Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 20
Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 20
Als der Zug am Tempel Suas angekommen war, wurden die Fesseln der Gefangenen gelöst. Man führte sie in das riesige Holzgebäude und stieß sie in eine dunkle Ecke. Kressel und Zischende Viper, vom Blutverlust geschwächt, fielen zu Boden und sanken sofort in einen totenähnlichen Schlaf. Hans Hauser und Fabricius kauerten in dumpfer Verzweiflung am Boden. Ein Dutzend Speere starrten ihnen entgegen. Nicht noch einmal würden sie die Guecha entweichen lassen.
Allmählich füllte sich der weite Tempelraum mit Menschen. Heulender Gesang der Chiqui ertönte zum Klirren der Kürbisrasseln und Dröhnen der Fellpauken. Der atemberaubende Dampf des Kopalharzes erfüllte die Luft. Ein paar Weiber wälzten sich am Boden in wilder Verzückung.
In der Ecke des Tempels aber kniete Fabricius. Von den Wächtern ungehindert hob er in Verzweiflung die Arme und betete laut das Gebet des Psalmisten, so wie es sein Lehrer Martin Luther verdeutschte.
»Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!«
Im Kronrat, der am nächsten Tag im Palast des Kaziken stattfand, war das Urteil über das Schicksal der Gefangenen rasch gefällt. Niemand widersprach mehr, als der Herr des Donners vorschlug, sie am Tage der Salbung Windhoses zum Thronfolger Sua, dem Sonnengott, zu opfern. Man bestimmte auch schon die Todesart: für Zischende Viper, den kläglichen Sohn der Wälder, die Vierteilung, für Kressel und Fabricius den Tod unter den Speeren der Guecha. Hans Hauser – so hatte es der »Herr des Donners« beantragt – sollte bei lebendigem Leib geschunden werden. Man gedachte, seine Haut, gefüllt mit Asche, im Tempel Suas aufzustellen samt dem Kopf mit den blonden Haaren, eine Kostbarkeit, um die die Stämme ringsum im weiten Umkreis die Guatavitaner beneiden würden.
Unterdessen führten die Freunde in der Ecke des Suatempels in Dunkelheit und Gestank unter Ratten, Mäusen und Skorpionen ein grauenhaftes Dasein. Ihre tägliche Nahrung bestand fast nur aus einer Kalebasse toll gepfefferten Kakaos. Der abscheuliche Trank verursachte ihnen fürchterliche Durstqualen, eine von dem Herrn des Donners und den Chiqui teuflisch ausgedachte Marter. Auch die bescheidenste Körperpflege war unmöglich. Die Freunde waren völlig verlaust, ihre Kleidung zerrissen. Am übelsten war Kressel daran. Seine Kopfwunde eiterte stark und verursachte ihm heftige Schmerzen. Dagegen heilte die Wunde des Xidehara verhältnismäßig schnell.
Die Freunde wussten nicht, was über sie beschlossen war. Weiße Termite ließ sich selbstverständlich nicht mehr sehen. Aber sie zweifelten nicht daran, dass sie einem schlimmen Tod entgegengingen. Stündlich erwarteten sie, dass man sie zur Hinrichtung schleppen würde. Sie sahen dem Ende in dumpfer Ergebung entgegen. Hans hatte sogar ein Mittel gefunden, sich über die qualvolle Gegenwart für einige Zeit hinwegzutäuschen. Er streckte sich der Länge nach auf dem Boden aus und schloss die Augen. Dann stellte er sich vor, er sei daheim in Konstanz. Er sah den See vor sich und das Münster. Jede Einzelheit des stolzen Baues, das Maß- und Rankenwerk, jeden Ziegel des Daches tastete er gleichsam zärtlich mit den Händen ab. Er sah in der Christnacht den weiten Raum gefüllt von einer andächtigen Menge. Kerzen brennen auf dem Altar. Leise tönt zur Orgelbegleitung das Kyrie eleison der Sängerknaben. Ist nicht einer darunter – blondhaarig und blauäugig – der ihm, Hans Hauser, gleicht?
