jütländischen Wall aufbrachte und nach Marstrand schleppte, wo mich es meine dreißig Taler kostete, um frei zu werden. Wenn nur der gnädige Herr Kronprinz nicht da in der Nähe hielte, so wollte ich ihn anreden. Die Ähnlichkeit kann nicht größer sein, wenn’s ein anderer ist. Aber es ist wider den Respekt, da stehen zu bleiben.«
Norcroß stand wie auf glühenden Kohlen, aber er sollte in noch größere Verlegenheit kommen. Er sollte das spitze, zweischneidige Schwert an einem Pferdehaar über seinem Haupt schweben sehen.
Der Kronprinz fragte nämlich in diesem Augenblick: »Was stehen die Leute dort? Warum ist die Straße heute so lebhaft?«
Der Marschall von Gersdorf ritt heran, tat aber nur die letzte Frage an die beiden Matrosen. Sie antworteten also auch nur: »Es ist heute Wurstschmaus und Tanz in Güldenlund.« Sie eilten sodann, dass sie fortkamen. Hätte er die erste Frage des Kronprinzen auch an sie getan, so wäre Norcroß ohne Zweifel verraten gewesen.
Aber in demselben Augenblick sprengte der Kronprinz davon, indem er Joel zurief: »Komm Nachmittag aufs Schloss. Ich will für dich sorgen.«
Auf seinen Wink warf Iverbrink dem Jungen noch ein Geldgeschenk zu. Der Marschall von Gersdorf hatte unterdessen den verkappten Kaperkapitän einen Augenblick lang mit den Augen fixiert und ritt dann, in Nachdenken versunken, neben dem Kronprinzen, sodass dieser ihn fragte, warum er plötzlich so stumm geworden sei.
»Es stand dort ein Matrose«, antwortete der Marschall, »dessen Gesicht ich früher schon gesehen habe, aber in einem anderen Rock, und vergebens besinne ich mich, wo und in welchem Verhältnis.«
»Das ist ja leicht möglich«, versetzte der Kronprinz, »wer wollte sich darüber den Kopf zerbrechen.« Sie ritten weiter.
»Jetzt hab ich’s!«, rief plötzlich der Marschall, »es ist der englische Graf, der voriges Jahr auf seltsame Weise zu uns auf dem Weg zur Jagd, die Eure Hoheit dem Zaren zu Ehren hielt, kam und verschwand, und das Fräulein von Gabel entführt haben sollte.«
»Ists möglich? Derselbe? Sie irren, Baron.«
»Ich wollte darauf wetten.«
Der Kronprinz wandte sich um. Norcroß war schon unter der Brücke. »Er ist fort«, sagte der Kronprinz.
»Und wenn er es auch wäre, was läge viel daran?« Er sprengte fort, dem Gefolge nach.
Die vorübergegangenen Matrosen nahmen die Sache nicht so leicht wie der Kronprinz. Sobald dieser mit dem Gefolge an ihnen vorüber war, kehrten sie stehenden Fußes um, um den ihnen so auffälligen Kollegen auszufragen. Auch sie fanden zu ihrem Erstaunen weder jemand auf der Brücke noch auf der Straße. Indem sie noch ihre Verwunderung darüber austauschten, strich die Schaluppe mit der Schnelle eines Raubvogels, wenn er aus den Lüften auf seine Beute herabstößt, unter der Brücke hervor und war in wenigen Minuten durch die Kraft gewaltiger Ruderschläge im Meer. Und ehe die fast erschrockenen Seeleute sich nur einigermaßen erholten, flog das schwedische Schifflein schon über die Reede. Jetzt rissen die Lümmel die Mäuler weit auf, und der eine bewies dem anderen mit dummer Freude, dass er doch recht gehabt hatte, und der verdächtige Matrose niemand weiter gewesen sei, als der berüchtigte schwedische Freibeuter. Nun eilten sie mit Sturmschritt auf den Wurstschmaus, um die neue Mär zu verkünden. Man wunderte sich weiter, wie sie sich gewundert hatten, und die Geschichte ging von Mund zu Mund, wie die frischen Rotwürste und das Schnapsglas. Die Neugierigen liefen zu der Brücke und betrachteten sich die leeren Stege, wo das kühne Ungeheuer gestanden haben soll, guckten auch wohl unter die Brücke, wo das Boot gehalten hatte, verfügten sich dann in die Stadt, erzählten es weiter. Ehe es Nacht wurde, war es in ganz Kopenhagen bekannt, dass der gefürchtete Norcroß unter der Güldenlunder Brücke gesteckt hatte.