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Die Macht der Drei – Teil 16

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Seit zwei Stunden saßen die Ministerpräsidenten Deutschlands, Frankreichs und Russlands im Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße zusammen. Sie hatten sich hier getroffen, um sich über eine gemeinsame Haltung in dem zu erwartenden englisch-amerikanischen Konflikt zu verständigen. Doktor Bauer, der Vertreter Deutschlands, fasste das Ergebnis der langen Unterhaltung noch einmal kurz zusammen.

»Die Sympathien … oder vielleicht sage ich besser die Antipathien … für die beiden Gegner sind in den von uns vertretenen Ländern ziemlich gleichmäßig verteilt. Wir haben keinerlei Grund, uns von dem einen oder dem anderen ins Schlepptau nehmen zu lassen. Wir sind an Amerika verschuldet, und England wird uns wahrscheinlich die Annullierung unserer amerikanischen Schulden als Belohnung für eine Gefolgschaft in Aussicht stellen. Wir sind uns klar darüber, dass dies Versprechen, so vorteilhaft es klingen mag, keineswegs ein günstiges Geschäft für unsere Staaten bedeutet. Wir müssten unsere Länder den englischen Heeren für das Durchqueren öffnen und fast sicher auch beträchtliche Opfer an Gut und Blut für eine Sache bringen, die keines unserer Länder interessiert …«

Der baltische Baron von Fuchs, der Vertreter Russlands, nickte schweigend mit dem mächtigen Schädel. Er gedachte der Zeit vor vierzig Jahren, als sein Vaterland sich als erstes europäisches Reich für englische Interessen verblutete. Der hitzigere Franzose platzte mit einem Zwischensatz heraus.

»C’ est ça … wir bluten, und England erntet.«

Der Deutsche fuhr fort: »Ich rekapituliere weiter. Es ist für uns auch wirtschaftlich vorteilhafter, die unbedingte Neutralität zu wahren und für die beiden kriegführenden Parteien mit allen Kräften zu liefern. Die Industriegemeinschaft, welche die französische und deutsche Industrie seit fast einem Menschenalter verbindet, wird die Abmachungen über die Preise für Kriegsmaterial aller Art erleichtern. Um auch Einheitlichkeit mit der russischen Industrie zu sichern, wird so schnell wie möglich ein Industrieausschuss der drei Länder gebildet. Die beiden Kriegführenden müssen uns jeden Preis bewilligen. Wir werden die Preise so stellen, dass wir unsere Schulden loswerden und darüber hinaus verdienen. Das, meine Herren, wären die ersten beiden Punkte unserer Abmachungen. Unbedingte Neutralität und Lieferung an beide Teile zu vereinbarten Preisen. Es ist drittens die Möglichkeit erörtert worden, dass der eine oder andere der beiden Gegner unsere Neutralität nicht respektiert. Dann ist der Casus foederis gegeben. Unsere drei Länder werden jeden Neutralitätsbruch durch einen der Kriegführenden mit vereinten Kräften abwehren.«

»Das sind unsere Abmachungen.« Der Baron von Fuchs sagte es langsam und bedächtig.

Das war der Kern der Sache: »Neutral bleiben, verdienen und einig sein.« So präzisierte es der Marquis de Villaret noch einmal in drei Schlagworten.

»Dann, meine Herren, werde ich, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, ein Kommuniqué für die Abendblätter ausgeben lassen. Der telegraphische Bericht wird für Moskau und Paris noch zurechtkommen. Das Kommuniqué wird nur den Beschluss der Neutralität und die feste Entschlossenheit, diese mit allen Mitteln zu bewahren, enthalten. Die wirtschaftlichen Abmachungen bleiben vorläufig unerörtert.«

 

Der Baron von Fuchs und der Marquis de Villaret bestiegen ihre vor dem Amt wartenden Kraftwagen.

Allerlei Volk hatte sich vor dem Amt versammelt. Alte Veteranen aus dem Weltkrieg, die noch die Erinnerungszeichen eines Kampfes auf der Brust trugen, der der jüngeren Generation wie eine Sage aus alter Mythenzeit klang. Blühende Jugend, die nichts mehr von den Hunger- und Elendsjahren Deutschlands wusste. Dazwischen Männer in bestem Alter. Vertreter der Industrie und des Handels. Repräsentanten großer Werke und Häuser. Sie verbrachten hier am Straßenrand vor dem eisernen Gitter ihre Stunden, die sie sich sonst minutenweise mit Gold bezahlen ließen. Die Nachricht von der Konferenz der drei Ministerpräsidenten hatte ganz Berlin, ganz Deutschland und ganz Europa in Aufregung gebracht. Dr. Bauer begleitete seine auswärtigen Kollegen bis an den Wagenschlag, und während er ihnen zum Abschied noch einmal die Hand schüttelte, sagte er: »Unbedingte Neutralität.« Er sprach es so laut, dass die Nahestehenden es deutlich verstehen konnten. Wie ein Lauffeuer ging das Wort die Straße hinauf. Es lief die Linden entlang und flatterte von Mund zu Mund durch die Leipziger Straße. »Unbedingte Neutralität!« … »Wir bleiben neutral!« … »Wir lassen uns von keinem an den Schlitten fahren!« … »Die Brüder sollen ihre Sache selber besorgen!« …

So flogen die Worte zwischen den Straßenpassanten hin und her.

»Das einzig Vernünftige, was unsere Regierung tun konnte.«

»Selbstverständlich, das einzig Richtige. Wir schonen unsere Knochen und verdienen unser Geld.«

Ein Kaufmann rief es an der Ecke der Behren- und Wilhelmstraße dem anderen zu.

»Haben Sie schon gehört, Herr Geheimrat, wir bleiben absolut neutral.«

Ein Bankdirektor sagte es einem höheren Beamten aus dem Ministerium.

»Ich hörte es. Aber ich denke an die Zukunft. Einer von den beiden muss siegen. Dem Sieger gehört dann die ganze Welt. Wir auch, Herr Direktor.«

»Nicht so pessimistisch, Herr Geheimrat. Die Kämpfenden werden sich furchtbar schwächen. Wie die beiden Löwen in der Sahara, die sich bis auf die Schwanzspitzen aufgefressen haben. Die Welt gehört dann uns, Herr Geheimrat.«

»Der Himmel mag es geben.«

Der Geheimrat ging weiter. Er war so ziemlich der Einzige, der Bedenken hatte. Schon erschienen die ersten Extrablätter und verkündeten die Entschließung der Regierung.

An den Fernsprechern standen die Vertreter der auswärtigen Zeitungen und Industriewerke und teilten den Beschluss nach dem Rheinland, nach Westfalen, Schlesien und Danzig mit. Die Industrie wartete seit Wochen auf das Stichwort, nach dem sie auftreten sollte. Jetzt war es gefallen.