Die Tempelbesucher versäumten es selten, die finstere Ecke aufzusuchen, wo die Freunde hausten, und die gefangenen weißen Männer wie wilde Tiere anzustarren. Sie lachten und deuteten. Keiner hielt die armseligen Gestalten mehr für Götter. Dann und wann tauchte die höhnische Fratze des Herrn des Donners auf. Einmal begleitete ihn Tochter des Schwälbchens. Hinter dem Rücken ihres Pflegevaters machte sie Hans allerhand verzweifelte Zeichen. Doch Hans begriff nicht, was sie sagen wollte. Verständnislos starrte er sie an. Gesenkten Hauptes verließ die kleine Indianerin an der Seite des Oberpriesters den Tempel.
Dann, eines Tages, kam Tochter des Schwälbchens allein. Sie sank ganz nahe bei der Lagerstätte der Freunde vor einer der scheußlichen Mumien in die Knie, die an den Wänden des Tempels standen. Da es aber der einbalsamierte Körper ihres Großvaters von mütterlicher Seite war, fiel das Gehabe des Mädchens den Wächtern nicht weiter auf. Tochter des Schwälbchens entzündete in einer Tonschale Kopalharz. Weißer Dampf stieg auf. Sie begann Gebete zu murmeln, aber Hans fühlte in den aufsteigenden Weihrauchwolken die schwarzen Augen des Mädchens unverwandt auf sich gerichtet. Er stellte sich schlafend, schob sich aber vorsichtig dichter an die kläglichen großväterlichen Überreste heran, denen Tochter des Schwälbchens so inbrünstige Verehrung zollte. Die liebliche Stimme des Mädchens klang an sein Ohr. Die Gebete, die sie murmelte, verstand er nicht, aber dann kamen im Tonfall des Gebetes Worte aus ihrem Mund, die Hansens Herz erbeben ließen und ihm die Tränen so die Augen trieben.
»O Jüngling des Maises!«, murmelte sie. »Ach … ach, warum hast du mich nicht haben wollen? Du bist der Sonnengott selbst, aber nun hat Chia deinen Schein verlöscht. Traurig ist Tochter des Schwälbchens und ihre Augen sind voll Tränen.«
»Süße kleine Indianerin!«, murmelte Hans.
»Tochter des Schwälbchens betet für dich zu Bochica, dem guten Gott, dass er dich errette. Aber die Stimme eines Mädchens vermag nicht viel, stärker sind die Priester. Ach, sie wollen euch töten, opfern am Tag, wo man Windhose salben wird!«
»Ich weiß, Tochter des Schwälbchens, Kleine, Süße. Ich fürchte den Tod nicht. Ich liebe dich, o Tochter des Schwälbchens!«
Das Mädchen zog unter seinem Brusttuch einen kleinen Kokabeutel hervor. »Nimm«, sagte sie, »Koka … Gift … Gift … vergiftete Blätter …«
Hans griff rasch nach dem Beutel und umschloss ihn fest in der Hand. Ein Wächter wurde aufmerksam.
»Hüte dich, Tochter des Schwälbchens, sie sehen auf uns!«, flüsterte Hans, indem er sich von Neuem schlafend stellte.
Tochter des Schwälbchens hatte sich ausgestreckt und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Ein wildes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Dann erhob sie sich und ging schleppenden Schrittes, ohne sich noch einmal umzusehen, dem Ausgang zu. Niemals sah Hans sie wieder.
Er erzählte Fabricius sein Erlebnis. »Sie will uns wohl das Sterben erleichtern?«
»Warum uns?«, erwiderte Fabricius und seine Augen funkelten. »Warum nicht denen da?« Er wies auf die Wächter.
»Wie soll das geschehen, Joachim?«
»Hebe es gut auf, das Geschenk des Mädchens! Noch hoffe ich auf ein Wunder.«
Die Entkräftung der Gefangenen nahm rasch zu. Der Herr des Donners, der wohl fürchten mochte, dass der Tod sie vorzeitig von ihren Qualen erlösen könnte, ordnete an, dass sie besser verpflegt wurden. Sie bekamen Chicha und Maiskuchen, sogar dann und wann ein wenig Geflügel oder Fisch. Am elendesten war Kressel
dran. Seine Wunde wollte durchaus nicht heilen. Er lag im Fieber und phantasierte fortwährend von seinem heimatlichen hessischen Dorf, von Hohermut, am meisten aber von Suse, seinem geliebten Pferd.
