Die Zwillingsschwestern
Eine Fantasy-Kurzgeschichte von Hanno Berg
I
Tapos war Priester im größten Tempel der Hauptstadt. Er hatte eine Frau namens Namea und liebte sie sehr. Beide waren sehr traurig, denn es war ihnen nicht vergönnt, ein Kind zu bekommen, so sehr sie sich auch darum bemühten.
Der berühmte Maler Sagar, dem man nachsagte, er male die Menschen so natürlich, als seien ihre Bildnisse lebendig, schenkte Tapos ein lebensgroßes Bild von Zwillingen, zwei jungen Mädchen in Messgewändern, die sehr anmutig und klug aussahen. Tapos hängte dieses Bild im Tempel nahe dem Altar auf und freute sich daran, wie auch seine Frau Namea.
Als Tapos aber eines Tages eine Messe zelebrierte und dabei den Altar mit Weihwasser bespritzte, gelangten einige Tropfen davon auf das Bildnis der Zwillinge. Im selben Augenblick jedoch wurden die Mädchen, die das Bild zeigte, lebendig und traten aus dem Rahmen. Tapos und seine Frau betrachteten dieses Wunder als Zeichen der Götter, die die Mädchen zu ihnen geschickt hätten, nahmen die Zwillinge in ihr Haus auf, nannten sie Zenda und Wenda und zogen sie groß …
II
Die Zwillinge entwickelten sich unterschiedlich. Während Wenda die Nachfolgerin ihres Vaters als Priesterin wurde, verschrieb sich Zenda der Magie und übte sich im Zaubern. Nach einigen Jahren beherrschte sie diese Kunst perfekt. Einmal verwandelte sie sich in einen Vogel und flog als solcher zum Kloster der weisen Brüder, einem Kloster, in welchem die weisesten Männer des Landes in Gemeinschaft lebten und zu welchem niemand außer diesen selbst und dem Fürsten des Landes Zutritt hatte. Dort angekommen setzte sie sich auf den Ast eines Baumes, der im Atrium des Klosters stand, und belauschte das Gespräch von zwei weisen Männern, die sich gerade dort aufhielten.
»Weißt du, Kapas, unser Fürst hat eben wieder eine Geliebte verstoßen«, sagte der eine der beiden.
»Das wundert mich nicht, lieber Sairon«, sprach der andere. »Er wurde verhext. Nur dann, wenn einmal eine Frau im selben Wasser badet, in welchem er selbst zuvor gebadet hat, kann sie seine Frau werden. So steht es zumindest in unseren weisen Büchern.«
»Dann will ich hoffen, dass solches einmal geschieht«, sagte Sairon. »Unser Fürst würde dann wohl viel zufriedener sein als heute, was den Menschen in unserem Lande sicher zugutekäme.«
»Du sagst es«, sprach Kapas nickend. »Es wäre für uns alle das Beste.«
Im selben Augenblick, als die beiden ihr Gespräch beendeten, flatterte Zenda davon und flog ohne Umschweife nach Hause zurück, wo sie sich wieder in eine junge Frau zurückverwandelte.
Im selben Wasser wie der Fürst muss man baden, dachte sie bei sich. Ich will doch einmal sehen, wie ich solches bewerkstelligen kann.
III
Durch ihre Zauberkräfte bewegte Zenda den jungen Fürsten des Landes dazu, sie zu seiner nächsten Geliebten zu machen. Als sie ihn fragte, ob er sie zu seinem Weib machen würde, sagte er zu ihr dasselbe, was er all seinen Geliebten gesagt hatte. Nur dann, wenn sie ihm einen Thronfolger schenken würde, werde er sie zu seiner Frau machen. Dies jedoch war bisher noch keiner Frau gelungen. Sie alle hatten nur Mädchen geboren, weshalb das Gerücht umging, der Fürst sei verflucht.