»Suse, he, du elender Bock!«, so hörten ihn die Gefährten schimpfen und dann wieder zärtlich locken: »Komm, Suse, alter braver Gaul!«
Den Beutel mit den kostbaren Blättern verwahrte Hans auf der Brust.
Die Gefangenen wussten nicht mehr, wie lange sie schon im Sua-Tempel gefangen saßen, als man sie eines Morgens aufstehen hieß. Man fesselte sie aneinander und führte sie vor die Pforte des Tempels. Das grelle Sonnenlicht drang so schmerzhaft in ihre jeder Helligkeit entwöhnten Augen, dass sie zu erblinden meinten. Sie glaubten nicht anders, als dass ihr letztes Stündlein gekommen sei.
Ein gewaltiger Aufzug näherte sich dem Tempel. In feierlicher Prozession trugen nackte Sklaven eine riesige fratzenhafte Figur des Sonnengottes. Sie war in dichte Weihrauchwolken gehüllt. Priester, dumpf singend und Kopalharz räuchernd, gingen an ihrer Seite. Dann schwankte hoch über den Köpfen des Volks die feder- und goldgeschmückte Sänfte vorüber, die den Kaziken trug. Es kamen dicht gedrängt die Guecha mit ihren Sperren, Keulen und Schilden. Vor der Masse des Volks, das nun folgte, zerrte man die Gefangenen in den Zug. Sie mussten Schritt halten, obwohl sie vor Erschöpfung fast zusammenbrachen. Es war glühend heiß. Als Kressel, der noch immer fieberte, strauchelte, schlug ihm einer der Henkersknechte den Speerschaft über den Rücken. Schaudernd dachte Hans an ähnliche Szenen, die er auf dem Zug durch die Llanos oft genug erlebt hatte, aber damals war es der weiße Mann, der den Farbigen schlug. Wollte der gerechte Gott den Frevel der spanischen und deutschen Trossknechte an ihm und feinen Freunden rächen?
Der Zug hatte die Stadt verlassen und wandte sich auf breiter, staubiger Straße dem Gebirge zu. Allmählich traten von beiden Seiten Felsen an die Straße heran, die sich steil aufwärts wanden. Immer öder, immer trostloser wurde die Gegend. Dann endlich, nach stundenlangem Marsch, kamen Rufe von vorn, die sich durch den ganzen Zug fortsetzten. Ein Hochtal öffnete sich. Inmitten einer Steinwüste breitete sich ein blauer See aus. Es war der heilige See, die Lagune von Guatavita.
Am Ufer stand das gewaltige Heiligtum des Sonnengottes. Dahin wandte sich der Zug. Zu beiden Seiten der Tempelpforte standen zwei Uralte, nur in Netze gehüllt, wie man sie zum Vogelfangen verwendet, Sinnbilder der Vergänglichkeit alles Irdischen. Der Tempel konnte die Menge der Erschienenen nicht fassen. Die meisten lagerten sich am Seeufer und labten sich an der Chicha, die in großen Gefäßen mitgeschleppt worden waren. Das Wasser des Sees war seines hohen Salzgehaltes wegen ungenießbar.
Die Freunde wurden in den Tempel gestoßen. Ihre Fesseln erlaubten ihnen nicht einmal, sich niederzulegen. Die Stricke aus rauen Agavenfasern, mit denen ihre Hände zusammengebunden waren, schnitten ins Fleisch.
Nun kann ich mir nicht einmal mehr die erlösenden Blätter in den Mund schieben, dachte Hans Hauser.
Der Tempel war voller Menschen, die kamen und gingen. Fortwährend erfüllten das Geplärr und Geheul der Priester und Gläubigen den weiten Raum. Man opferte Mais, Chicha und Hunderte von Wachteln.
Gegen Mittag erschien der Herr des Donners, um den Freunden selbst das Todesurteil zu verkünden. Am nächsten Morgen beim ersten Strahl der Sonne sollten sie Sua geopfert werden. Hans verstand die ganze Entsetzlichkeit der Todesart nicht, die ihm der Oberpriester verkündete, aber einen Augenblick verließen ihn doch die Sinne. Fabricius schleuderte dem Herrn des Donners eine Flut von Schimpfworten in die höhnisch verzogene Fratze.
Am Nachmittag leerte sich plötzlich der Tempel. Lauter Lärm drang von außen herein. Die Freunde kannten den Rhythmus der Pauken, Hörner und Rasseln. Nun würden die Indios wieder tanzen und sich die ganze Nacht an der Chicha berauschen, und am Morgen würden sie die verglasten, vom Trunk geröteten Augen voll Wollust auf das nie gesehene Schauspiel richten: die Abschlachtung der weißen Männer, die sich so furchtbar dünken und so unüberwindlich.
»Satansbrut, dreimal verdammte Heidenhunde!«, stöhnte Fabricius in ohnmächtiger Wut.
Die Freunde waren allmählich mit ihren Wächtern, sechs schwerbewaffneten Guecha, allein in dem weiten Raum. Doch deren Aufmerksamkeit war geteilt. Immer wieder zog es sie an die Pforte des Tempels, dem Tanz zuzusehen. Fast könnte es scheinen, als fühlte der Hauptmann etwas wie eine menschliche Regung. Als den Freunden das letzte Mahl gebracht wurde, löste er nicht nur ihre Fesseln, damit sie essen konnten, sondern er ließ sie auch nach beendigter Mahlzeit nicht wieder binden.
Hansens befreite Hand griff sofort nach dem Beutelchen unter seinem Hemd.
Je weiter die Nacht vorschritt, um so mehr machten sich bei den Wächtern die Folgen des Chichagenusses bemerkbar, dem auch sie lebhaft frönten. Dann und wann erlag einer der Versuchung und beteiligte sich für einige Zeit am Tanz. Die anderen schienen schläfrig oder lallten in betrunkener Fröhlichkeit.
Fabricius und Hans tauschten einen Blick aus. Sie verstanden sich sofort.
»Versuch es!«, sagte Fabricius.
Hans bot dem Hauptmann so unbefangen wie möglich Kokablätter aus dem Beutel an, den ihm Tochter des Schwälbchens gegeben hatte. Der Hauptmann, dem der eigene Vorrat an dem geliebten Reizmittel ausgegangen war, nahm gleichmütig ein paar Blätter und schob sie in den Mund. Nun waren die anderen an der Reihe. Es waren noch vier, da einer der Wächter wieder einmal davongeschlichen war, um zu tanzen. Drei ahmten das Beispiel des Hauptmanns nach, der vierte wandte sich ab. Er wollte nicht.
»Lass ihn!«, flüsterte Fabricius. Seine Stimme war heiser vor wahnsinniger Erregung.
Tochter des Schwälbchens musste sich auf das Giftkochen verstehen oder einen erfahrenen Giftkoch zum Freund haben. Das Gift – es war wohl Curare, das schreckliche Pflanzengift – übte rasch seine Wirkung, aber doch so, dass die ahnungslosen Vergifteten zunächst nicht spürten, wie es um sie stand. Eine schwere Müdigkeit überkam sie, ein unwiderstehliches Verlangen, sich niederzusetzen, dem sie arglos nachgaben.
Hans und Fabricius beobachteten sie unablässig mit den Augen, in denen die Erwartung glühte. In der nächsten Minute musste sich ihr Schicksal entscheiden: Du oder ich? Ihr oder wir? Kreatur kämpft mit Kreatur den erbarmungslosen Kampf ums Dasein, ohne Schonung, ohne Mitleid.