Zenda aber begleitete ihn eines Tages zum Badehaus, wo er sich zu waschen und zu baden pflegte. Männer und Frauen badeten in diesem Badehaus zwar getrennt voneinander, doch Zenda konnte es einrichten, dass sie in dem Wasser badete, in welchem zuvor der Fürst gesessen hatte. Nur ein Jahr später gebar sie ihm dann einen Sohn, und er war überglücklich, endlich einen Thronfolger zu haben. Wenige Wochen später wurde die Hochzeit des Fürsten mit Zenda gefeiert. –
Da sich der Fürst den schönen Künsten verschrieben hatte und das Regieren lieber anderen überließ, übernahm nun Zenda die Herrschaft im Lande und regierte hart und ungerecht. Ihr stand der Sinn danach, das Volk auszubeuten und Reichtümer anzuhäufen. Auch lag ihr an Krieg und der Eroberung fremder Ländereien, und so hatte ihr eigenes Volk wie auch die Bewohner der Nachbarländer fortan ein schweres Leben …
IV
Während Zenda als Frau des Fürsten das Land regierte und beim Volk immer unbeliebter wurde, lebte Wenda als Priesterin im größten Tempel der Hauptstadt und wurde von den Menschen verehrt. Da aber Zenda mehr und mehr Lebensenergie für ihre Taten benötigte, wollte es die Natur, dass Wenda mehr und mehr an Kraft verlor und krank wurde. Sie siechte dahin und verlor an Sehkraft, bis sie schließlich blind und dem Tode nahe war.
Es ging das Gerücht um, Wenda werde nur dann wieder genesen, wenn das Licht der Liebe ihrem Herzen leuchte. Kein Mensch im Lande wusste jedoch, wie dies geschehen konnte. So zündeten die Menschen im Tempel Kerzen für die Kranke an und beteten für sie, doch der Zustand der Priesterin verschlimmerte sich mehr und mehr.
Endlich malte sogar der Maler Sagar ein Porträt Wendas, das man im Tempel aufhängte. Vor diesem Bild beteten die Leute nun und hofften, sie möge doch genesen und weiter ihr aller Trost in der harten Welt sein, für die ihre böse Schwester verantwortlich war.
Als Wendas Tod nur noch eine Frage von wenigen Tagen war, verliebte sich ein junger, allerdings sehr hässlicher Mann in ihr Bildnis. Er ließ sich nicht davon abhalten, zu ihrem Krankenlager zu gehen, zu ihr zu treten und ihre Hand zu halten. Im selben Moment aber spürte die Priesterin, wie seine Liebe durch ihre Adern floss und schließlich ihr Herz ergriff. Da begann ihre eigene Seele die seine zu lieben, sie wurde im Nu wieder gesund und konnte wieder sehen. In dem Augenblick, in welchem Wenda ihrem Retter ins Gesicht sah, wurde dieser plötzlich schön, und die Menschen, die dies gesehen hatten, jubelten ob dieses Wunders.
V
Während Wenda erneut zum Leben erwachte und in Liebe zu ihrem Verehrer erglühte, verlor Zenda an Lebenskraft, wurde krank und blind und siechte dahin, ohne dass ihr ein Arzt oder gar ihre Zauberkraft helfen konnten.
Wenda, die einige Tage später davon erfuhr, suchte mit ihrem Bräutigam das Fürstenschloss auf und trat an das Bett ihrer Schwester. Dort ergriff sie selbst deren Hand, und durch Zendas Adern floss im selben Moment der Strom der Liebe bis zu ihrem Herzen.
Da wurde auch Zenda wieder gesund, konnte wieder sehen und schwor dem Bösen ab. Sie legte die Regierungsgeschäfte in die Hände eines gütigen, gerechten Ministers, bei dem auch ihr Sohn das Herrschen erlernte. So wurde das Land nun lange milde regiert, und Friede und Freude hielten bei den Menschen Einzug.
Zenda aber wurde nun auch selbst Priesterin und trat zusammen mit ihrer Schwester in die Fußstapfen des Vaters. Als die beiden eines Tages starben, gelangte ihr Bildnis ohne das Zutun eines Malers auf wundersame Weise wieder in denselben Rahmen, dem sie als Kinder entstiegen waren.
Copyright © 2012 by Hanno Berg