Hans sah, wie die Augen der Vergifteten einen seltsam starren Ausdruck bekamen. Merkten sie immer noch nichts? Sie glaubten wohl, dass ihnen vom übermäßigen Chichagenuss übel sei, und das ängstigte sie nicht. Berauschte, sinnlos Betrunkene, die bleiern schliefen, gab es bei jedem Fest der Chibcha. Der Hauptmann kämpfte sichtlich gegen die immer stärker werdende Erschlaffung seines Körpers an. Er durfte ja nicht schlafen. War er nicht verantwortlich für die Gefangenen? Er stützte sich auf, wollte sich erheben, aber er konnte die Beine nicht mehr bewegen. Die grässliche Gliederstarre war eingetreten, die die Freunde von dem jämmerlichen Ende des Piedrahita, des Begleiters Velascos, her kannten. Eine Veränderung ging in dem Gesicht des Hauptmanns vor, Entsetzen malte sich auf seinen Zügen. Er brüllte wie ein Tier auf. In plötzlicher Todesangst versuchten nun auch die drei anderen Vergifteten sich zu erheben. Es gelang ihnen nicht. Nur einer vermochte sich ächzend aufzurichten, sank aber sofort wieder in die Knie. Der Einzige, der die furchtbaren Blätter zurückgewiesen hat, sprang auf. Schreiend stürzte er dem Ausgang des Tempels zu, aber Zischende Viper sprang ihn von hinten an und riss ihn zu Boden. Welcher Instinkt trieb den Xidehara, der von den vergifteten Kokablättern ebenso wenig wusste wie Kressel, welcher wilde, unverstellte Naturtrieb? Woher nahm dieser zum Skelett abgemagerte Sohn der Wälder und der Wildnis die Kraft, seinen Todfeind zu Boden zu werfen und mit bloßen Händen zu erdrosseln?
Es war keine Zeit zu verlieren. Jeden Augenblick konnte das Geschrei der Todgeweihten draußen vor dem Tempel gehört werden, so gewaltig auch der Lärm war, den die Tanzenden und die Musikanten vollführten. Hans ergriff einen Speer, Fabricius eine Keule, die sie den bewaffneten Mumien entrissen, die auch hier die Tempelwände schmückten. Als Hans dem Hauptmann den Speer in die Brust stieß, traf ihn ein abgrundtiefer Blick aus den Augen des Wilden. Der Gedanke durchzuckte ihn und drang ihm wie ein Stahl ins Herz, dass er diesem armen Schelm, der da unter seinen Händen so kläglich endete, im Grunde sein Leben verdankte. Starb er nicht um der mitleidigen Regung willen, die ihn – Hans Hauser, das Schlachtopfer – mit der Fessel verschonte? Noch viele Jahre später als alter Mann fuhr Hans manchmal mitten in der Nacht stöhnend aus dem Schlaf auf und starrte in die Dunkelheit. Ihm war, als hätten ihn die Augen des erstochenen Chibcha angeblickt. Dann schlugen seine Hände zitternd das Kreuz und seine bebenden Lippen flüsterten: »Herr, erbarme dich! Christi, erbarme dich!«
Die Freunde schufen ganze Arbeit. In wenigen Augenblicken lagen die Feinde mit zerschmetterten Schädeln oder durchbohrter Brust am Boden. Sie warfen sich die Baumwolltücher der Erschlagenen um die Schultern, aber nur der Xidehara glich einem Guecha. Die Deutschen – es waren ihnen in der langen Gefangenschaft verwilderte Bärte gewachsen – konnten höchstens darauf vertrauen, dass man sie in ihrer Verkleidung in der Dunkelheit nicht erkennen würde. Sie eilten zur Pforte des Tempels. Dabei schleuderte Fabricius mit dem Fuß eine Räucherschale zur Seite, in der noch ein wenig Holzasche glühte.
Ein Blick überzeugte die Freunde, dass alles Volk am Strand in wilder Raserei dem Tanz huldigte. Mächtige brennende Holzstöße verbreiteten eine starke Helligkeit. Vor dem Tempel aber, der hoch auf einem Felsen über dem See stand, herrschte um so größere Dunkelheit. Niemand war zu sehen. An der Längswand des Tempels entlang schleichend, wandten sich die Freunde dem Gebirge zu. Es war völlig finster. Kein Mond stand am Himmel. Chia, die Mondgöttin, weilte in der Unterwelt. Plötzlich kamt ihnen mit lauter Fröhlichkeit eine Schar von Männern und Frauen entgegen, die dem Strand zustrebte. Es war zu spät, um auszuweichen. Die Freunde fassten die Waffen fester, aber die Chibcha riefen ihnen nur ein paar Worte zu und gingen vorüber. Man hatte sie nicht erkannt.
Hans atmete die kühle Nachtluft. Ein köstliches Wohlgefühl durchströmte ihn. Frei? Sollte es denkbar sein, dass sie wirklich frei waren? In äußerster Eile, mit Aufbietung aller ihrer Kräfte, kletterten die Flüchtlinge aufwärts in die steinige Einöde. Eine großartige Felsenwildnis nahm sie auf. Von Fels zu Fels klommen sie empor, aber nur langsam vergrößerte sich die Entfernung zwischen ihnen und den Feuern am Strand. Sie kamen nicht so rasch vorwärts, wie sie es wollten, denn sie mussten auf den geschwächten Kressel Rücksicht nehmen. Fabricius – selbstverständlich hatte er wieder die Führung – ließ ein wenig rasten, als ein Felsvorsprung erreicht worden war. Noch immer lag das Tanzfeld im Licht der flackernden Holzstöße zu ihren Füßen. Der Tanz war in vollem Gang. Nichts deutete darauf hin, dass das Entweichen der Gefangenen bemerkt worden war.
Die Freunde sahen, wie ein Floß am Ufer anlegte. Hans deutete darauf hin. »Was soll das?«
Irgendetwas, das keine bloße Neugier war, eine Ahnung, ein unabweisbares Gefühl, dass sie Zeugen von etwas Ungeheurem, Unerhörtem, nie Gesehenem werden sollten, hemmte den Freunden den Fuß. Für einen Augenblick vergaßen sie alle Vorsicht, die sie zur höchsten Eile anspornen müsste. Gebannt blickten sie auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte.
Der Tanz brach plötzlich ab, alles Volk drängte sich am Seeufer. Während von Neuem der Lärm der Hörner und Pauken einsetzte, fielen alle auf die Knie, das Gesicht vom See abwendend. Auf dem von flammenden Holzstößen hell beleuchteten Floß standen Priester. Ein Mann – sein Gesicht konnten die Freunde nicht erkennen, es war aber wohl Windhose – wurde von ihnen völlig entkleidet. Hans Hauser glaubte den Herrn des Donners unter den Chiqui zu sehen. Die Hände der Priester strichen über den nackten Körper unter eintönigem, feierlichem Gesang, der in der völlig windstillen Nacht bis hinauf in die Berge drang. Hoch aufgerichtet bot sich Windhose der Salbung. Dann hob ein Priester ein Gefäß über sein Haupt. Doch kein Wasser floss aus ihm, ein metallischer Strom ergoss sich, es gleißte, es glänzte, es flimmerte. Goldkörner und Goldstaub rieselten über den Körper des nackten Mannes. Auf der gesalbten Haut haftete das Metall. Immer neue goldene Ströme rieselten hernieder. Die Schultern des Nackten schimmerten golden, der Rücken, der Leib, die Schenkel. Im hoch aufflammenden Feuer der Holzstöße glänzte der Körper des Gesalbten wie eine Statue aus purem Gold. Hans packte Fabricius am Arm. Seine Stimme ist heiser: »Der Goldene, el dorado, der goldene Mann!«
Starr waren Fabricius’ Augen auf das Bild des Vergoldeten gerichtet: »El dorado!«, murmelt auch er. »Wir sind am Ziel …«
Das also war das Trugbild, das die weißen Männer immer wieder in die Wildnis lockte. Wie viele waren schon eines elenden Todes um seinetwillen in den undurchdringlichen Urwäldern, in der sonnenglühenden Savanne, auf den eisigen Höhen des Paramo gestorben! Wie viele würden noch auf der Jagd nach dem Goldenen ihr Leben lassen? Er würde nicht aufhören zu locken. Unwiderstehlich, mit dämonischer Gewalt zog der vergoldete Indianer die Bleichgesichtigen in seinen Bann. Wollte er sein Volk an seinen blut- und goldgierigen Überwindern rächen? Er würde sie alle ins Verderben reißen, die gierig nach ihm greifen. Ja, wenn nach Jahrhunderten das Bild des Goldenen für immer in den Fluten versunken sein wird, dann werden weiße Menschen kommen, um mit dem Rüstzeug der Technik den Schlamm des heiligen Sees der Chibcha nach dem Schmuck des Goldenen zu durchwühlen. Es wird ihnen keinen Segen bringen. Der Fluch des Goldenen trifft auch sie …
Das Floß stieß vom Ufer ab. Taufende erhoben betend die Hände. Ihr wilder Gesang hallte von den kahlen Felsen wider, aber keiner wagte sich umzuschauen. Nur der Fürst durfte sehen und die Priester, wie Priesterhände den Goldenen fassten und mehrere Male in die Flut tauchten.
Das Wasser spülte das Gold von seinem Körper. Der heilige See nahm die kostbare Gabe und zog sie in seinen Schoß. Der Gesalbte aber entstieg der Flut als der geheiligte, unverletzbare Fürst der Chibcha und Erbe des Throns.
Das Floß mit dem Geweihten, der wieder in seine Gewänder gehüllt war, kehrte zum Ufer zurück. Plötzlich drang ein furchtbarer Entsetzensschrei aus tausend Kehlen zum Himmel. Helligkeit verbreitete sich, die viel stärker war als die der zahlreichen Holzstöße. Aus dem Tempel Suas leckte eine riesige Flamme. Kaum hatte das Feuer, das schon lange in dem von allem Lebendigen verlassenen Tempel schwelte, Luft bekommen, so stand das ganze riesige Holzgebäude in hellen Flammen. Der Nachthimmel färbte sich blutrot. Es war ein Schauspiel von grausiger Schönheit. Den drei Deutschen verschlug es den Atem. Sie standen, die Augen auf die Feuersbrunst gerichtet, unbeweglich, als bände sie ein übermächtiger Zauber. Der Xidehara hatte mit einer wilden und großartigen Gebärde den Arm erhoben.
Fabricius kam als Erster wieder zur Besinnung. »Fort, fort, wenn euch euer Leben lieb ist!«
Die Freunde hasteten tiefer ins Gebirge. Allmählich verstummte das Geschrei der entsetzten Chibcha hinter ihnen, aber der ganze Himmel im Westen war vom Widerschein des Brandes gerötet.
Nach sechsstündigem Marsch drang der erste Strahl der Morgensonne in eine Felsenhöhle, wo die Flüchtigen völlig erschöpft eine erste Zuflucht gefunden hatten. Der erste Strahl, unter dem sie nach dem Wissen des Herrn des Donners ihr Leben hätten lassen sollen.
Die Flüchtlinge blieben den Tag und die nächste Nacht über in der Höhle. Abwechselnd hielten sie Wache. Die anderen schliefen tief und fest. Das beruhigende Gefühl, frei zu sein, war so stark, dass ihnen gar nicht zum Bewusstsein kam, wie ungeheuer gefährlich ihre Lage noch immer war.
Dann meldete sich wütender Hunger, aber sie fanden nichts, um ihn zu stillen. Die Gefahr, elend Hungers zu sterben, nachdem sie kaum dem Tod unter den Händen der mörderischen Chibcha entronnen waren, erhob sich drohend vor ihnen. Mit ernsten Gesichtern saßen sie zusammen und hielten Rat. Sie hatten Waffen – Fabricius und Zischende Viper Keulen, Hans und Kressel Speere, die sie im Tempel erbeutet hatten. Und mit den Baumwolltüchern, die sie den Guecha abgenommen hatten, und den kläglichen Resten ihrer europäischen Kleidung konnten sie sich leidlich gegen die Unbilden der Witterung schützen. Das war aber auch alles. Was hätten sie jetzt nicht gegeben für ein Säckchen Maismehl, für ein paar Kaktusfeigen!
Sicher würden die Chibcha sie verfolgen. Die Flüchtlinge kannten ihr Signalwesen. Wer konnte wissen, ob nicht durch die Trommeln die Nachricht von ihrer Flucht schon überall im Land verbreitet war? Oder wäre es möglich, dass die Chibcha meinten, sie seien beim Brand des Tempels umgekommen und ihre verkohlten Leichen lägen unter seinen Trümmern?
Wohin sollten sie sich wenden? Den Gedanken, die Kordilleren nochmals zu überschreiten – dieses Mal von Westen nach Osten – und auf dem Weg, den Hohermut südwärts gezogen war, durch die Llanos heimzukehren nach Coro, verwarfen sie alsbald wieder. Es war kaum zu hoffen, dass ihnen in ihrem erschöpften Zustand noch einmal die Überquerung des Paramo gelingen würde. Und selbst wenn sie die Llanos erreichten, wie sollten sie den endlosen Marsch durch die sonnenglühende Ebene mitten durch das Gebiet feindlicher Indianerstämme überstehen?
So blieb nur die Möglichkeit, sich nach Westen zu wenden. Oft hatte »Weiße Termite« von dem großen Fluss gesprochen, der gegen Sonnenuntergang das Land durchströme. Es konnte nur der Magdalenenstrom sein, den einst Ambrosius Ehinger erreicht und viele Tagemärsche weit aufwärts gefolgt war. Gelang es den Flüchtlingen, den Fluss zu erreichen, so war es ihnen vielleicht möglich, auf einem Floß den Strom hinabzufahren und so ans Meer zu kommen. Freilich, der Weg dorthin führte mitten durch das Chibchaland, aber das dichtbesiedelte Land bot Gelegenheit, Lebensmittel zu erlangen, sei es auch gewaltsam, und jener Fluss, der Magdalenenstrom, musste nach den Erzählungen der Altgedienten fruchtbare Gefilde durchströmen.
Endlich erinnerten sich die Freunde, dass Weiße Termite von weißen Männern
gesprochen hatte, die Chibchakaufleute im Tal des großen Stroms gesehen hatten. Vielleicht war das nur eine Erinnerung an Ehingers Zug. Es war aber auch möglich, dass eine neue spanische Expedition aus dem Nachbarland von Venezuela, der Provinz Santa Marta, stromaufwärts auf dem Weg war. So entschlossen sich die Flüchtlinge für den Weg nach Westen.
Zunächst galt es aber noch viele Stunden, von Hunger und Durst geplagt, in der Einöde auszuhalten. Erst nach Einbruch der Dunkelheit wagten sie, ihr Versteck zu verlassen. Sie stiegen, einen Haken schlagend, wieder in die Savanne hinab, die sie nördlich der Stadt Guatavita und der Lagune erreichten. Rüstig schritten sie der Bergkette zu, die die Hochebene im Westen begrenzte. Oft genug hatten sie aus dem Palastgarten von Guatavita sehnsüchtig zu den blauen Bergen hinübergeblickt, hinter denen die Freiheit lag. Nun waren sie endlich auf dem Weg, zwar immer noch gehetzt und verfolgt, aber kein Guecha ging ihnen zur Seite, der jede ihrer Gebärden misstrauisch beobachtete. Trotz Hunger und Müdigkeit beflügelte das Gefühl, der Freiheit zuzustreben, ihre Schritte.
Sie stießen zu ihrer großen Freude auf einen Busch, in dem sie Melonenkakteen fanden. So war fürs Erste der schlimmste Hunger und Durst gestillt. Einem Rudel Spießhirsche, das sie aufscheuchten, konnten sie freilich nur sehnsüchtig nachschauen.
Als der Tag anbrach, rasteten sie schon am Fuß des westlichen Randgebirges unter einer immergrünen Eiche. Ein dichtes, dorniges Gestrüpp sicherte sie vor unliebsamer Überraschung.
Der Tag verging ohne besondere Ereignisse, nur dass nicht weit von ihrem Versteck eine Schar Chibchafrauen mit eintönigem, melancholischem Gesang zur Feldarbeit zog. Hans Hauser kannte das Liedchen. Auch Tochter des Schwälbchens hatte es manchmal gesungen. Es trieb ihm die Tränen in die Augen, als er es wieder hörte.
surubu loma Ich bestieg einen Hügel
nevin ra und setzte mich.
canan cruz Ich traf auf ein Kreuz
nigua gra und weinte mich aus.
Die Frauen verschwanden, ohne etwas von den Flüchtlingen bemerkt zu haben, in dem überreich blühenden Fingerhut, der die Hochebene wie ein rotes Band umsäumte.